3. Mai 2013 - Hamburger Kirchentag

3. Mai 2013 - Bibelarbeit zu Dtn 15,1-11 - „Erlassjahr – wie es gehen kann“

03. Mai 2013 von Andreas von Maltzahn

Dtn 15,1-11

Liebe Schwestern und Brüder!

 

„Wollt ihr Deutschen wirklich, dass alle in Europa werden wie ihr? Wollt ihr wirklich, dass wir alle so leben und arbeiten, wie ihr es tut?“. Er war nicht erbost, der alte Grieche, der während der jüngsten Schuldenkrise interviewt wurde. Er fragte mit großem Ernst. Es ist schon ein eigentümliches Phänomen: Deutschland will seinen verschuldeten europäischen Nachbarn gegenüber solidarisch sein, bürgt entscheidend mit für eine ganze Sammlung von Rettungsschirmen – und zieht trotzdem den Unmut, den Zorn der ‚Geretteten‘ auf sich! Undank ist aller Welt Lohn? Eine Trotzreaktion von Menschen, die ihren Lebensstil nicht ändern wollen und deshalb einen Sündenbock brauchen? Oder ist tatsächlich etwas falsch daran, wie wir uns in der Schuldenfrage verhalten?

 

Offenkundig ist: Wie wir mit Schulden umgehen, ist nicht nur eine wirtschaftliche Frage. Es berührt auch die zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Schrift geht sogar noch weiter und sagt: Wie wir mit Schulden umgehen – persönlich wie gesellschaftlich – betrifft unsere Beziehung zu Gott! Hören wir auf den Bibeltext des heutigen Morgens (Dtn 15,1-11) ), im Liederbuch auf Seite 144:

1 „Alle sieben Jahre sollt ihr einen Schuldenerlass durchführen.

2 Mit dem Schuldenerlass verhält es sich so: Alle, die einen Schuldschein in der Hand haben, sollen erlassen, was sie ihren Nächsten geliehen haben. Sie sollen es von ihren Nächsten, Bruder oder Schwester, nicht zurück fordern; es ist ja ein Schuldenerlass für die LEBENDIGE ausgerufen.

3 Von Fremden darfst du es zurück fordern. Was du deinem Bruder oder deiner Schwester geliehen hast, soll deine Hand loslassen.

4 Dass es nur ja keine Armen bei dir gibt! Die LEBENDIGE wird dich nämlich reichlich segnen in dem Land, das die LEBENDIGE, dein Gott, dir als Erbteil und Besitz gibt,

5 wenn du auf die Stimme der LEBENDIGEN, deines Gottes, hörst, auf dieses ganze Gebot achtest, das ich dir heute gebe, und es befolgst.

6 Ja, die LEBENDIGE, Gott für dich, hat dich gesegnet, wie sie dir versprochen hat. So wirst du vielen Menschen aus den Völkern Darlehen geben, du selbst wirst aber keines nehmen müssen. So wirst du viele Menschen aus den Völkern verpflichten, aber sie werden dich nicht verpflichten können.

7 Wenn es aber doch Arme bei dir gibt, Bruder oder Schwester, in einer deiner Städte, in deinem Land, das die LEBENDIGE, dein Gott, dir gibt, dann sollst du dein Herz nicht verhärten und deine Hand vor dem armen Bruder und der armen Schwester nicht verschließen.

8 Vielmehr sollst du ihnen deine Hand weit öffnen und leihen, so viel sie brauchen.

9 Hüte dich davor, dass in deinem Herzen der unwürdige Gedanke entsteht: ‚Das siebte Jahr, das Jahr des Schuldenerlasses, ist nahe‘ und dein Auge berechnend auf deinen armen Bruder oder deine arme Schwester blickt und du ihnen nichts gibst. Sonst werden sie die LEBENDIGE gegen dich anrufen, und dann liegt die Schuld bei dir!

10 Du sollst ihnen reichlich geben und dein Herz sei nicht berechnend, wenn du ihnen gibst: Das ist der Grund dafür, dass die LEBENDIGE, dein Gott, dich segnen wird in allem, was du unternimmst und was deine Hand anfasst.

11 Die Armen werden nicht einfach aus der Mitte des Landes verschwinden. Deshalb fordere ich von dir: Öffne ihnen deine Hand weit – deinem Bruder, deiner Schwester, den Elenden und Armen bei dir, in deinem Land.“

 

Schwestern und Brüder, Schuldenerlass ist nicht nur eine wirtschaftliche oder soziale Frage. Im Sinne Gottes, ja, zur Ehre Gottes soll dieser Schuldenerlass geschehen (vgl. V2c). Segen oder Fluch für uns selbst hängen an unserem Verhalten: „Denn der Herr wird dich reichlich segnen, . . . wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst und dieses ganze Gebot, das ich dir heute gebe, hältst und danach handelst“ (V4b.5). Wenn jedoch „dein Auge berechnend auf deinen armen Bruder oder deine arme Schwester blickt und du ihnen nichts gibst, . . . dann liegt die Schuld bei dir!“ (V.9) So klar ist das. Warum ist es dann nicht auch ganz einfach, das zu leben? Doch versuchen wir zunächst den Text in seiner Zeit besser zu verstehen!

 

 

Das Erlassjahr in seiner Zeit

 

Das Erlassjahr wurzelt in der Sabbattheologie der hebräischen Bibel und entwickelt sie weiter. In der älteren Exegese, so z.B. bei Gerhard von Rad, wird das Erlassjahr geradewegs noch „Sabbatjahr“ genannt: „Unter dem Erlass (schemitta), eigentlich ‚Loslassung‘, verstand das alte Israel die Veranstaltung der agrarischen Brache, die jeweils am Ende eines Turnus von 6 Jahren fällig war (Ex 23,10f.) (GERHARD VON RAD, Das 5. Buch Mose, Deuteronomium, Kommentar ATD 8, Göttingen 1983, 75). In diesem „Sabbat für das Land“ (ROLF RENDTORFF, Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf, Band 2: Thematische Entfaltung, Neukirchen-Vluyn 2001, 49) kommen sakrale, landwirtschaftliche und soziale Gesichtspunkte zusammen: Das Brachjahr wurde als Ruhezeit für Jahwe, den Schöpfer und Eigentümer des Bodens, interpretiert (vgl. Lev 25,3+23). Es diente natürlich auch der Erholung des Bodens. Zugleich stand im siebenten Jahr das ohne Aussaat wachsende Getreide den Bedürftigen zur Verfügung.

 

Das Ziel, die ursprünglichen Verhältnisse wiederherzustellen, drückt sich noch stärker im „Jobeljahr“ aus, ‚alles noch einmal auf Null’: „Und ihr sollt das fünfzigste Jahr für heilig erklären und eine Freilassung ausrufen im Land für alle seine Bewohner. Es soll für euch ein Jobeljahr sein, und jeder von euch soll wieder zu seinem Besitz kommen, und zurückkehren zu seiner Sippe.“ (Lev 25,10) Schuldknechtschaft soll also begrenzt sein. Auch der schuldenbedingte Verlust von Grund und Boden soll nicht für immer wirksam sein. Denn die wahren ‚Eigentumsverhältnisse‘ sind ganz andere – das Land und seine Bewohnerinnen und Bewohner gehören niemandem außer Gott: „Denn mir gegenüber sind die Nachkommen Israels in einem Verhältnis der Leibeigenschaft. Meine Sklavinnen und Sklaven sind sie, die ich aus Ägypten herausgeführt habe. Ich, Adonaj, Gott-für-Euch.“ (Lev 25,55)

 

Das Erlassjahr, wie es in unserm Text geboten wird, betont unter gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen noch entschiedener den sozialen Aspekt. Es zielt darauf, so Christl Maier, „das Abgleiten von Kleinbauern in völlige Armut und damit in Abhängigkeit von anderen zu verhindern. Es wurde notwendig, weil die Kriegszüge der Assyrer . . . zu massiven Verlusten an Landbesitz und Nachkommen und um 700 sogar zu Massendeportationen und zur Zerstörung zahlreicher Städte führten (vgl. 2 Kön18,13; Jes 1,7-8). Zwar ließen die Könige Manasse und Josia im siebten Jahrhundert die judäischen Landstädte wieder aufbauen, aber die Verbindung der Mehrheit der Bauern zu ihren von den Vätern ererbten Ländereien war unterbrochen. Das Königreich Juda hatte sich zu einer antiken Klassengesellschaft entwickelt: Großgrundbesitzer und königliche Beamte wurden immer reicher, während die Masse der Kleinbauern und Handwerker in eine kaum umkehrbare Überschuldung geriet ( CHRISTL M. MAIER, Erlassjahr – wie es gehen kann, in: Exegetische Skizzen, 35ff.). Konkret sah das so aus: Wenn sich eine Bauernfamilie wegen Krankheit, schlechter Ernte oder Krieg Lebensmittel oder Saatgut leihen wollte, muss sie ein Pfand stellen. Das Geliehene war mit Zinsen zu erwirtschaften. Konnte das Darlehen jedoch nicht zurückgezahlt werden, fiel das Pfand, Teile des Ackerlandes oder sogar ein Familienmitglied, an den Gläubiger. Kinder gerieten auf diese Weise in Schuldknechtschaft. Weil ihre Arbeitskraft zu Hause ausfiel, drehte sich die Spirale der Überschuldung weiter und weiter (vgl. Neh 5,1-5).

 

Der Verzicht auf Zinsen für existenzsichernde Kredite (Dtn 23,20), die Begrenzung der Schuldknechtschaft auf sechs Jahre (Dtn 15,12) und der Schuldenerlass alle sieben Jahre (Dtn 15,1) sollten Kleinbauern aus der Not sozialen Abstiegs befreien (Vgl. A.a.O., 36).

 

Das Erlassgebot war also die theologische Antwort auf konkrete Probleme gesellschaftlichen Lebens. Aber sein Recht und seine Geltung fallen nicht dahin, wenn der soziale Kontext sich ändert. Im Gegenteil: Es ist mit seiner Intention für unsere Zeit neu zur Geltung zu bringen.

 

Das Erlassjahr – eine schlechte Utopie?

 

Historisch ist es umstritten, ob das Erlassjahr jemals in gebotener Weise praktiziert worden ist. Im Buch Nehemia wird von einem Schuldenerlass erzählt (vgl. Neh 5 und 10,32). Auch belegen anscheinend Schuldurkunden, „dass das Erlassjahr in römischer Zeit durchgeführt wurde“ (CHRISTL M. MAIER, Eine geschwisterliche Gesellschaft – das Erlassjahrgesetz, in: Der Kirchentag – Das Magazin, Ausgabe 01/2013, 21). Aber die historische Frage ist nur bedingt von Bedeutung. Manches gibt es nicht ‚in echt’ – und es ist dennoch ‚im Recht’.

 

Die heutige Schuldenkrise mit all ihren Rettungspaketen und Troika-Auflagen erinnert mich an ein Wort aus dem Buch der Sprüche: „Reiche Menschen herrschen über Arme; wer etwas ausleiht, muss denen dienen, die verleihen.“ (Spr 22,7) Der Schuldendienst in Schieflage geratener EU-Staaten höhlt die Sozialsysteme aus, lässt Investitionen drastisch zurückgehen und die Arbeitslosigkeit explodieren. Viele junge, gut ausgebildete Portugiesen, Spanier, Griechen verlassen ihre Heimat und werden als Fachkräfte woanders gern genommen – z. B. in Deutschland. Sie werden ihren Ländern fehlen. „Wer etwas ausleiht, muss denen dienen, die verleihen.“ Die biblische Weisheit hat Recht.

 

Und auch der 6.Vers unseres Textes nimmt sich aus, als wäre er uns Deutschen heute direkt auf den Leib geschrieben: „So wirst du vielen Menschen aus den Völkern Darlehen geben, du selbst wirst aber keines nehmen müssen. So wirst du viele Menschen aus den Völkern verpflichten, aber sie werden dich nicht verpflichten können.“ (Dtn 15,6)

 

Vor einem Jahr hat die Bundesbank mitgeteilt, dass sie die Ausgabe ihrer Bundesschatzbriefe einstellt: Sie hat unter den gegenwärtigen Bedingungen kein Interesse am Geld von Privatkunden. So gut scheint es ihr zu gehen. Oder liegt es daran, dass sich die Geldmenge deutlich vermehrt? Wie soll das Anwerfen der Notenpressen eigentlich irgendwann einmal aufgefangen werden? Man kann das Problem lösen nach der Maxime des französischen Finanzministers Abbé Terray, der im 18. Jahrhundert meinte: "Ein Bankrott ist alle 100 Jahre einmal für einen Staat eine Notwendigkeit, um die Bilanz wiederherzustellen."( Zit. nach ALFRED MANES, Staatsbankrotte. Wirtschaftliche und rechtliche Betrachtungen, Berlin 1922, 31). Wenn ich bei mir in Mecklenburg erlebe, wie die Preise für Grund und Boden in den letzten Jahren gestiegen sind, rechnen vermögende Menschen offenbar mit einer solchen Möglichkeit und kaufen Ländereien und Wälder, um ihr Geld in Sicherheit zu bringen.

 

Ein Bankrott von Staaten – da will ich denn doch lieber über das Gute eines Erlassjahrs nachdenken! Das ist nicht nur deutlich sympathischer, sondern es trägt Verheißung in sich. Lassen Sie uns sehen!

 

Zweierlei Maß für das eigene Volk und die Völker?

 

In schönster Eindeutigkeit ist geboten: „Alle sieben Jahre sollt ihr einen Schuldenerlass durchführen.“(V.1) Es gibt Licht am Ende des Tunnels für überschuldete Menschen. Übrigens nicht allein in der Bibel, sondern auch bei uns, im deutschen Insolvenzrecht. Seit dem 1.Januar 1999 gilt für Privatinsolvenzen: Wer sich sechs Jahre lang nach Kräften müht, seine Schulden abzutragen, dem wird die verbleibende Restschuld im siebten Jahr erlassen. Aus der Seelsorge weiß ich, wie unerhört wichtig diese Aussicht für die Betroffenen und ihre Familien ist. Und weil es viele Betroffene gibt, müssen die Schuldnerberatungsstellen erhalten und gestärkt werden. Kommunen, aber auch wir Kirchen sind da in der Pflicht!

 

Doch nach der schönen Eindeutigkeit beginnen die Unterscheidungen: „Von Fremden darfst du es (das Verliehene) zurück fordern. Was du deinem Bruder oder deiner Schwester geliehen hast, soll deine Hand loslassen.“ (V.3) Das irritiert: Schuldenerlass nur für die Angehörigen des eigenen Volkes? Zweierlei Moral für die eigenen Leute und für die, die von außen kommen?

 

Wirkungsgeschichtlich war diese Unterscheidung verhängnisvoll. Im Mittelalter war es Christen verboten, Zinsen zu nehmen. In diese Rolle drängte man die Juden, indem man ihnen die Ausübung vieler Berufe versagte und ihnen die ethisch anrüchige Rolle des Geldverleihs aufnötigte. Sie durften ja von ‚Fremden‘ Zinsen nehmen. Das antisemitische Zerrbild des geldgierigen Juden hat hier eine Wurzel.

 

Doch schauen wir noch einmal auf die Situation, in der das Gesetz des Erlassjahrs entstanden war: Das Erlassgebot zielte auf Notkredite, die Nachbarn und Verwandten helfen sollten zu überleben. Das Erlassgebot galt nicht für gewinnorientierte Handelskredite. Diese waren in Juda zumeist Sache von Ausländern (Vgl. CHRISTL M. MAIER, Erlassjahr – wie es gehen kann, 35). „Von Fremden darfst du das Verliehene zurückfordern.“ Das könnte also eher auf eine andere Art von Darlehen als auf ethnische Zugehörigkeiten zielen.

 

Und doch: Fragen bleiben – stellt Gott doch sonst die Fremden ausdrücklich unter seinen besonderen Schutz und gebietet sogar, den Fremden zu lieben: „Ja, Adonaj, eure Gottheit, sie ist die Gottheit aller Gottheiten . . . Vor ihr gilt kein Ansehen der Person, bestechen lässt sie sich nicht. Sie lässt Waisen und Witwen Recht widerfahren. Sie liebt die Fremden und gibt ihnen Brot und Kleidung. Ihr sollt die Fremden lieben, denn auch ihr seid in Ägypten Fremde gewesen.“ (Dtn 10,17-19)

 

„Brot und Kleidung“, was man zum Leben braucht, das soll jede und jeder haben – egal ob einheimisch oder zugewandert. Das biblische Gesamtzeugnis geht in diese Richtung: Der Maßstab für einen Schuldenerlass liegt nicht in der Zugehörigkeit zum eigenen Volk, sondern in dem, was das Leben ermöglicht.

 

Zweierlei Maß je nach Ursache von Verschuldung?

 

Ich erinnere mich an eine Diskussion, in die ich als junger Pastor auf dem Lande verwickelt war. Für die diakonische Straßensammlung hatte jemand vorgeschlagen, wir sollten für die Alkoholiker-Arbeit in unserer Region sammeln. Dagegen erhob sich unerwarteter Widerstand: „Damit können wir doch nicht in die Häuser gehen! Die sind doch selbst schuld. Dafür geben uns die Leute nichts.“ Dass da Leute in Not waren, krank und auf Hilfe angewiesen, wurde relativiert, denn es war ja, wie man meinte, selbst verschuldete Not.

 

Umso wichtiger daher, dass unser Text gar nicht erst danach fragt, ob und welche Schuld-Anteile Menschen an ihrer Not haben. Entscheidend ist allein die Bedürftigkeit. Darum „sollst du ihnen deine Hand weit öffnen und leihen, so viel sie brauchen.“ (V.8)

 

Und dennoch ist die Frage des Verschuldens in biblischer Sicht nicht gegenstandslos; sie stellt sich nur anders! Sie ist eine Frage an uns selbst – und zwar in doppeltem Sinn:

-         Welche Schuld laden wir auf uns, wenn wiruns verschulden – und das ohne Not? Dass wir gesellschaftlich über unsere Verhältnisse leben, Wohlstand auf Pump finanzieren, ist eine Bürde für kommende Generationen, eine Schuld, der wir uns stellen müssen.

-         Welche Schuld laden wir auf uns, wenn wir anderen Schulden aufbürden – indem wir nicht einfach geben, sondern leihen und dabei zur Rückzahlung auch noch Verzinsung erwarten? Dass die Rückzahlung ausbleiben könnte, soll doch nach biblischer Weisung unser Verhalten dem Notleidenden gegenüber gerade nicht bestimmen: „Hüte dich davor, dass in deinem Herzen der unwürdige Gedanke entsteht: ‚Das siebte Jahr, das Jahr des Schuldenerlasses, ist nahe‘ und dein Auge berechnend auf deinen armen Bruder oder deine arme Schwester blickt und du ihnen nichts gibst. Sonst werden sie Gott gegen dich anrufen, und dann liegt die Schuld bei dir!“ (V.9)

 

Zugegeben: Meinem unmittelbaren Empfinden entspricht das nicht! Fragen der Eigenverantwortung anderer sind mir nicht einfach egal. Mir ist auch nicht gleichgültig, ob meine Hilfe ‚ankommt‘ oder zweckentfremdet eingesetzt wird.

Und dennoch, ich kann mich der schlichten Klarheit der biblischen Weisung nicht entziehen, die sich aller Kasuistik verweigert und kein Türchen offen lässt, ihrem Anspruch zu entkommen: Nur auf jemandes Bedürftigkeit, nicht auf sein Verschulden kommt es an! Ich will mir das nachgehen lassen.

 

„Dass es nur ja keine Armen bei dir gibt!“

 

Die Verse 4-6 entwerfen die Vision einer geschwisterlichen, solidarischen Gesellschaft, in der es keine Armen gibt. „Dass es nur ja keine Armen bei dir gibt!“, Stadtverwaltungen, pervertieren diese Mahnung zu empörender Kosmetik, wenn sie ihre Innenstädte frei halten wollen von Wohnsitzlosen und Bettlern. Demgegenüber ist aufschlussreich, wie unser Bibeltext argumentiert. Schon in alter Rechtstradition Israels geht es nicht um die Beseitigung der Armen, sondern um konkrete Anteilnahme: „Nimmst du den Mantel deines Nächsten zum Pfand, sollst du ihm diesen vor Sonnenuntergang zurückgeben. Denn er ist seine einzige Decke, die Hülle für seine nackte Haut. Worin sonst soll er sich schlafen legen? Wenn er zu mir schreit, werde ich es hören; denn ich bin gnädig.“ (Ex 22,25f)

 

Unser Text steht in dieser Tradition, aber weitet den Horizont: Zur Bedürftigkeit der Notleidenden tritt die Verlockung des Segens, der denen verheißen ist, die freigiebig leben: „Gott wird dich nämlich reichlich segnen in dem Land, das dir der Herr, dein Gott, zum Erbbesitz gibt, wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst, auf dieses ganze Gebot achtest, das ich dir heute gebe, es hältst und danach handelst.“ (Dtn 4b-5) Ein großartiges Grundvertrauen dürfen wir haben: Wer freigiebig lebt, hat Gott auf seiner Seite! Ihm und ihr wird nichts mangeln. Auch Sie werden schon erlebt haben, wie beglückend das ist! Zu geben, dass die eine Hand nicht weiß, was die andere tut – und zu erfahren: Ich komme nicht zu kurz! Ich werde selber beschenkt! Es ist eine Sache zwischen mir und Gott, wie ich mich Armen gegenüber verhalte. Mit Jacques Gaillot, dem französischen Bischof, sage ich darum: „Wer bei den Armen eintaucht, der taucht bei Gott wieder auf.“ (Zitiert nach: PUBLIK-FORUM DOSSIER „Wer den Menschen demütigt, spukt in das Antlitz Gottes“, 1998, 4)

 

Manche Legende des Mittelalters hat sich dieses Wissen bewahrt. So wird von Elisabeth von Thüringen erzählt: Weil die Liebe zu Gott Elisabeth zu den Ärmsten der Armen führt, nimmt sie eines Tages wieder einen Aussätzigen auf. Sie wäscht und pflegt ihn und legt ihn in ihr Ehebett. Als dies ihrem Gatten, dem Landgrafen Ludwig, gemeldet wird, eilt der herzu, um sich von dieser Ungeheuerlichkeit zu überzeugen. Als er aber die Decke zurückschlägt, erblickt er nicht den Aussätzigen, sondern den gekreuzigten Christus. Im Armen begegnet uns der Christus.

 

Am Ende unseres Bibelabschnitts heißt es sehr realistisch: „Die Armen werden nicht einfach aus der Mitte des Landes verschwinden. Deshalb fordere ich von dir: Öffne ihnen deine Hand weit – deinem Bruder, deiner Schwester, den Elenden und Armen bei dir, in deinem Land.“(V. 11)

 

Gottes entschiedene Option für die Armen fordert von uns jedoch nicht nur Freigiebigkeit, sondern auch Recht und Gerechtigkeit. Wenn es in Ex 23,3 heißt: „Auch einen Geringen sollst du in seinem Rechtsstreit nicht begünstigen.“, dann bedeutet das: „Um das Recht der Armen geht es, nicht um mildtätige Herablassung“ (JÜRGEN EBACH, Biblisch-ethische Überlegungen zur Armut, in: DERS., „…und behutsam mitgehen mit deinem Gott“, Theologische Reden 3, Bochum 1995, 203-216, hier: 203f.). Das Recht ist die Würde, auf die er ein Recht hat. Nicht noch so gut gemeinte Schummelei.

 

Um Recht und Gerechtigkeit geht es auch, wenn wir an den Einsturz des Hochhauses vor einigen Tagen in Bangladesch denken. Hunderte Menschen, viele von ihnen Textilarbeiterinnen, kamen ums Leben. Es war nicht nur die Gier der Fabrikbesitzer, der die Arbeiterinnen ins Haus und an die Maschinen zwang, obwohl sich schon Risse gezeigt hatten. Es war nicht nur die Gier des Bauunternehmers, der an Stahl und Zement gespart hatte. Es war nicht nur die Gier des Eigentümers, der auf die berechneten und genehmigten Stockwerke noch einmal so viele ‚schwarz‘ draufsetzte. Verantwortlich dafür war auch das System globalen Handelns, das uns immer noch erlaubt, unverschämt billige Waren zu kaufen und zu verkaufen, die nur unter unmenschlichen Standards so billig produziert werden können. 60 Stunden die Woche für 28 € Monatslohn, von den Arbeitsbedingungen ganz zu schweigen! Wie viele Katastrophen braucht es noch, bis wir dafür sorgen, dass Recht und Gerechtigkeit auch für die Ärmsten wird?! Mit unserem Kaufverhalten, mit unseren Wahlentscheidungen können wir wenigstens einen gewissen Einfluss nehmen.

 

In unserem Grundgesetz gibt es in Artikel 14, Absatz 2, den wesentlichen Grundsatz: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Ich bin überzeugt: Dieser Anspruch kann sich nicht auf die Grenzen unseres Landes beschränken. Es geht nicht nur um das Wohl der deutschen Allgemeinheit. Auch über Deutschland hinaus geht es um die Herausforderung, „dem Eigennutz eine gemeinwohlverträgliche Gestalt zu geben“ („FÜR EINE ZUKUNFT IN SOLIDARITÄT UND GERECHTIGKEIT“, Gemeinsames Wort von EKD und römisch- katholischer Kirche, 1997, 98). Der individuelle Eigennutz, ein entscheidendes Strukturelement der Marktwirtschaft, verkommt sonst zum zerstörerischen Egoismus. Darum müssen Recht und Gerechtigkeit auch für die fernen und fernsten ‚Nächsten‘ unser Ziel bleiben. Es ist eine Sache zwischen uns und den Armen – und es ist eine Sache zwischen uns und Gott!

 

Erlassjahr – wie das heute gehen kann

 

Es liegt auf der Hand: Eine schematische Anwendung – alle sieben Jahre totaler Schuldenschnitt – wäre realitätsfern. Aber die Intention des Erlassjahrs kann aufgenommen und gelebt werden. Wo das geschieht, entfaltet sich Gottes Segen.

 

Beginnen wir im persönlichen Bereich: Freigiebig leben, Aktionen wie ‚Brot für die Welt‘ mit Spenden unterstützen, hilft bei Katastrophen und ermöglicht Selbsthilfe. Es gibt Bereiche, wo nicht Darlehen retten, sondern allein, dass wir unsere Hand weit öffnen und von vornherein auf Rückzahlung verzichten.

 

Aber auch unsere Geldanlagen können der Intention des Erlassjahrs folgen. Wer z. B. Anteile von ‚Oikocredit‘ erwirbt, der fördert Kleinstkredite für Menschen, die bei normalen Banken nicht kreditwürdig wären. ‚Oikocredit‘ gibt diesen Menschen, insbesondere Frauen, eine Chance, sich aus der Armut herauszuarbeiten. Sie gewährt diesen Menschen Darlehen, auch wenn manche Projekte scheitern und das investierte Geld verloren geht. Die große Mehrheit jedoch hat durch das geliehene Startkapital ihre Lebenssituation erheblich verbessern können. Wer sein Geld bei ‚Oikocredit‘ anlegt, darf keine hohen Zinsen erwarten, auch keine absolute Sicherheit seiner Einlagen. Doch bisher haben alle, die es wollten, ihre Einlagen zurückbekommen. Und was viel wichtiger ist: Unser Geld hilft Menschen, sich das zu erarbeiten, was sie zum Leben brauchen.

 

Jesus in seiner Feldrede, nachzulesen in Lk 6, ermutigt uns, etwas zu riskieren: "Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank wollt ihr dafür erwarten? Das tun auch die Sünder. Und wenn ihr nur denen etwas leiht, von denen ihr es zurückzubekommen hofft, welchen Dank wollt ihr dafür? Auch die Sünder leihen Sündern in der Hoffnung, alles zurückzubekommen. Ihr aber sollt eure Feinde lieben und Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt." (Lk 6,33-35)

 

Kann und soll das auch im großen Maßstab geschehen? Welche Bedeutung kann die Idee des biblischen Erlassjahrs in der aktuellen Schuldenkrise haben?

 

Ernstzunehmende Ökonomen gehen davon aus, dass wir viele Milliarden, für die wir jetzt bürgen oder die wir als verzinsliches Darlehen gewähren, nicht wiedersehen werden. Die Schuldenlast der Empfängerländer ist zu groß. Ist es eine Milchmädchenrechnung oder eben doch gesunder Menschenverstand, zu sagen: Dann lasst uns doch gleich einen ernstzunehmenden Teil der Schulden erlassen? Die wirtschaftlich in die Knie gegangenen Länder würden sich wieder aufrichten können und ein Licht am Ende des Tunnels sehen. Wo heute vor allem deutsches Dominanzstreben wahrgenommen wird, würde unsere Solidarbereitschaft als solche erkennbar.

 

Alles illusorisch? Was kaum mehr bekannt ist: Deutschland selbst verdankt seinen wirtschaftlichen Aufschwung einem großen Schuldenerlass. Ich meine das Londoner Schuldenabkommen von 1953(Vgl. www.erlassjahr.de/london/london-faqs.html): Sowohl die Vor- wie die Nachkriegsschulden wurden jeweils um rund 50% reduziert. Für den verbliebenen Rest wurden relativ niedrige Zinssätze festgelegt. Bemerkenswerterweise blieb Deutschland jede Art von „Strukturanpassungspolitik“, d.h. eine Umverteilung öffentlicher Ressourcen im Interesse der Schuldendienstfähigkeit, erspart. Die Erlassjahr-Kampagne fordert daher ein ähnliches Verfahren für die überschuldeten Länder unserer Zeit und schlägt ein faires und transparentes Schiedsverfahren vor. Drei Ziele sollen erreicht werden:

-         Die Bevölkerung des Schuldnerlandes und ihre Grundversorgung sollen geschützt werden.

-         Die Gläubiger sollen an den Kosten der Schuldenkrise beteiligt werden –haben sie doch zum Teil um hoher Renditen willen unverantwortliche Kredite gewährt.

-         Die Kreditvergabe soll verantwortungsvoller werden.

Ein internationales Schiedsgericht soll dabei einen fairen und offenen Ausgleich zwischen Schuldnern und Gläubigern ermöglichen (Vgl. www.erlassjahr.de/staateninsolvenzverfahren/ftap-eine-einfuehrung.html).

 

Man kann darüber streiten, wie realistisch solch ein Schiedsverfahren ist. Aber für neue Wege aus der Krise brauchen wir auch und zuerst neues Denken. Denn eine neue, bessere Ordnung wird nicht gefunden werden, sage ich mit Vàclav Havel, „solange die politischen Administratoren ein so massives Übergewicht über die Träumer haben“( VÁCLAV HAVEL, Fassen Sie sich bitte kurz. Gedanken und Erinnerungen, Hamburg 2007, 344). Darum: Nehmen wir die Bibel ernst und tun, was uns möglich ist! Lassen wir politisch Verantwortliche wissen, dass wir Schuldenerlasse mittragen und unterstützen, auch wenn deutsches Steuergeld dabei verloren geht! Leben wir im Kleinen wie im Großen freigiebig – und im Vertrauen auf Gott. Denn er sorgt für die wesentlichen Dinge des Lebens. Jeder und jedem von uns ist gesagt und verheißen:

 

„Du sollst ihnen (den Armen) reichlich geben und dein Herz sei nicht berechnend, wenn du ihnen gibst: Das ist der Grund, dass der Herr, dein Gott, sich segnen wird in allem, was du unternimmst und was deine Hand anfasst.“ (Dtn 15,10)

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