1. September 2019 | Dom zu Lübeck

80 Jahre Beginn des 2. Weltkrieges

01. September 2019 von Kirsten Fehrs

Gottesdienst am 11. Sonntag nach Trinitatis, Predigt zu Hiob 23

Liebe Gemeinde,

so ein wunderschöner Sommer ist das. Leicht und hell. Immer noch. Mit einem großartigen Programm auch hier im Dom. Mit „Sommernachts-Räumen“ und neugierigen Gästen, launiger Musik, dem sagenhaft schönen Licht. Dazu heute die Suppe am Sonntag. So viel Leben spielt sich hier ab. Mit Jugendlichen auch, die am Wochenende den Dom zu ihrem Zuhause gemacht und übernachtet haben – das muss für Euch eindrücklich gewesen sein. Denn so sehr der Dom bei Tag Geborgenheit gibt und Schutz, so sehr mag es in der Nacht auch ein bisschen unheimlich sein, oder? Zumindest geheimnisvoll – mit all den Ecken und Winkeln, die zu entdecken aufregend sind. Orgel, Engel, Kanzel, gemeinsam lachen, leben, singen – Gott kann uns auf so unterschiedliche Weise nahe kommen und das Leben hell machen!

Und in diese helle Sonnigkeit nun der Hiob. So viel Klage, Schmerz, Trostlosigkeit. Da ist alles nur noch dunkel. Hiob erlebt die schwärzesten Tage seines Lebens. „Der sieht keine Sonne mehr, sagen seine Freunde. „Irgendetwas Unrechtes wird er schon getan haben, dass Gott ihn so schlägt mit Krankheit, Verlust und Tod.“ Einfühlsamkeit von Freunden sieht anders aus. Ihre so genannten „Trostreden“ haben Hiob immer empörter und ratloser gemacht. Er will keinen Trost, schon gar nicht so einen, er will sein Recht. Er hat sich wahrlich und wahrhaftig nichts zuschulden kommen lassen. Er versteht einfach nicht, warum dies unerträgliche Leid auf ihn gekommen ist. Doch keiner hört ihn. – Auch Gott scheint verschwunden irgendwo im Dunkel. Ja mehr noch: „Gott ist’s, der mein Herz mutlos gemacht hat", sagt Hiob. Ich erschrecke vor Gottes Angesicht, und wenn ich darüber nachdenke, so fürchte ich mich vor ihm.“ Kein Licht. Auch nicht bei Gott. Nur schwarz. Nur Nacht. Armer, ehrlicher Hiob.

In der Nacht des 1. September 1939 war es, so kann man lesen, nicht ganz dunkel. Der Mond schien hell. Es war klarer Himmel, ein wunderbarer lauer Spätsommer. Mit wer weiß wie vielen Sommernachtsträumen! Um viertel vor fünf ist die Nacht schon am Schwinden. Und es beginnt ein jahrelanger Albtraum.

„Ab jetzt wird Bombe mit Bombe vergolten!" So hören es die Menschen in Deutschland an diesem Freitagvormittag aus ihren Volksempfängern (Radios). Adolf Hitlers Stimme überschlägt sich vor Erregung. „Polen hat nun heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen. Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen!“

Wir wissen, das ist eine unsägliche Lüge. Fake news, würde man heute sagen. Denn erstens hat Deutschland nicht zurück- sondern zuerst geschossen. Und dies – zweitens – eine Stunde früher. Um 4.37 Uhr hatten 29 deutsche Sturzkampfbomber die polnische Kleinstadt Wielun in Schutt und Asche gelegt. 1.200 Zivilisten kamen dabei elend ums Leben. Und drittens: keine spontane Verteidigungsaktion, wie Hitler glauben machen will, sondern ein Angriffskrieg, von langer Hand geplant.

Es war also gerade keine Hiobsbotschaft, keine überraschende Katastrophe aus heiterem Himmel, wie sie den ehrlichen Hiob ereilt. Kriege brechen nicht aus wie eine Krankheit. Kriege werden begonnen.

Wehret den Anfängen … Es gab ja viele Anzeichen! Der so genannte „Anschluss“ Österreichs kurz zuvor oder Ende August die Rationierung von Lebensmitteln. Das kannte man noch genau vom vorigen Krieg. Das Dunkel des Krieges hatte Schatten vorausgeworfen. Und brachte fortan über sechs Jahre in ganz Europa und über weite Teile der Welt Finsternis. Keine Hiobsbotschaft also, sondern eine eiskalte Lüge. Hitler dazu eine Woche vorher in vertrautem Kreis: „Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht.“

Und mir geht nach, wie sich in den vergangenen Jahren unsere politische, ja auch unsere Gesprächskultur verändert hat. Dass es an der Tagesordnung ist, von Präsidenten und Wahlkämpfern hemmungslos belogen zu werden – die Sieger fragt ja keiner mehr? Heute, wo in Sachsen und Brandenburg gewählt wird, im Angesicht einer über 70-jährigen Friedensgeschichte und kostbarer Demokratie: Es fragt keiner mehr, wenn jüdische Kinder angegriffen, muslimische Frauen verunglimpft, Geflüchtete diskriminiert werden, und auch wir als Kirchenmenschen beschimpft werden? Es widersteht keiner mehr, wenn es auf einem Wahlplakat der AfD, die immer stärker vom rechtsextremen Flügel bestimmt wird, heißt: „Hol dir dein Land zurück“? Es fragt keiner mehr?

Doch. Wehret den Anfängen. Der Hiob in seiner verzweifelten Suche nach Recht und Würde ist dazu ein einziger Ansporn: Das ist nicht auszuhalten! Deshalb dürfen wir nicht schweigen. Alle, die wir hier sind. Als Männer und Frauen, die es einfach nicht lassen können, Licht ins Dunkel brauner Geschichte zu bringen. Die es nicht lassen können, den Frieden zu ersehnen. Zu erbitten. Am besten auch zu leben. Vielleicht bisweilen ein bisschen verrückt vor Hoffnung. Denn die Hoffnung ist die Schwester der Trauer. Und die der Erinnerung.

Um Schwester Hoffnung in der Zukunft willen: Reden wir. Erinnern wir die Millionen von Menschen, die in den KZs und den Gaskammern in wahnhafter Grausamkeit ermordet wurden, gedenken wir ihrer, die in Bombenhageln starben. Gedenken wir heute ihrer, die nichts mehr hoffen, oft auch nichts mehr glauben konnten und die keinen Menschen mehr lieben durften. Klar und eindeutig müssen wir sagen, was war, damit nicht erneut verdunkelt wird, dass das Nazi-Regime als erstes die Brandfackel in andere Länder trug, damals am 1. September 1939.

Und auch dies: Erinnern wir daran, dass die Kirchen schuldig wurden. Denn die Schuldbekenntnisse der Alten nehmen die Jungen in die Verantwortung. Es ist wichtig, heute zu erinnern, dass man klarer hätte bekennen, deutlicher widerstehen, inniger hätte beten müssen. So wie sie, die damals Widerstand übten und der Lüge entgegenhielten: Nur die Wahrheit wird uns frei machen. Mit ihnen begann das Licht sich gegen die Finsternis totalitärer Gewalt durchzusetzen. Morgenglanz der Menschlichkeit.

Wir dürfen nicht aufhören damit, liebe Geschwister. Denn erlittenes Unrecht und Gewalt können Menschen traumatisch festhalten. Sogar über Generationengrenzen hinweg. Wo soll man hin damit, wenn keiner zuhört. Keiner sich erinnern will. Kein Raum da ist, es anzuvertrauen? Um loszugeben, was man nicht aushalten kann.

Hiob sucht vergeblich danach. Und hält diesen Albtraum aus. Jede Minute. Wo ist Gott in dieser abgrundtiefen Verzweiflung, fragt mich eine junge Theologin, sie hätte so gern eine Antwort darauf. Und sieht dann – Schwester Hoffnung scheint auf –, dass Hiob sich ja nicht nur „dreingibt“, nein, er fordert Gerechtigkeit von Gott. Ja, weiter so, Hiob, denkt sie. Du willst zu Deinem Recht kommen, geprüft werden wie Gold, auf die Goldwaage gelegt werden. Richtig so, das Unrecht, das dir widerfuhr, schreit zum Himmel. Also, streite mit Gott, er ist so groß und hält das aus, denkt sie.

Doch Gott in seiner Größe, er bleibt verborgen. Wo Hiob auch hingeht, Gott ist nicht da. Ob im Osten, Westen, Süden, Norden – Hiob kann Gott nicht finden. Der Gott, der ihn geschaffen und gesegnet hat – er antwortet ihm nicht. Wenn der Sieger nicht nach der Wahrheit gefragt wird – Hiob, der Verlierer, wird gar nichts mehr gefragt.

Und so bleibt es bei seiner eigenen Antwort, dem Aushalten. Der Erkenntnis, wie sinnlos sein Leid ist. Und indem wir dies mit aushalten wissen wir zugleich, dass Hiobs Geschichte ja weitergeht. Viele Kapitel lang. Am Ende, das er noch nicht kennt, wird es ihm wieder gut gehen. Doch das dunkle Kapitel voller Schmerz und Sinnlosigkeit bleibt ein Teil seines Lebens. Und auch sein Erschrecken vor Gott, der in all dem unsichtbar blieb.

Heute, 80 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, nach unendlich viel sinnlosem Tod, wissen wir, wie es endete mit diesem Krieg. Dass nach sechs schwarzen Jahren der Frieden kam, im Mai, und der Neuanfang. Der ökumenische Rat der Kirchen formuliert das Zukunftsprogramm dazu 1948 „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ Wie gültig das ist! Nach Gottes willen, kein Krieg soll mehr sein in den syrischen Städten. Um Gottes willen, nicht diese Menschenverachtung an der Grenze zu den USA, wo Geflüchtete wie in Käfigen gefangen sind. Um Gottes Willen, hör auf, du friedensverwöhntes Deutschland, mit Waffenlieferung und Rüstungsexport.

Um Gottes Willen, dachte Hinnerk, Jahrgang 1923, als er 1946 aus der Gefangenschaft nach Hause kam, in sein Dorf und auf den Hof. Wie das bloß alles werden soll. Sein Herz war so besetzt und betäubt von diesem Albtraum, von all den Bildern des Krieges und des Todes, der jüdischen Familie, die er nicht retten konnte, von all seinen Gewissensnöten. Und dann, erzählte er mir, habe er eines Sonntags, morgens im Spätsommer, auf dem Feld gestanden und die Glocken der Kirche gehört, in die er nie wieder gegangen war. Auf einmal ist wie aus dem Verborgenen der Choral in ihm aufgestiegen: Allein Gott in der Höh‘ sei Ehr‘ und Dank für seine Gnade ... Und dann hat er wirklich gesungen, ganz laut, da auf seinem Feld. Hinnerk allein mit seinem Gott.

Gott ist nicht verschwunden, liebe Geschwister – er ist hier. Im Dom. Mitten unter uns. In unserer Friedlichkeit, unseren Liedern, in der Sommernacht der Jugendlichen ebenso wie in den Momenten sinnloser Dunkelheit. Er ist da, damit es hell wird, die Zeit wird kommen! Immer wieder. Das ist die Botschaft: Beglänzt von seinem Lichte, hält Euch kein Dunkel mehr. Doch sein Friede hält Euch, höher als alle Vernunft. Er bewahrt allzeit unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

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