2. Juli 2017 | Hamburg, Hauptkirche St. Michaelis

Das Evangelium mit Leben füllen

02. Juli 2017 von Kirsten Fehrs

3. Sonntag nach Trinitatis, Predigt zu Lukas 15, 1-7 anlässlich der Ordination in der Hauptkirche St. Michaelis

Liebe Ordinandinnen und Ordinand,
liebe Festgemeinde,

wenn das dem ganzen Geschehen hier nicht buchstäblich die Krone aufsetzt: Dieses Stück des deutschen Komponisten Georg Friedrich Händel, geschrieben für die englische Königin, heute zu Gehör gebracht in Ihrer Anwesenheit, liebe Kathy Broadman, die uns begleitet als Vertreterin der Kirche von England, hier im deutschen Michel an der Englischen Planke... Ewige Quelle göttlichen Lichts -  mit den Strahlen der Sonne sollte 1713 der Königin ein glanzvoller Geburtstag bereitet werden. Und nun, 300 Jahre später, begleitet dieses deutsch-britische, völkerverständigende Musikstück Sie, liebe Ordinanden, an Ihrem Ordinationstag.

Wie die Musik Völker zu verbinden und Generationen und verschiedenste Menschen zu einer Gemeinschaft zusammenzubringen – das ist eine der wichtigsten Aufgaben in heutiger Zeit: Brücken bauen, über alle Spaltungen zusammenführen, was immer weiter aus-
einander driftet. – England und Europa ja auch.

Stattdessen: Gemeinde bauen. Voller Zuversicht und Freundschaft. Das braucht es doch: Eine Gemeinschaft der Verschiedenen, in der niemand verloren geht. In der man sich vielmehr immer neu findet.
Wie der Hirte sein Schaf.

(Achtung, ich bin schon mitten im Evangelium:) Ist das nicht hinreißend, wie dieser Hirte sich freut?! Ich weiß nicht, ob Sie wie ich als Dithmarscherin so etwas wie eine natürliche Schafskenntnis haben. Für einen Außenstehenden nämlich sehen Schafe nur wie Schafe aus: Weiß, oder besser: schmuddel-weiß, vier Beine, ein bisschen träge. Kopf am Boden: Gras fressen. Der Schäfer jedoch sieht die Tiere ganz anders. Er sieht das große Mutterschaf, den kleinen Bock mit dem braunen Fleck auf dem Rücken und auch das Lamm, das immer noch nicht so zugelegt hat, wie er sich das wünscht. Und vor allem: der Schäfer merkt schnell, wenn eines seiner Schafe fehlt.

Was dann? Unsere Geschichte erzählt das Naheliegende: Losgehen. Suchen. Schnell. Denn vielleicht ist das Schäfchen ernsthaft verletzt, kann nicht mehr vor und zurück. Wird bedroht und ist hilflos.

Verloren gehen ist keine schöne Erfahrung. Weder für Schafe noch für Menschen. Kinder allemal. Das passiert ja: Im großen Kaufhaus. Oder im Urlaub am Strand. Eben noch war die Kleine ganz in der Nähe  – und dann ist sie auf einmal weg. Sie kennen das sicher  - dieser Adrenalinschub und dann: Losgehen. Suchen. Schnell! Und wenn man Glück hat, knistert bald die ersehnte Lautsprecherdurchsage: Lea Meyer ist hier und sagt, sie ist halbfünf und kann von ihren Eltern beim DLRG-Turm abgeholt werden.

Uff. Und dann sieht man, dass nach kurzer Vermahnung an den kleinen „Sünder“, wie es im Evangelium heißt, die Eltern erleichtert ihr Schäfchen Huckepack nehmen. So wie es auch der Hirte tut. Der nun allerdings lässt bei seiner Suche die anderen 99 Schafe alleine. Vernünftig ist das wohl eher nicht. Aber es geht hier auch gar nicht um Vernunft. Es geht um Gefühle, und große dazu: Um Angst, die hatten wir gerade. Und um die Liebe.

Keinen verloren geben. Aus Liebe. Das ist es, was das Wesen Gottes ausmacht. Deshalb steht es ausdrücklich so in der Ordinationsliturgie, nachher, hören Sie hin. Keinen verloren geben – diese Passage hat Sie, liebe Ordinanden als ja auch künftige Hirten sehr berührt. Denn Ihnen liegt viel daran, dass Sie in Ihrem Dienst aufmerksam bleiben und nicht abstumpfen, eine frische Herzlichkeit zeigen, die den Unterschied liebt. Sie wollen die Gemeinschaft pflegen wie einen Schutzraum für ausnahmslos jeden. Deshalb ja auch ist Kirche als Institution so wichtig! Damit diese Gemeinschaft die Barmherzigkeit in die Welt trägt.

Das ist unser Auftrag und Ziel und genau das, was unsere Welt dringend braucht. Wenn sich hier in Hamburg in einigen Tagen die Mächtigen der Welt treffen, möchte man ihnen zurufen: Lasst keinen zurück! Lasst nicht nach im Bemühen, würdige Lebensbedingungen für alle Menschen auf dieser Erde zu schaffen. Stellt den Schutz unseres Planeten über nationale Eigeninteressen. Und vor allem: Lasst keinen Menschen untergehen! In Armut nicht, in Hunger nicht und im Tränenmeer auch nicht! Kehrt um – Buße heißt das im Evangelium – kehrt um eure Gedanken und kommt zu einer humanen Flüchtlingspolitik in Europa, gemeinsam! Wir alle sind Geschöpfe Gottes, mit gleicher Würde begabt. Über alle Kontinente verstreut, gehören wir als Menschenfamilie zusammen und tragen Verantwortung füreinander.

Denn nicht eines der Kleinen soll verloren sein!

Sagt auch der Hirte in unserer Predigtgeschichte. Und meint ihn, den großen Hirten und Schöpfer. Er, der uns geschaffen hat, liebt uns über die Grenzen der Erde. Und deshalb hat er Sehnsucht nach uns. Sucht uns. Deshalb geht er an unsere Hecken und Zäune in der Welt, auch an all die furchtbaren Grenzen in Griechenland und der Türkei derzeit, wo Kinder stehen und nicht wissen wohin. Er geht jedem kleinen und jedem großen Menschen nach. Den Verlorenen zuerst.

Aus lauter Liebe, sagt der Hirte. Sie ist es, die uns trägt durch die Angst und durch die Zeit. Es ist nicht die Vernunft, das Verstehen, die Sorge um mich selbst. Es ist Liebe zu einem anderen, maßlos und beständig. Sie umarmt, was in uns zittert. Sie ist´s, die auch das Schwere aushält. Und die uns herausliebt aus Missgunst und Gleichgültigkeit. Damit wir losgehen. Suchen. Schnell.

Und mir geht nach, liebe Ordinanden, dass auch Sie in Ihrem Leben immer wieder losgegangen, innerlich immer wieder neu aufgebrochen sind. Bei keinem von Ihnen war es der  schnurgerade Weg, eher eine stetige Suche. Und es waren berührende Momente, als Sie erzählen, wie sich auf Ihrem Weg oft genug Gott hat finden lassen. Sie wissen es nun, wozu Sie Ja sagen und sich berufen fühlen.

So etwa sie, die von Kind an weiß, wie das Leben manchmal an einem seidenen Faden hängen kann  – sie sagt: ich bin berufen zu halten. Mit großer Aufmerksamkeit. „Attention“, sagt sie, ist wichtig, um denen Grund zu geben und Sinn, die drohen den Boden zu verlieren.

Oder sie, die von der Gebrochenheit des Lebens oft Berührte – sie sagt: ich bin berufen zu ermutigen. Damit die Menschen ihre Fragen stellen zum Sterben und zum Leben und wir gemeinsam  eine Sprache finden, die wirklich Hoffnung gibt. Und so ist sie Sprachfinderin - gemeinsam mit ihrem Sohn, dem großen.

Oder sie, die etwas weiß von der Unberührbarkeit derer, die die Welt aufspalten – sie ist berufen, Verbindung zu schaffen: Zwischen Einheimischen und Fremden, zwischen Kirche und Religionen, zwischen Deutsch und Herzenssprache, Gemeinde diesseits und jenseits von Grenzen.

Und schließlich er, der viele Gedankenwelten durchreiste, er ist berufen das Kreuz quer zu denken, gegen die Gesetzlichkeit. So vieles in dieser Welt steht friedlich nebeneinander. Guter Grund, denen den Weg zu eröffnen, die immer suchten, doch nie fanden.

Auch weil sie uns nicht verstehen.

Eindrücklich erlebte ich das jüngst auf dem Kirchentag in Berlin. Ich soll Mittagsandacht im Lustgarten halten, im Herzen der Hauptstadt. Touristenströme durchpflügen das Gelände. Die winzige Bühne übersehe ich zunächst komplett. Sie steht nämlich mitten auf dem Fahrradweg. Perfekter Standort… Verzweifelt versuchen wir dreißig orange Betuchte dem dauerbeschallenden Dudelsackspieler mit Gesang beizukommen, vergebens.

Dann kommt die Andacht. Die Worte, die ich mir ausgedacht habe, kommen mir auf einmal total abseitig vor. Nicht weil es inhaltlich falsch gewesen wäre, sondern weil die gesamte Situation so absurd ist: ich komme mir vor wie am Speakers Corner. Zunächst andachte ich noch tapfer, doch als ich gerade die Tageslosung zitiere: „Betet an den, der Himmel und Erde gemacht hat!“, hält auf einmal ein Fahrradfahrer an, steigt ab und sieht mich total verstört an, als hätte er eine Erscheinung. Und ich höre ihn geradezu denken: „Gute Güte, was ist das denn…“ und ich denke zurück: „Du hast sowas von recht…“

Nun kann man sachlich anführen, dass vielleicht dieser Standort für Andachten suboptimal ist. Dass auch ein besseres Mikrofon nicht schädlich gewesen wäre. Doch das eigentlich Wichtige war, dass das Eigentliche keine Rolle spielte. Es brachte keinen aus dem Konzept, was zum Seufzen, Klagen oder Nachdenken in dieser Welt ist. Und es brachte erst recht keinen zum Innehalten, dass da nun irgendwer irgendwelche Deutungsworte sprach. Es spiegelt, liebe Gemeinde, auch etwas wider von Kirche in säkularem Raum. 

Mich treibt das schon lange um. Diese Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Natürlich gibt es vieles, was mich in unserer Kirche ehrlich beeindruckt, weil es gut gelingt. Und: mich nerven diese Abgesänge. Allzumal, wenn man eine Gemeinde wie die hier am Michel sieht, in der das Leben tobt! So vieles Wichtige wird in unserer Kirche aufgenommen: Menschen, Themen, Kultur, die Kinder. Alle auch, die persönliche und globale Katastrophen erleiden. Da leben ökumenische, spirituelle, diakonische Initiativen ohne Ende. Getragen von gutem Geist.

Auf der anderen Seite aber gibt es mancherorts auch so eine Art abgekapselte Selbstgenügsamkeit. Und ich empfinde schon lange: Lasst uns auch hier auf die Suche gehen!  Unsere prophetische Stimme ist viel mehr als der Appell. Sie ist viel inwendiger. Sie kommt zu sich selbst in dem Maße, wie wir uns in die Menschen unserer Zeit hineindenken – und fühlen. Wie wir suchen und herausfinden, welcher Geist zwischen uns ist – Inter-esse also. Wir müssen sie nicht anpredigen, könnten gut mal hinuntersteigen von den Kanzeln und Bühnen, eher fragen und zuhören als antworten oder gar belehren.

Und genau diese Bewegung zur Seele des anderen hin heißt für mich: Position beziehen. Sich aussetzen. Hinwenden. Suchen, was verloren gegangen ist. Schnell.

Denn ich bin überzeugt, es sind viele, die gefunden werden wollen. All diejenigen, die vor Trauer zergehen, aber keine Worte mehr dafür finden. Alle, die sich nach einem Sommer des Friedens sehnen und danach, dass Lasten vom Herzen fallen. Für all sie kann die ehrliche Begegnung im leisen Wort ein neuer Anfang sein, das Leben zu lieben. Ja, es kann überhaupt wieder etwas von der Liebe gehört werden, weil wir sie wagen in Worte zu fassen.

Das wäre mein tiefer Wunsch, auch an Sie, liebe Ordinand*innen: Dass Ihre klare Stimme nicht pastoraler Singsang wird, sondern dass Sie das Evangelium in Ihrer Sprache mit Leben füllen. Leben, das den Alltag kennt, auch am Sonntag.

Es ist ein so schönes Amt, das auf Sie wartet.

So brecht also auf, mit dem Segen dessen, der euch liebt! Geht – alle! - und hört und redet, dass die Stimme der Liebe im tobenden Weltkonzert immer mehr Kraft gewinnt.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Datum
02.07.2017
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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