10. März 2019 | Hauptkirche St. Michaelis

Das süße Leben hat weltweit seinen Preis

10. März 2019 von Kirsten Fehrs

Gottesdienst zu Invokavit, Predigt zu Hebräer 4,14-16

Liebe Gemeinde!

Chocolat … Die Eingangsszene im Kinofilm „Chocolat“ hält, was der Titel verspricht: Man sieht eine feingliedrige Frauenhand, wie sie dunkle, samtig glänzende Schokolade in einem Topf rührt, ganz behutsam und zartbitter. Langsam dann gießt sie die tiefbraune Pracht in Formen für kleine Pralinés. Hunderte davon sieht man dann in einem Schaufenster liegen – in köstlichen Variationen, das Wasser läuft einem im Mund zusammen.

Und dann der erste Satz des Erzählers: „Es ist Passionszeit.“ – Aus der Traum. Ach je, es ist Passionszeit. Seit Aschermittwoch ist‘s nun ernst, liebe Gemeinde. Fasten, büßen, innehalten und – hinschauen. In das Schaufenster unserer Existenz. Dahin etwa, dass das süße Leben weltweit seinen Preis hat. Und dass es nicht nur pfundig ist, sondern andere zunehmend sauer macht. In der Nachbarschaft. Global. Wir erleben heutzutage so viel Spannungen, ja Spaltung in unserem Land. Zwischen denen, die dolce vita satt, und denen, die das Nachsehen haben. Von Gnade, Hilfe und Barmherzigkeit zur rechten Zeit, wie es uns im Hebräerbrief nahegelegt wird, sehen wir in unserem Land und in Europa nicht viel …

Es ist Passionszeit – und damit Zeit, etwas zu merken. Zum Beispiel wie Mächte und Gewalten uns beherrschen, die wir allzu oft glauben, selbst in der Hand zu haben. Damit meine ich nicht allein die vermaledeiten Mächte der schlechten Gewohnheit. Sondern auch Finanzmärkte. Oder weltweite Datenkonzerne. Aber auch „Zeitgeister“. So sehe ich mich auf einem der heutigen Berge der Versuchung stehen, der heißt: Berg der allwissenden, ständigen Erreichbarkeit. Und dort flüstert, (Wer eigentlich?) mir ein: Immer und überall präsent musst du sein. Online. Auch als Kirche in Social Media, mit dem Handy am Ohr. Sonst weißt du womöglich nicht gleich alles. Aus ohne mouse. Ohne E-Mail, Smartphone, ohne digitale Daseinsberechtigung.

Die gute Nachricht nun, liebe Gemeinde. Sie können abschalten. Ganz selbstbestimmt. 41 Tage noch haben Sie die Gelegenheit abzuschalten. Wunderbar. Wir können uns, glücklicherweise gemeinsam, auf den Weg machen, wieder bei uns selbst anzukommen. Und dann, so Gott will, auch bei Gott. Wissend: Wir haben eben nicht nur eine Schokoladenseite. Es gibt so vieles, was einen sauer ankommt. Was einen schwach macht. Und was einen in diesen Zeiten so durcheinander bringt – eben: diabolos, das griechische Wort heißt übersetzt: der Durcheinander-Werfer, der uns vom Guten trennt. Diabolos. Teufel auch! Kein Wunder, dass wir es zu Beginn der Fastenzeit ständig mit ihm zu tun bekommen. Im Evangelium und den Liedern: Sollt doch die Welt voll Teufel sein?

Jedenfalls scheint es allerorten zu lauern – das Böse, Tückische, die Lüge (auch über sich selbst) und die Verführung. Und so flüstert, lockt und gurrt es in uns (Ist es der Satan oder sind wir es selbst?) und rührt an unsere geheimen Wünsche nach Ruhm, Anerkennung, danach etwas besonderes, besonders unverzichtbar, beliebt, wohltätig zu sein – ach, wer hier unter uns kennt das nicht. Und ehe wir‘s uns versehen, ahnen wir, dass in unserem Bedürfnis, wie ein Engel zu sein, der Teufel sitzt und sich in sein rußiges Fäustchen lacht.

Da braucht es eine starke Gegenmacht. Einen, der mit großer Eindeutigkeit für das Gute steht und das Böse in Schach halten kann. Einen, bei dem gar nichts durcheinander geht, sondern der fest an unserer Seite steht, komme was da wolle. Jemanden, der so mächtig ist, dass er uns schützen kann, weil er mit dem Heiligen vertraut ist und also für die Unantastbarkeit von Leben steht. Wer das sein könnte?

In Jerusalem – daran erinnert uns der Predigttext aus dem Hebräerbrief – war das einst der Hohepriester im Tempel. Der Hohepriester war der mächtigste Mann im alten Israel, erst recht in der Zeit, in der das Volk keinen König hatte. Er allein durfte einmal im Jahr, am Versöhnungstag Jom Kippur, das Allerheiligste des Tempels betreten. Dort brachte er ein Versöhnungsopfer dar – und zwar mit zwei Böcken. Einen als Opfer, einen zweiten als Sündenbock. Dem legte der Hohepriester symbolisch die Sünden des Volkes auf, dann wurde der Sündenbock buchstäblich in die Wüste geschickt – für diesen Ritus echter Erleichterung steht der Hohepriester!

Aus dieser jüdischen Tradition heraus argumentiert unser Predigttext und sagt: Jesus ist nun unser Hohepriester. Allerdings ein Hohepriester ganz anderer Art. Er durchbricht die Macht des Stärkeren. Er ist weder Teil der politischen Elite, noch stammt er aus alter Familie wie die wirklichen Hohepriester. Nein, Jesus ist der Hohepriester des Mitgefühls. Er ist ein Sympathischer, ein Mitleidender. Der die Schwachheit kennt und selbst aushält. Und der wie jeder Mensch etwas weiß von der Versuchung.

Vierzig Tage und Nächte, davon erzählt das Evangelium, ist er durcheinander geschüttelt worden, hat er sämtlichen Verführungen der Macht widerstanden. „Sprich doch, dass diese Steine Brot werden! Beseitige den Hunger der Menschheit!“ raunt es. Aber Jesus widersteht: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund geht.“ Menschen werden nicht satt von Zaubertricks! Von Versprechungen, dass wachsendes Kapital, virtuelle Gewinne oder Zahlenkolonnen auf Papier wirklich Lebenshunger stillen würden. Satt werden sieht anders aus. Wenn Menschen Gottes Wort von der Gerechtigkeit und vom Teilen viel mehr verinnerlichen würden, auch in den oberen Etagen und reichen Häusern unserer Stadt, so dass man es eben nicht einfach so hinnimmt, dass die einen Hunger leiden und die anderen das Glück hatten, in Europa geboren worden zu sein – es würde sich eine Menge ändern an den Verhältnissen, würden wir sagen: Es ist Passionszeit! Schaut hin. Es braucht die gebende Hand des Nächsten statt der gierigen Hand des Marktes, die nimmt was sie kriegen kann.

Gott sollen wir hören in diesen Zeiten! Nicht den, der flüstert: Die ganze Welt will ich dir zu Füßen legen, wenn du mich anbetest. Geld, Atomraketen, die Datenströme und die digitale Zukunft, bete mich an! Und Jesus widersteht: Weg mit dir Satan. Wie sollte Metall und Virtualität den Menschen wärmen? Oder Sinn und Ziel geben? Jesu Liebe gilt dem wahren Leben. Er liebt sie, die schrägen Vögel und schwarzen Schafe, die Bettler und die Verliebten, die Durcheinander-Geratenen und Großmäuligen. Unsere Evangelien sind voll von deren Geschichten. Von ziemlich besten Freunden, die der Schwachheit des anderen aufhelfen. […] und als der Teufel das merkte, verließ er ihn und die Engel traten zu ihm.

Ich glaube, dass die Sehnsucht nach einem, der mit uns durch dick und dünn geht, enorm groß ist. Mit den unterschiedlichsten Ausprägungen und Irrungen. Manche wünschen sich einen starken Anführer – ein Politikertypus, der in vielen Teilen der Welt gerade wieder en vogue ist und der uns eher beängstigen sollte, siehe Brasilien.

Andere folgen dem Gegenbild, einem jungen Mädchen mit Zöpfen, Autistin, die ihre Angst bekennt vor dem Klimawandel. Die auf ihre Weise der Schwäche eine Würde gibt. Die aber auch gefährdet ist, in unserer Mediengesellschaft erst gehypt und dann niedergemacht zu werden.

Wir brauchen eine unheroische, im besten Sinne nüchterne – und deshalb umso wirkkräftigere Macht, die die Schatten unserer Existenz gerade nicht ausblendet. Allemal in dieser Gesellschaft, die so schnell aussiebt, was sie ängstigt. Oder sauer macht oder traurig. Weg mit den Leidenden, heißt es – ins Sterbezimmer. Weg mit den Gewaltopfern – hinter die Schweigemauern. Weg mit den Dementen – in die Pflegeheime und Wohnzimmer ihrer Angehörigen. Weg mit den Flüchtlingen – in die Auffanglager in Malta. Und Jesus widersteht: Nein, weg mit dir, Satan.

Die Humanität unserer Gesellschaft entscheidet sich an unserem Umgang mit allem, was uns Menschen schwach machen kann. Und zwar jede und jeden hier. Sie entscheidet sich daran, wie wir ziemlich beste Freunde werden mit den Handicaps unserer Mitmenschen, vorzugsweise mit unseren eigenen. Mal ehrlich, wer hat sie nicht? Wer wünscht sich nicht die barmherzige Geste – gegenüber der eigenen Vergesslichkeit, dem Gefühl, es „wieder einmal nicht gepackt zu haben“, gegenüber der eigenen Schuld?

Viel zu oft sieben wir‘s aus. Stellen uns in unserem Leben nicht dem, was man „Sünde“ nennt, meint ja: Sund, Graben, der uns von Gott trennt. Wir suchen stattdessen oft genug den Sündenbock, dem wir völlig unzulässig aufladen, was wir angerichtet haben. Vorsicht also bei einem Politprogramm, bei dem mit Fingern permanent auf Flüchtlinge gezeigt wird, weil sie uns angeblich in den Ruin treiben. Liebe Geschwister, wer glaubt so etwas wirklich? Nein, weg davon. Es ist Passionszeit – und es ist dran, innezuhalten und in unser eigenes Schaufenster hier zu schauen, was da alles liegt an Durcheinander in unserem Land. Auch bereuen können wir – warum nicht? Klären. Auf jemanden zugehen. Neu anfangen. Damit sich löst, was – oft unerkannt – zur Last geworden ist oder zu einem dummen Klischee.

Es ist Passionszeit. Hier im Michel mit lauter ziemlich besten Freunden. Die wir alle glauben dürfen, dass dieser eine, ganz besondere Hohepriester selbst uns längst erlöst hat.

Und wie das? Ein älterer Kollege erzählte einmal, dass er als Erstklässler noch die Lehrmittelverteilung miterlebt hat. Heißt: Immer, wenn er ein Schreibheft vollgeschrieben hatte, ging er zur Lehrerin, die es ihm dann abnahm und verwahrte. Und dann bekam er ein neues. Ein wunderbares, unbeschriebenes neues Heft, noch ohne Tintenkleckse und Eselsohren, ganz rein. Und er nahm sich jedes Mal vor, jetzt aber ganz bestimmt, das ganze Heft hindurch sorgfältig und sauber zu schreiben – was er zunächst drei Seiten lang durchhielt, dann zehn – dann wurde er ein wenig ungenau, upss schon wieder ein Klecks … So oder so: Mit jedem Heft, das er abgab, gab er das Alte ab. Und er wusste: Was immer passiert, ich bekomme ein neues Heft.

Auch wir, liebe Gemeinde, bekommen ein neues. Nachher zum Beispiel beim Abendmahl. Jesus weiß ja, dass wir Stärkung brauchen. Die neue Chance, wieder mit sich ins Reine zu kommen. Es ist Passionszeit und in mir so viel Zuversicht: Ist doch Christus schwach geworden vor lauter Liebe zu uns. Das ist unsere Stärke! In seinem Licht können wir aushalten, was wir erkennen von uns selbst. Und dann können wir‘s – wenigstens eine Zeitlang – schaffen ohne Tintenfleck und Eselsohr in unserem Buch des Lebens.

Für uns gilt, allezeit, so auch die 41 Tage bis Ostern: „Lasst uns freimütig hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden und Hilfe erfahren zur rechten Zeit.“
Amen.

Datum
10.03.2019
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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