31. Juli 2016 | St. Petri-Dom zu Schleswig

„Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker gebracht worden“

31. Juli 2016 von Gothart Magaard

Israelsonntag und Ende der Ausstellung „Neue Anfänge?“, Predigt über Römer 9,1–8.14–16

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch. Amen

„Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker gebracht worden.“
Liebe Gemeinde,
diese Worte lese ich im sogenannten „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ aus dem Jahr 1945. Es ist eine jener kirchlichen Verlautbarungen, die Geschichte schreiben sollten, und die wesentlich zum Entstehen eines politisch nachdenklichen, kritischen  Protestantismus beitrugen.

„Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker gebracht worden.“

Wer auch nur einigermaßen historisch orientiert und politisch bei Sinnen ist, wird heute kaum auf die Idee kommen, dem zu widersprechen:  Wir wissen um den Weg der Weimarer Republik in die Diktatur und in den totalen Krieg hinein. Wir wissen, dass sich gerade Menschen aus dem protestantischen Milieu ungemein schwer damit taten, die Demokratie als Staatsform mit ihren Vorzügen zu schätzen.

Dieser Sonntag, der Israelsonntag, gibt uns darum bis heute, und gerade heute wieder, Anlass zu einer kritischen Selbstbesinnung.

„Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker gebracht worden.“ – Dass dieses Eingeständnis auch im Jahr 1945 und weit darüber hinaus keineswegs selbstverständlich war, erfahren wir in der Wanderausstellung „Neue Anfänge?“, die in verschiedenen Kirchen der ehemaligen Nordelbischen Kirche gezeigt wird und in den letzten Wochen auch hier im Schleswiger St. Petri-Dom. Am Dienstag wird sie hier zu Ende gehen und weiterziehen.

Auch nach 1945 fehlte es vielfach an Einsicht und an Bereitschaft,  kritisch – und das bedeutet ja zuallererst selbstkritisch – wahrzunehmen, wie jenes Leid möglich wurde. Schuld wurde gedeckt, Auseinandersetzungen gemieden, eigene Verantwortung weithin nicht benannt.

Mittlerweile hat sich das geändert – und an diesem Sonntag orientieren wir uns in der Gegenwart im Gegenüber zum Volk Israel. Auch in den Grundlagen unserer Kirche hat sich etwas verändert. Erstmals vor 15 Jahren wurden Worte formuliert, die auch in die Präambel unserer neuen Nordkirche Eingang fand:

„Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland bezeugt die bleibende Treue Gottes zu seinem Volk Israel. Sie bleibt im Hören auf Gottes Weisung und in der Hoffnung auf die Vollendung der Gottesherrschaft mit ihm verbunden.“

Das muss ja eigentlich der Leitgedanke unserer Wahrnehmung der Geschichte sein, nicht zu urteilen oder zu verurteilen, sondern in diesem Wissen unsere eigene Lebenszeit, unsere Gegenwart verantwortlich zu gestalten. Ich lese noch einmal einen Auszug aus dem 9. Kapitel des Römerbriefs in der neueren Übersetzung der BasisBibel:

„Für das, was ich jetzt sage, berufe ich mich auf Christus. Es ist die Wahrheit, ich lüge nicht. Auch mein Gewissen bezeugt es und erhält dafür die Bestätigung durch den Heiligen Geist:

Ich bin wirklich sehr traurig, ja, mir schmerzt regelrecht das Herz. Denn es geht um meine Brüder und Schwestern. Ich wünschte nur, ich könnte an ihre Stelle treten und selbst verflucht sein – ausgeschlossen aus der Gemeinschaft mit Christus. Es sind doch meine Landsleute, mein eigenes Fleisch und Blut.“

 

Liebe Gemeinde,

Paulus leidet an seinem Volk. Er spürt die Zerrissenheit als Jude, der sich zu Christus bekennt. Er hat die Wahrheit Christi für sein Leben erkannt – und zugleich weiß er, dass dieser Christus nicht mehrheitsfähig ist.

Er muss mit ansehen, wie die Gemeinschaft seiner Religion zerbricht und das Gottesvolk sich entzweit. Hilflos und längst ein Fremder für seine Glaubensgenossen geworden, weil er das Lager gewechselt hat. Da läge es nahe, nachzutreten, sich ganz entschlossen abzuwenden. Doch Paulus leidet.

An diesem Tag und im Lichte der Geschichte unserer Kirche in der Kriegs- und Nachkriegszeit kann ich mich in die Gemütslage des Paulus einfinden: Man könnte doch noch vielmehr als Christenmensch an der eigenen Vergangenheit, am Verhalten der Schwestern und Brüder in Geschichte – und nicht selten auch in der Gegenwart – verzweifeln: Wie konnte das möglich sein, dass man wider besseren Wissens die politische Verantwortung für Freiheit und Toleranz nicht wahrnahm – und auch heute mancherorts nicht wahrnimmt?

Wie konnte man der Irrlehre eines braun verbrämten Deutschkirchentums folgen – einer im Angesicht der Menschenfreundlichkeit Christi ganz und gar unmöglichen und unverantwortbaren Theologie, die Teile der Evangelischen Kirche bis 1945 und teils darüber hinaus vertreten haben. Sie haben sich auch auf Martin Luther berufen, der zentrale Einsichten seiner Theologie mit judenfeindlichen Denkmustern verknüpfte und widersprüchliche Empfehlungen zum konkreten Umgang mit Juden gab.

Ein Leiden am Nächsten, im Wissen um die nicht zu lösende Verbundenheit – das spürt man in Paulus Worten, und noch viel drängender in der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. „Ich bin wirklich sehr traurig, ja, mir schmerzt regelrecht das Herz.“  Wie geht man mit diesen Rissen durch die eigene Existenz als Christ um? Was ist das Evangelium dieses Sonntags, die gute Botschaft, frei- und frohmachend, die wir uns gerade heute gesagt sein lassen müssen, im Angesicht unserer Geschichte und unserer Verantwortung in der heutigen Zeit?

Paulus schreibt weiter: Sie sind doch Israeliten! Sie sind Kinder Gottes und haben Anteil an seiner Herrlichkeit. Mit ihnen hat Gott mehrfach einen Bund geschlossen. Er hat ihnen das Gesetz gegeben und sie gelehrt, ihn in rechter Weise zu verehren. Und er hat ihnen sein Versprechen gegeben. Sie sind Nachkommen der Stammväter, von denen auch Christus seiner irdischen Herkunft nach abstammt. Gott, der über allem steht, sei in Ewigkeit gelobt. Amen.

Es hat Gott gefallen, gerade dieses Volk zu erwählen, hält Paulus fest. Paulus erinnert an die Heilsgeschichte, an den Weg, den Gott mit seinem Volk gegangen ist.

Gott hat Zeichen der Verbundenheit gesetzt.

Er hat gesegnet und Verheißungen gegeben, er hat die Erzeltern auf ihren verwundenen Wegen begleitet und er hat sein Volk in die Pflicht genommen.

Er ist kein Unbekannter – er hat sein Wirken eingeschrieben in die Geschichte seines Volkes. Und so schließt Paulus:

Gott, der über allem steht, sei in Ewigkeit gelobt. Amen.

Amen, das ist die starke Form der biblischen Bekräftigung: So ist es, so soll es sein.

Liebe Gemeinde,
es führt kein Weg an diesem Gott vorbei, der sein Volk erwählt hat und der ihm die Treue hält. Und darum wird Paulus nie zu dem Gedanken gelangen, dass die Beziehungen Gottes zu diesem Volk gekappt wären, dass sich Israel etwa von seinem Gott lossagen könnte, auch wenn Paulus selbst sich zu Christus als Teil der Geschichte Israels und als Gottes Sohn bekennt.

Was sich in menschlicher Logik nicht zusammendenken lässt, nämlich dass die einen den Messias noch erwarten, und die anderen ihn in Jesus Christus längst gefunden haben, hält der Glaube beieinander, indem er sich dem unergründlichen Ratschluss Gottes anvertraut. Gott hält seinem Volk die Treue – und er erschließt sich uns Christenmenschen in dem Einen, dessen Kreuzestod uns zum Hoffnungszeichen wurde.

Liebe Gemeinde, es ist kein Zufall, dass wir direkt vor der Klage des Paulus eine der stärksten Aussagen über diesen biblischen Gott lesen, der in seiner Menschenfreundlichkeit so unergründlich ist: Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Wo Menschen die Trennungen sehen und die Zerrissenheit spüren, gehört doch Gott das letzte Wort. Er gibt uns nicht preis. Er überlässt uns nicht unseren Taten und unserem Unterlassen. Das Abgründige wird zuletzt nicht über unser Leben entscheiden – sondern die Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist.

Wenn dieser Gott selbst im Abgrund des Todeskampfes da ist, wenn er die Täter nicht verurteilt, sondern auf seine Seite zieht, dann stehen auch uns keine letzten Urteile zu. Nicht einmal ich selbst – die stärkste Waffe gegen meine eigene Würde, kann mich von Gottes Liebe trennen.

Liebe Gemeinde, mit der Hinwendung zu diesem Geheimnis der göttlichen Liebe müssen wir zu aller Zeit unser Denken und Tun beginnen lassen.

Von hier aus gilt es die Gegenwart zu entziffern, Spuren der Geistesgegenwart zu entdecken, zu sehen, wozu Gott uns berufen hat:

•  Aufmerksam zu sein für die jüdischen Glaubensgeschwister unter uns, für die kleinen, wachsenden Gemeinden.

•  Jeder Form von Judenfeindschaft und Verachtung zu widerstehen und ihr entgegenzutreten.

•  Begegnungen und das theologische Gespräch suchen über die biblischen Bücher, die uns gemeinsam heilig sind, wie die Psalmen. Daraus wachsen notwendig neue Perspektiven für uns Christen. Ich freue mich, dass der Kirchenkreis und die Kirchengemeinde Schleswig  solche Begegnungen und Kontakte nach Israel pflegen.

•  Und sich auch gemeinsam engagieren, wie ich es in der Volksinitiative zur Aufnahme eines Gottesbezugs in die Landesverfassung erlebt habe. Ein großartiges Zeichen, auch wenn am Ende die erforderliche Zweidrittelmehrheit mit 45 zu 23 Stimmen ganz knapp verfehlt wurde.

Wo Menschen die Trennungen sehen und die Zerrissenheit spüren, gehört Gott das letzte Wort. Mit der Hinwendung zum Geheimnis der göttlichen Liebe müssen wir unser Denken und Tun beginnen lassen. Von hier aus gilt es, Schuld zu bekennen, Versöhnung zu suchen und Begegnung zu leben, mit denen, die nichts, und mit denen die anders glauben.

Von hier aus gilt es, das eigene Leben zu ertragen, mit dem was offen bleibt, mit dem, was wir verlieren und mit dem, was uns erfüllt.

„Gott, der über allem steht, sei in Ewigkeit gelobt!“
Amen.

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