2. Juli 2016 | St. Petri zu Rostock

Echt evangelisch?! – Glaube und Gesellschaft im Dialog

02. Juli 2016 von Kirsten Fehrs

Vortrag anlässlich des 70. Jubiläums der ESG Rostock

Liebe Schwestern und Brüder,

ich danke Ihnen herzlich für die Einladung zu dieser besonderen Geburtstagsfeier, die ja zugleich eine Feier der Generationen ist. Ich habe mich auf Sie gefreut und auf die Begegnung mit Ihnen. Zumal Ihr Programm ja wirklich alles zu bieten hat: Abwechslungsreiche Kost in jeder Hinsicht, freundlich gestimmte Leute, thematisch nah am Leben der Stadt, und nachher wird´s auch noch richtig nett mit Ball und Tanz, dass es rockt in Rostock, was will man mehr. Außer vielleicht Public viewing….

70 Jahre ESG Rostock, das will wirklich ausgiebig gefeiert – und auch gewürdigt sein! Unzählige Menschen, Studierende und andere, die seit 1946 so vieles in und mit der ESG erlebt, aufgebaut und auch durchlitten haben…. Ich selbst komme ja nicht „von hier“, stamme vielmehr aus dem äußersten Westen Schleswig Holsteins, aus Dithmarschen, und wohne nun lange schon in Hamburg. Umso mehr habe ich es als Ehre empfunden, heute und hier den Festvortrag halten zu dürfen. Danke. Ich danke Ihnen sehr für dieses Zeichen der Verbundenheit mit dem mecklenburgischen Teil unserer Nordkirche.


Einleitung

Nun – wie war das 1946?  Krieg zu Ende, das Land in Trümmern – kaputt und zerstört auch viele Lebensentwürfe. Hunderttausende Flüchtlinge waren unterwegs damals. Und wenn ich Zeitzeugenberichte lese oder höre, dann fällt mir immer eines auf: Wie nah damals Depression und Aufbruch beieinander lagen. Wie es die einen gab, die den alten Verhältnissen hinterhertrauerten, aber auch die anderen, die sagten: Jetzt fängt etwas Neues an, und das wollen wir mitgestalten. In der ESG Rostock muss es laut Chronik[1] genau diese Aufbruchsstimmung gewesen sein. Endlich Freiheit! Nach all den Jahren der NS-Diktatur konnte jetzt nicht nur wieder offen gebetet, sondern auch offen geredet werden. Außerdem gab nicht etwa ein Studentenpastor den Ton an, die waren bis 1951 sowieso nur nebenamtlich tätig, sondern in großem Maße die Studierenden selbst. Und das alles, man höre und staune, noch bis 1952 ganz selbstverständlich in den Räumen der Universität: Immer Mittwoch ein  Bibelabend mit bis zu 100 Besuchern, daneben Vorträge, Rüstzeiten, Gesprächskreise und alle zwei Wochen ein Gottesdienst, in dem die Theologieprofessoren predigten. Auch dieser wurde noch bis 1951 im offiziellen Vorlesungsverzeichnis angekündigt. Ich will hier den Ausflug in die Historie beenden, unerwähnt aber darf nicht bleiben, dass sich dann ab 1952 und heftig dann ab 1953/54 erneut die Unfreiheit Bahn brach und diese ersten Aufbrüche geknebelt, ja erstickt werden sollten.

Schon dieser kurze Abriss zeigt, was das Thema meines Vortrags entfalten will: Die ESG war damals, und nicht nur in Rostock, ein Aufbruchsort, an dem sich vieles von dem zeigte, was man als echt evangelisch bezeichnen kann: Ein Ort der Freiheit, offen für alle. Eine Gemeinschaft, die sich wöchentlich um das Wort sammelte und die viel Raum für den freien Diskurs ließ. Männer und Frauen gleichermaßen, die sich nicht in fromme Innerlichkeit zurückzogen, sondern sich in das gesellschaftliche Leben einmischten. Und wenn ich Sie heute so sehe, ist es doch bis heute so!

Wir brauchen die Erinnerung für die Zukunft. Wir brauchen die Erinnerung an das, was wir sein wollten und was gewesen ist. Ist ja unsere Kirche sowieso eine Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft; jeder Sonntagsgottesdienst ist eine Feier der Erinnerung. Aber, und das ist ganz wichtig: Wir blicken nicht auf die Vergangenheit, um sie nostalgisch zu verklären oder sie gar zum Sehnsuchtsort zu machen. Wir blicken auf die Vergangenheit, um uns von ihr anregen und uns für die Gegenwart und für die Zukunft stärken zu lassen.

Allemal an Jubiläen findet das statt. Bei 70-ten. Und  - ich nähere mich gefährlich unseren Ursprüngen – bei 500ten Jubiläen. Da soll es übrigens nächstes Jahr ein paar Veranstaltungen geben ... Doch auch beim Reformationsjubiläum geht es nicht darum, den einen Reformator Luther zu verherrlichen, und dies womöglich auch noch in Abgrenzung gegen Papst und katholische Kirche. Nein, es geht ums Eigentliche. Das, was uns gründet in Glauben und Handeln. Damit wir neben all dem Alltags-Klein-Klein nicht vergessen, was unser Auftrag ist: Salz der Erde und Licht der Welt zu sein! Nichts weniger! Gerade in diesen bewegten Zeiten, in dieser tobenden Welt mit einem um sich greifenden, seltsam ängstlichen Kleinmut gilt es in Horizonten zu denken und aufzubrechen, was uns zwingt.

Das ist  „echt evangelisch!“  Und das war es auch damals, in jener aufregenden und genauso bewegten Epoche vor 500 Jahren. Für mich ist dieser Brückenschlag faszinierend dicht, und ich würde Sie gern mitnehmen auf diesen Gedankengang von dort nach hier. Ich möchte dies tun anhand von vier alten Schlagworten, mit denen man einst versucht hat, das zu gliedern, was Reformation bedeutet. Die „Basics“ sozusagen. Man nennt sie mit einem lateinischen Wort auch die „Soli“. Abgeleitet von „solus“, das bedeutet „nur“ oder „allein“.  Solus Christus –allein Christus. Sola Scriptura – allein die Schrift. Sola fide – allein aus Glauben. Sola gratia – allein aus Gnade.

Was bedeuten sie jeweils – auch für uns heute?


Solus Christus – Gott, so Mensch!

Beginne ich mit dem Solus Christus. Allein Christus. Für Martin Luther war das der zentrale Gedanke der Reformation und eine Wiederentdeckung: Gott ist Mensch geworden. Gott ist nicht der ferne, jenseitige, unbarmherzige Herrscher. Er ist auch kein gedankliches Prinzip, keine esoterische Schwingung. Vielmehr hört Gott in Christus ja gerade auf, nur ein Gedanke zu sein. Christlicher Glaube beginnt mit der Nähe eines Menschen aus Fleisch und Blut. Einer, der isst und trinkt, lacht und weint, der heilt und tröstet. Einer, der mit Leidenschaft lebt, mit Passion. Der so liebt, dass er damit selbst den Tod überwindet. So erlebten es die ersten Jünger. Und während spätere Jahrhunderte diesen Jesus immer weiter von den Menschen wegrückten und zugleich alle möglichen anderen Heiligen zwischen Gott und Menschen stellten, hat die Reformation all das kräftig entrümpelt. So drastisch wie Luther hat danach kaum noch jemand von diesem menschlichen Gott gesprochen; ich zitiere ein wenig genannt: „Der liegt neun Monate in dem Leib Marias, der Jungfrauen, scheißet und pisset in die Wiegen, darnach stirbt am Kreuz erbärmlich, als ein Dieb und Schelm. Das soll ein Gott sein?“ Und er beantwortet sie: Ja. Denn nur einer, der alles Menschliche erlebt hat, kann auch den Menschen erlösen.

Ein ganz radikales Gottesbild, ein wenig fern auch, aber andererseits eben auch sehr nah. Dieser Gott in den Windeln lässt sich jedenfalls nicht vereinnahmen als der „Gott mit uns“ auf den Koppelschlössern der Wehrmacht oder als der „In God we trust“ auf der Dollarnote. Was ist dein Gott? fragt Luther und antwortet im Großen Katechismus: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott.“ Es ist kein Gott, für den man in den Krieg zieht, für den man andere versklavt oder tötet. Sondern der Gott „sympathicus“, der mitleidet und ansprechbar ist. Der Gott, der uns hört und der uns sogar schon versteht, bevor wir zu ihm gesprochen haben. Weil ihm nichts Menschliches fremd ist, deine Nöte nicht und deine Liebe nicht und auch nicht dein Leiden. Hoch aktuell, finde ich, ist dies in einer Zeit, in der uns Ideologien bedrängen und in der in Gottes Namen gemordet wird. Welch´ Kontrapunkt ist dazu dieses Gottes- und Menschenbild: Ein Gott als Gegenüber, zu finden im Nächsten. Denn was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan, spricht Christus. Würden es doch auch einmal die hören, die meinen, unser christliches Abendland retten zu müssen, um dann, ordentlich in Hut und Mantel, was würden sonst die Leute sagen, hingehen und Flüchtlinge im gerade gekommenen Bus zusammen schreien.


Sola Scriptura – allein durch das Wort

Zum zweiten: Sola scriptura oder auch Solo verbo, allein durch die Schrift, allein durch das Wort. Sehr ungewohnt für unsere Zeit. Nicht etwa Bilder stehen im Mittelpunkt, sondern ein Text. Deshalb die Bibelübersetzung, das Lesen und Hören des Wortes, das jedem und jeder zugänglich sein soll. So hat die Reformation das Bildungswesen reformiert. Bildung als Menschenrecht! Für Mädchen gleichermaßen wie für Jungen, die Armen gleichermaßen wie die Reiche haben. Wir haben, ja: wir leben einen denkenden Glauben! Es wäre schön, auch das bliebe „echt evangelisch“: Lesen können, denken können – und vor allem: selber denken können. Das hat mit Arbeit zu tun. Denken lernen, sich vertiefen, verwerfen, neu entdecken – das können wir nur an geduldigen Texten schulen.

Ungeduldig dagegen unsere Bilderwelt. Bilder, die Wunderschönes ins Herz heben können, aber auch Sekunden später manipulative Macht ausüben und in ihrer Gewaltlust zutiefst verstören. Ein Bild sagt schnell mehr als tausend Worte. Und es lügt auch mehr als 1000 Worte. Mit seiner brachialen, um nicht zu sagen unverschämten Präsenz entzieht es sich, anders als ein Text, der Argumentation, spiegelt scheinbar die Realität und ist doch oft nur eine Inszenierung von Wirklichkeit.  Jüngst zu erleben bei der Volksabstimmung über den Brexit. Da musste man sich doch die Augen reiben?!  Dass z.B. die Austrittsbefürworter mit großen Trucks durchs Land fuhren, auf denen riesige Bildern von überfüllten Flüchtlingsbooten zu sehen waren. Die emotionale Botschaft war, so schamlos wie verlogen: Seht, die kommen alle her, wenn wir in der EU bleiben. Armes England.

Es ist ja nicht so, dass wir als Christen keine Bilder haben sollten. Im Gegenteil - wir brauchen sie, wir leben von Visionen! Wichtig ist daher nicht das äußere Bild, sondern dass in der Gedanken – und Seelenwelt auch schon des kleinen Menschen heilsame, innere Bilder entstehen. Bilder von der Gnadensonne. Von der Güte, die einem die Angst nimmt. Von Händen, die gereicht werden.

Und diese Bilder, die die Herzen weiten, passen so gar nicht auf den Flachbildschirm. Vielmehr ist ja die Herausforderung einer Kirche des Wortes, allemal in dieser bilderdurchfluteten Kommunikation, dass sie eine Sprache findet, die Wort und Bilder in Verbindung bringt. Und also ein Sprachbild zeichnet, das keine Angst hat vor Tiefgang. Vor Lebenswirklichkeit mit all ihren Widersprüchen. Vor Differenzierung. Und ergo auch Entschleunigung. Es ist in der Bilderwelt der schnellen Schnitte für mich die Herausforderung unserer Kirche: diese Kultur des freien Wortes zu leben, die sich nicht den herrschenden Ab- und Entwertungen beugt. Sondern Bilder von gutem Leben prägt.

Diese inneren Bilder entstehen durch die immer wieder neue Beschäftigung mit dem ganz alten Buch der Visionen, dem Lebensbuch der Hoffnung. Deshalb:


Sola fide – Vertrauen höher als alle Vernunft

Sola fide – allein durch den Glauben. Gott kann nicht verordnet werden, Gott kann nicht bewiesen werden und Gott muss auch nicht bewiesen werden. Vielleicht ist das heute die schwierigste Aufgabe, wo doch gefühlt nur noch so wenige Menschen glauben. „Glaubst du?  An Gott?? Oder: Was glaubst du – noch?“ Solch meist skeptisch konnotierte Fragen mag man meist nur ungern beantworten. Klingt´s dabei doch allzu schnell nach: „leichtgläubig“ sein. Nach dem Motto: Barmherzig, aber doof. Denn: „glauben heißt ja nicht wissen“.

Natürlich nicht. Fides ist genau das andere. Schön formuliert im – reformierten - Heidelberger Katechismus von 1563. Frage: "Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?" Antwort:„Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.“  Treue. Zugehörig sein. Anvertrauen. Das sind die entscheidenden Stichworte. Insofern heißt die richtige Frage nicht: „Glaubst du?“, sondern „Vertraust du“?

Wem vertraust du? Das ist die Frage, um nicht zu sagen Anfechtung unserer Zeit. Vertrauen wir noch unseren Politikern? Oder den Medien? Vertrauen wir der Pastorin? Oder dem Arzt? Wem vertrauen wir etwas an? Ohne diese Vertrauenskrise hätten wir weder AfD noch Pegida, die ihrerseits das personifizierte Nichtvertrauen, das Misstrauen darstellen. Ein Misstrauen, das mit den Ängsten vor dem Bösen spielt. Herzensenge auslöst. Buchstäblich. Nein, wir brauchen jetzt Luft. Weite. Einen Moment durchatmen. Vertrauen, dass es gut wird.

Der Soziologe Niklas Luhmann bezeichnet Vertrauen als einen „Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität“. Eine Art Naivität, die dem Menschen hilft zu leben. Und weiterzumachen. Das heißt, dass er sich traut zu entscheiden, auch wenn er rational nicht bis ins genaueste durchdringen kann wofür oder wogegen.

Und ich schaue mir die Welt an und denke: Recht hat er. Wer erfasst in dieser digitalen Welt schließlich noch rational bis ins Letzte, was es an Möglichkeiten und Risiken abzuwägen gibt? Die endlose Menge an Information verhindert manchmal geradezu eine kluge Abwägung – auch weil sie zeitlich gar nicht zu verarbeiten ist. Und ist also die Fähigkeit zu vertrauen, sozusagen den Sprung zu wagen über die innere Unsicherheit, nicht unerhört lebenszugewandt? Weil es der Intuition ein Recht gibt und der Einfühlung in andere und anderes. Was nebenbei bemerkt zum schnellsten gehört, was der Mensch kann…

So also, mit dem alten Psalm gesprochen (Psalm 121):  Ich hebe meine Augen auf – nicht nur zu den Bergen. Ich hebe meine Augen auf zu dem hin, was über mich hinausweist. Ich hebe also meine Augen auf - vom Computer. Von der Lebensenge. Den Data-Autobahnen. Ich hebe meine Augen auf – und  erkenne vielleicht endlich einmal wieder, dass da oben ein Himmel ist, blau wie das Meer! Das ist wie eine dritte Dimension, die mein Denken und Sein weitet. Mich heilsam relativiert. Und deshalb eine Dimension, durch die ich es aushalten kann, wenn ich verletzt werde und enttäuscht.

Wunderbar vertont hat das Klaus-Peter Hertzsch: „Vertraut den neuen Wegen“, der Klassiker im Evangelischen Gesangbuch, geschrieben zur Wende-Zeit – und heute aktuell wie nie. Denn keiner weiß, seien wir ehrlich, wie es in Zukunft genau gehen wird in diesem Land. Nur dies: bleiben wir beim Alten, werden wir den neuen Herausforderungen nicht gewachsen sein. Neue Wege des Handelns und Denkens sind zu erfinden, zu ergründen, zu bedenken, um mit den vielen Verschiedenen in unserem Land gemeinsam ein Leben aufzubauen, vor dem kein Mensch seine Angst weiter behalten muss...


Sola gratia – Alles gratis

Und so komme ich zum vierten Solus: Sola gratia. Allein aus Gnade. Oder vielleicht auch: Alles gratis. Vielleicht sind wir an keinem Punkt Luther so nah wie an diesem: Die permanente Überforderung durch immer mehr Leistung, die ausschließlich aus uns selbst heraus kommt. Und dies eben nicht nur in der Arbeitswelt, sondern gerade im Privatleben. Wie sehe ich aus? Was esse ich? Wie sportlich bin ich? Wieviel wiege ich? Lebe ich richtig? Glaube ich richtig? Evangelisch oder vegan…?

Die gute Nachricht dazu: Die Reformation hat die „Guten Werke“ als zweitrangig abgetan, jedenfalls bringen sie einen auf der Himmelsleiter nicht eine Sprosse weiter nach oben. Es gibt ja die schöne Geschichte, wie die Reformation in der Schweiz begonnen hat. Nicht mit einem akademischen Thesenanschlag wie in Deutschland. Sondern ganz handfest mit einem deftigen Wurst-Essen. Am 9. März 1522, mitten in der Fastenzeit, lud der Drucker Christoph Froschauer demonstrativ Freunde und Bekannte in sein Haus in Zürich ein, mit dabei war auch der Reformator Ulrich Zwingli. Und es gab Wurst, viel Wurst. Das war streng verboten, denn es war Fastenzeit. Als der Rat davon Wind bekam, und genauso war es geplant, gab es einen Riesenärger. Am Ende siegte Froschauer und mit ihm Zwingli und die Reformation.

Evangelisch sein, das heißt auch subversiv sein. Das heißt manchmal auch Verordnungen übertreten. Gnade vor Recht. Nicht umsonst wurden die Evangelischen später „Protestanten“ genannt.

Als ich vor einigen Wochen gefragt wurde, ob ich im kommenden Jahr in der Vorfastenzeit in einem Fernsehgottesdienst zum Thema „gratia“ predigen möchte, da habe ich spontan zugesagt und als Ort die St. Pauli-Kirche vorgeschlagen. Weil es da genau um diese Gnade, um diese bahnbrechende Barmherzigkeit ging.  Vielleicht erinnern Sie sich: Vor drei Jahren hat diese Gemeinde 80 afrikanischen jungen Männern Unterkunft in ihrer Kirche geboten, viele Monate lang. Die Pastoren und Ehrenamtlichen haben es einfach nicht ausgehalten, die jungen Afrikaner ängstlich und frierend vor ihrer Tür im Regen stehen zu lassen. Also haben sie aus einem Herzensimpuls heraus die Tür geöffnet. Haben sie fast ein Jahr lang versorgt –  mit über 100 Ehrenamtlichen; darüber allein könnte ich einen Vortrag halten. Der Senat hat das ausgesprochen ungern gesehen, denn die Flüchtlinge, die über Lampedusa dem libyschen Bürgerkrieg entkommen waren, sollten eigentlich abgeschoben werden. Keine einfache Situation, vor allem, als der Winter vor der Tür lag. Innerhalb der Kirche waren die Nerven zum Reißen gespannt; außerhalb der Kirche gab es Polizeirazzien.

In jenen Tagen bekam ich einen Brief von der Klasse 10b der Stadtteilschule in St. Pauli. Sie würden sich große Sorgen machen um die Flüchtlinge nebenan. Die seien schwer nett. Und hätten Schlimmes hinter sich. Sie, die Zehntklässler, würden gern als Winterquartier ihre Turnhalle zur Verfügung stellen – und ob es nicht möglich wäre, dass ich die Turnhalle segne, damit dann die Polizei da nicht einfach herein kommen kann. Ob wir darüber nicht mal reden könnten? Hochachtungsvoll, sie würden einem Gespräch mit Freude entgegen sehen. Ich auch, habe ich geantwortet, und so haben wir uns getroffen. Sie glauben gar nicht, wie anrührend diese Begegnung war. Junge, herzliche Menschen, zwei Drittel hatten selbst Migrationshintergrund. Sie erzählten, dass sie sich, als die Polizei nebenan stand, das erste Mal in ihrem Land nicht willkommen gefühlt hätten. Es ist doch auch ihr Land, betonten sie. Und dann erzählten sie: von ihrer Flucht, vom Tod des Bruders, von dem Vater, der in Afrika geblieben, aber auch vom Lehrer, der ihnen Selbstbewusstsein gegeben hat und Zuwendung. So viele junge Menschen mit Herz und auf der Suche nach Sinn! Die Turnhalle als Winterquartier war übrigens dann nicht mehr nötig, weil der Senat ein Einsehen hatte. Und so ist es für alle doch gut ausgegangen. Heute sind die meisten Afrikaner noch in Hamburg, viele haben Wohnung, Arbeit, sprechen deutsch, manche haben hier geheiratet. Gnade vor Recht. Aber eben nicht einfach so, sondern gegründet in der Erfahrung der Gnade, die wir alle erfahren: Dass wir nämlich bedingungslos von Gott geliebt werden. Ganz und gar ohne Vorleistung und Bezahlung – gratis.


Der Dialog der Religionen – unabdingbar für eine friedliche Gesellschaft

Ich komme zum Schlusskapitel. Und bleibe bei den Flüchtlingen. Denn sie konfrontieren uns nicht nur mit der Not auf der Welt, sondern setzen auch das Thema Glauben und Religion neu auf die Tagesordnung. Nicht wenige nämlich lassen mit ihrer Heimat auch ihre bisherigen Glaubensgewissheiten hinter sich. Allerdings auch das Gegenteil: religiöse Zwangssysteme, die bislang restriktiv in ihr Leben eingegriffen haben. Ich habe viele Gespräche etwa mit Iranern oder Afghanen geführt. Es sind Hunderte, die gegenwärtig allein in der Nordkirche den Kontakt zu unseren Kirchengemeinden suchen. Die sich oft auch taufen lassen wollen - wohlgemerkt stets nach einem längerem Glaubenskurs. Dort erleben sie geradezu anrührend auf einmal Glaube als Befreiung. Liebe statt Strafe. Hilfe statt Demütigung. Das Fazit lautet dabei  nicht: Wer Christ wird, bekommt schneller Asyl. Vielmehr erlebe ich die Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, religiös tatsächlich auf der Suche. Werden Christ, aber auch Buddhist oder Atheist.

Es ist religiös sehr viel in Bewegung geraten – in den einzelnen Menschen ebenso wie in der gesamten Gesellschaft. Und wir werden definitiv immer wieder neu auf die Tatsache gestoßen, dass wir eine pluralistische Gesellschaft sind. Dass wir deshalb auch in unseren Institutionen etwas ändern müssen. Der Diskurs dazu heißt: Interkulturelle Öffnung. Für die mit und ohne Glauben oder mit und ohne Konfession. Gerade Sie in den östlichen Gebieten unserer Nordkirche lehren uns dabei etwas ganz Wesentliches: Dass nämlich, wenn wir einen Dienst an der gesamten Gesellschaft leisten wollen, wir nicht nur bedauern oder erleiden, sondern akzeptieren müssen, dass diese Gesellschaft eben keine ausschließlich christlich und erst recht keine evangelisch geprägte Gesellschaft ist.

Und also sind wir herausgefordert, uns zu zeigen. Auch uns zu bekennen. Wer sind wir selbst und wer wollen wir sein? Was heißt eigentlich „evangelisch“? Für mich zunächst ganz klar: einladend zu sein für Menschen anderer Sprache, anderer Hautfarbe, anderer Tradition. Zumal dies durchaus positive Irritationen mit sich bringt: Wenn etwa plötzlich ein nennenswerter Teil der Gottesdienstgemeinde nicht mehr Deutsch spricht, sondern Farsi, wie gegenwärtig in zwei Gemeinden in Hamburg und in Lübeck. Lesungen und Fürbitte – nun auch in Arabisch? Und Farsi? Oder wenn der angestammte Platz auf einmal besetzt von einer durchaus froh gestimmten betenden Familie aus dem Iran.

Interkulturelle Öffnung hört sich einfach an. In Wahrheit ist es eine der aufregendsten Veränderungen, die wir nicht beobachten, sondern die wir mit gestalten sollten. Ein Teilaspekt davon ist der Interreligiöse Dialog. Der zielt nun zunächst gerade nicht aufs Gemeinsame wie die Interkulturelle Öffnung. Sondern darauf, respektvoll den Unterschied zu erkennen und den anderen mit dem Anderssein im Glauben zu akzeptieren. Ja, Zuneigung dafür zu entwickeln, dass einem Muslim, einer Jüdin, einem Buddhisten etwas anderes heilig ist als mir selbst. Auch das hört sich leichter an als es sich anfühlt. Es ist beispielsweise schon eine Herausforderung an die Geduld, wenn mir, der einzigen Frau unter den Religionsführenden, der schiitische Ayatollah oder der orthodoxe (durchaus sympathische) Landesrabbiner aus religiösen Gründen nicht die Hand geben. Andererseits ist es für sie manchmal schwer auszuhalten, dass ich als Frau (und Vorsitzende des Interreligiösen Forums Hamburg) die Sitzung leite….Wir müssen reden, sage ich dann immer – und das tun wir dann auch.

Bei uns in Hamburg lernen ja bereits die Kinder im „Religionsunterricht für alle“, in dem eben alle Religionen in einem Klassenraum unterrichtet werden und miteinander ins Gespräch kommen, diese Haltung der Zuwendung. Sie lernen zu erkennen, wo wir gerade nicht etwas Gleiches glauben und dennoch in einem Raum friedlich beieinander bleiben können. Diese Lerngemeinschaft in einem Raum – sie ist ein schönes Bild für das, was uns gesamtgesellschaftlich derzeit herausfordert und bereichern wird. Und gerade weil religiös so viel in Bewegung ist, muss im Lernraum Deutschland der interreligiöse Dialog unbedingt dazu gehören, und zwar als Übung, den Unterschied nicht zu befürchten, sondern sich mit ihm zu befreunden. Damit man dann gemeinsam einsteht gegen Hass, Terror und Radikalismus aller Couleur. Und für den Frieden. Salam. Schalom.

So möchte ich mit meinem ganz persönlichen „Solus“ schließen, das ich durchaus auch als Fazit meiner ersten viereinhalb Jahre im Bischofsamt verstehe: Solus dialogus. Allein mit dem Dialog werden wir vorankommen. Und das ist echt evangelisch! Es heißt: Reden. Denken. Worte finden. Zweifeln dürfen und überprüfen und protestieren, wo etwas einengt oder nicht mehr passt. Und es heißt, getragen werden vom Vertrauen, dass nicht alles planbar ist und nicht alles in meiner Hand liegt und trotzdem oder gerade deswegen sehr vieles sehr gut werden kann.

Echt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 


[1]
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