Porträt: Schleswig-Holsteins Flüchtlingsbeauftragter

„Eigentlich kann man bei uns nur noch Asyl beantragen, wenn man mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug abgesprungen ist”

© Heidi Klinner-Krautwald

01. November 2013 von Doreen Gliemann

Als Kapitän des Hilfsschiffs „Cap Anamur” rettete der Lübecker Stefan Schmidt afrikanischen Bootsflüchtlingen das Leben – und landete im Knast. Jetzt ist er Flüchtlingsbeauftragter von Schleswig-Holstein und will eine neue Willkommenskultur schaffen für Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Sein Job: Gegen Vorurteile kämpfen und um Verständnis werben. Dazu gehört für ihn auch, Flüchtlingen den Zugang zu Sprachkursen und die Aufnahme von Arbeit zu ermöglichen.

In einem schmucklosen Bürohaus ist man mit Schmidt verabredet, dort, wo die von ihm geleitete Dienststelle des Schleswig-Holsteinischen Flüchtlingsbeauftragten untergebracht ist, direkt gegenüber der politischen Schaltzentrale des Landes, dem Kieler Landeshaus mit Sitz von Parlament und Regierung. Und jetzt beim Interview will er gleich bei der ersten Frage ein Vorurteil, wie er es sieht, beiseiteräumen.

„Herr Schmidt“, formuliert man die Eingangsfrage erneut, „die Zahl der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge steigt deutlich. Ist es falsch, auch von einem gewaltigen Anstieg zu sprechen?” – Man hat die erste Frage noch nicht ganz zu Ende formuliert, da funkt Stefan Schmidt schon mal gleich dazwischen: „Das Wort ‚gewaltig‘ können Sie ruhig streichen! Die Zahl steigt, ja”, antwortet Schmidt, „aber es sind immer noch viel weniger als vor zwanzig Jahren. Bei dem Adjektiv ‚gewaltig‘ befürchten manche Menschen gleich, in ihrem Alltag überrannt zu werden.”

Ich bin bei einem Gespräch mit Stefan Schmidt sofort mitten drin im Thema. In einem Thema, das, wenn man so will, zu seiner Lebensaufgabe geworden ist – dem Schutz von Flüchtlingen und Migranten, das Kümmern um diejenigen, die vor Tod, Diskriminierung oder Unterdrückung auch in Deutschland Zuflucht suchen.

„Jeder muss seinen eigenen Deal mit dem Schicksal machen”

Stefan Schmidt, Kapitän von Beruf und heute 72 Jahre alt, hat das 2004 getan. Damals musste er die schicksalhafte Erfahrung machen, zwar viele Menschenleben gerettet zu haben, dafür jedoch in den Knast gesteckt worden zu sein.

Als Kapitän des deutschen Hilfsschiffs „Cap Anamur” hatte der Lübecker Schmidt vor der süditalienischen Küste 37 afrikanische in Seenot geratene Bootsflüchtlinge aufgenommen und an Land gebracht. Zusammen mit Elias Bierdel, damals Vorsitzender der Hilfsorganisation „Cap Anamur/Deutsche Notärzte”, wurde er anschließend wegen Schlepperei für eine Woche verhaftet und einem langjährigen Strafprozess mit Androhung von bis zu zwölf Jahren Haft ausgesetzt. Erst im Oktober 2009 sind Schmidt, Bierdel und der 1. Offizier von einem sizilianischen Gericht freigesprochen worden.

Im Rückblick spricht Schmidt heute von einem Paradigmenwechsel, der damals bei ihm stattgefunden habe, „bis 2004 habe ich öffentlich unpolitisch gelebt, jetzt bin ich ein politisch denkender und sozial handelnder Mensch.“ Um auf die Situation der Flüchtlinge an Europas Außengrenzen hinzuweisen, gründete er damals zusammen mit anderen den Verein Borderline  - Menschenrechte ohne Grenzen.

Schmidt will Bedingungen gestalten, die er als humanitär akzeptiert

Als er, der noch nie einer politischen Partei angehört hat, vor zwei Jahren aus der Schleswig-Holsteinischen Landespolitik heraus für das Amt eines Flüchtlingsbeauftragten vorgeschlagen wurde, war ihm bald klar, den Deal einzugehen. „Dass man mich vorgeschlagen hat, hat mich schon überrascht”, sagt er heute, „aber die Not von Flüchtlingen liegt mir sehr am Herzen.”

Schmidt will in seinem Amt das Schicksal dieser Menschen nicht bloß verwalten; er will Bedingungen gestalten, die er als humanitär akzeptiert und für die er den Begriff Willkommenskultur benutzt. Und er will dazu beitragen, dass keine Ressentiments diesen Menschen gegenüber aufkommen können. „Bei den Rechten muss man aufpassen”, sagt Schmidt, „wenn Nazis Flüchtlinge angreifen, dann sind wir alle gemeint.”

Schmidt möchte alte Ängste abbauen helfen, dort wo es sie in der Bevölkerung gibt, und er will neue erst gar nicht entstehen lassen. Überall im Land plant er Runde Tische ins Leben zu rufen, um zusammen mit der Bevölkerung Flüchtlingsunterkünfte menschenwürdig gestalten zu können.

„Seine Gäste lässt man nicht im Hühnerstall wohnen. Wir sollten uns daran erinnern, dass wir eine reiche Kulturnation sind”

Gegen Vorurteile kämpfen und um Verständnis werben – dazu gehört für ihn auch, Flüchtlingen den Zugang zu Sprachkursen und die Aufnahme von Arbeit zu ermöglichen.

Bisher leben sie in ihrer neuen Umgebung weitgehend rechtlos, in einigen Bundesländern dürfen sie nicht einmal den ihnen zugewiesenen Bezirk verlassen. „Aber viele kommen mit Enthusiasmus und Fähigkeiten zu uns und wollen etwas Sinnvolles tun”, sagt Schmidt, „bisher sind sie zur Untätigkeit verurteilt.”

Das Tourismusland Schleswig-Holstein lebe auch von ausländischen Gästen und habe zugleich „Probleme, sie ausreichend zu bedienen. Da sollten wir den Flüchtlingen doch sagen: Seid willkommen, helft uns dabei!”

Die meisten flüchten heute aus nordkaukasischen Republiken der Russischen Föderation

Über 74.000 Asylanträge wurden laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in diesem Jahr bis einschließlich September bisher in Deutschland gestellt, mehr als im gesamten Vorjahr. Nach einem Schlüssel werden sie aufgeteilt auf die verschiedenen Bundesländer. Zuflucht suchen inzwischen vor allem Bewohner nordkaukasischer Republiken der Russischen Föderation, die in ihren Heimatländern Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Aus Serbien fliehen viele Roma, die rassistisch diskriminiert werden und keinen Zugang zu Arbeit, Bildung und Gesundheitswesen bekommen. Eine dritte große Flüchtlingsgruppe stammt aus dem Bürgerkriegsland Syrien.

1,26 Prozent der Asylgesuche werden anerkannt

Die Zahlen steigen seit einiger Zeit deutlich, liegen aber weiterhin unter denen früherer Jahre: 1992 wurden in Deutschland noch fast 440.000 Asylgesuche gestellt. Kaum messbar hingegen bleibt seit Jahren die Quote der Flüchtlinge, deren Asylgesuch in Deutschland anerkannt wird. 2012 waren das gerade einmal 1,26 Prozent.

„Ja, die sogenannte sichere Drittstaatenregelung”, sagt Stefan Schmidt jetzt, und seine Bitternis ist nicht zu überhören, wenn er hinzufügt: „Eigentlich kann man bei uns nur noch Asyl beantragen, wenn man mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug abgesprungen ist.”

Haben wir vergleichbare Standards für Asylsuchende?

Geltendes Asylrecht interessiert sich heute in erster Linie für den Weg, auf dem ein Flüchtling kommt. Die 2003 inkraftgetretene Dublin-II-Verordnung geht davon aus, dass in allen EU-Mitgliedsstaaten vergleichbare Standards für Asylsuchende herrschen. Seither ist dasjenige Land für ihr Asylgesuch zuständig, das sie auf der Flucht zuerst betreten haben. Ziehen sie weiter, beispielsweise zu Angehörigen oder Freunden in ein anderes Land, werden sie dort meist in Abschiebehaft genommen und zurückgeschoben. Viele landen in der Folge obdachlos auf den Straßen.

„Herr Schmidt”, will man nun doch von dem Flüchtlingsbeauftragten wissen, „Asylrecht bietet allein Schutz vor Flüchtlingen, nicht aber den Schutz von ihnen?” – „So ist es”, antwortet Schmidt, „leider”.

Niemand verlässt freiwillig seine Heimat

Stefan Schmidt weiß das, er ist selbst ein Flüchtlingskind. Drei Jahre alt war er, als seine Mutter mit ihm aus Stettin in den Westen floh. Und wenn heute in der öffentlichen Wahrnehmung zwischen guten und schlechten Flüchtlingen unterschieden wird, zwischen denen also, die fernab von Europa zigmillionenfach durch die Welt irren, und jenen vergleichsweise wenigen, die es bis hierher schaffen und dann nicht selten als Wirtschaftsflüchtlinge angesehen werden, dann macht Schmidt das zornig.

„Wenn ein indischer Bauer seine Äcker wegen der globalen Erwärmung nicht mehr bewirtschaften kann, dann tragen auch wir daran große Schuld. Dieser Bauer ist genauso hilfsbedürftig wie jeder andere Mensch.”

„Menschenrechtler? Ich bin einfach dafür, dass Menschen Rechte haben”

Als was versteht er sich? Ist er ein Menschenrechtler? „Das Wort kommt nicht von mir”, antwortet Schmidt. Und nach einer kurzen Pause: „Aber warum nicht. Ich bin dafür, dass Menschen Rechte haben.” So wirbt er, der neben seiner ehrenamtlichen Arbeit als Flüchtlingsbeauftragter weiterhin als Honorardozent an der Seemannsschule in Travemünde tätig ist, im Land unermüdlich um Verständnis für die Sorgen und Nöte von Flüchtlingen.

Dass manche Dinge nicht von heute auf morgen umzusetzen sind, ist ihm bewusst. Als Erfolg wertet Schmidt, dass die neu gewählte Schleswig-Holsteinische Landesregierung 2012 die Forderung nach Abschaffung der Abschiebehaft für Flüchtlinge in den Koalitionsvertrag aufgenommen hat. Bis diese Forderung in einem Bundesgesetz umgesetzt werden kann, werden in die Rendsburger Abschiebehaft, in deren Beirat auch Schmidt sitzt, bloß noch in Ausnahmefällen Flüchtlinge eingewiesen und deren Lebensumstände dort „so erträglich wie möglich gestaltet, nicht mehr wie in einem Gefängnis”.

Gleich muss Schmidt wieder los, rüber auf die andere Straßenseite. Mit Landespolitikern wird er sich dann treffen und später auch mit einigen Schulleitern. „Wir wollen ausloten, welche Möglichkeiten es gibt, Flüchtlingen Sprachkurse zu ermöglichen”, sagt er.

Miteinander sprechen, sich austauschen können, auch mit denen, die neu in ein anderes Land gekommen sind – für Stefan Schmidt ist das unverzichtbarer Bestandteil einer Willkommenskultur. Es gibt keinen Grund für ihn, auf dem Weg dahin lockerzulassen.

 

Hintergrund

Flüchtlingsfriedhof Mittelmeer

Laut Welthungerhilfe befinden sich derzeit 120 Millionen Menschen auf der Flucht – 100 Millionen wegen Hunger und Umwelteinflüssen, 20 Millionen vor Kriegen. Die allermeisten bleiben in ihrer Region. Verschwindend klein ist die Zahl der Flüchtlinge, die bis nach Europa kommen – laut Welthungerhilfe 37.000.

Über das Mittelmeer versuchen vor allem Menschen aus afrikanischen Ländern zu flüchten, viele verhungern, verdursten oder ertrinken dabei. Die Organisation „Fortress Europe“ sprach kürzlich von 19.142 Toten vor den Küsten Italiens seit 1988. Nach den Katastrophen vergangenen Oktober sind ein paar weitere Hundert hinzugekommen. In Italien stellt ein Gesetz unter Strafe, Einwanderern bei der Einreise zu helfen.

Quelle

Der Artikel erschien in der Novemberausgabe des Straßenmagazins Hempels mit freundlicher Genehmigung zur Wiedergabe auf nordkirche.de. (dg)

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