Die Geschichte von "Paule Kiel"

Ein Wühler und Arbeiter

"Paule Kiel", in den 1990er Jahren HEMPELS-Verkäufer, hat sich neu erfunden. „Eurobecher Nord“ heißt sein vergangenen Herbst gegründetes Ein-Mann-Unternehmen.
"Paule Kiel", in den 1990er Jahren HEMPELS-Verkäufer, hat sich neu erfunden. „Eurobecher Nord“ heißt sein vergangenen Herbst gegründetes Ein-Mann-Unternehmen. © Heidi Klinner-Krautwald, HEMPELS

02. August 2012 von Doreen Gliemann

Schon als Kind hat Roland „Paule“ Carstens die Ungerechtigkeiten des Lebens gespürt, aufgegeben hat er nie. Heute ist der frühere HEMPELS-Verkäufer sein eigenes Ein-Mann-Unternehmen. Still dasitzen und nichts tun, ist seine Sache nicht. „Bequemlichkeit ist mein größter Feind“, hat Roland Carstens mal gesagt, um den es in dieser Geschichte gehen soll, und so ist er stets in Bewegung, baut, räumt auf, sammelt ein.

Fast scheint es, als bündele sich in seiner Person ein ganzer Ameisenschwarm, der unentwegt schafft und gestaltet. Früher ist der heute 47-Jährige, der Ende der 1990er Jahre als HEMPELS-Verkäufer arbeitete, mit seinem Fahrrad durch Kiel gefahren und hat Schrott eingesammelt, den andere Menschen achtlos weggeworfen hatten.

Der Schutz der Umwelt war ihm schon immer ein Anliegen. Und wenn irgendwann wieder ein paar Kilo Cola-Dosen-Verschlüsse von den Straßen aufgesammelt waren, konnte er mit dem Weiterverkauf des Aluminiums sogar etwas Geld einnehmen. Über die Jahre hat er, der Sammler, Bastler und Arbeiter, es geschafft, sich einen eigenen kleinen Betrieb zu erwirtschaften, mit dem er mittlerweile auch einige Aufräumaufträge für größere Firmen übernommen hat.

„Eurobecher Nord“ heißt sein vergangenen Herbst gegründetes Ein-Mann-Unternehmen. Schrott und andere Hinterlassenschaften der Wegwerfgesellschaft sammelt Carstens bis auf den Tag ein, um sie weiterzuverwerten. Außerdem führt er inzwischen Umzüge und Materialtransporte durch, „für die kleinen Leute zum Selbstkostenpreis.“ Zum Selbstkostenpreis? „Ja, natürlich“, antwortet er, „ich komme selbst von ganz unten und habe es geschafft, mit eigener Arbeit was auf die Beine zu stellen. Deshalb will ich anderen kleinen Leuten weiter zur Verfügung stehen.“

In der Tat ist Roland Carstens Lebensgeschichte sehr ungewöhnlich. Und dass ihn in Kiel zwar viele Menschen kennen, aber kaum jemand unter seinem tatsächlichen Namen, ist Teil seiner besonderen Biografie. Paule wird er überall nur genannt, manchmal auch „Paule Kiel“. Er hat sich diesen Namen selbst zugelegt, nachdem er als 16-Jähriger von Berlin aus in ein Heim in die schleswig-holsteinische Landeshauptstadt gekommen war.

Paule, wie auch wir ihn im weiteren Verlauf dieser Geschichte nennen wollen, war von seinen überforderten Eltern schon als Säugling in ein Heim abgeschoben worden. Wärme und Geborgenheit hat er weder dort noch in später stetig wechselnden Pflegefamilien erfahren. „Meine Kindheit war extrem“, blickt er heute auf diese Zeit zurück, „ich habe vom ersten Tag meines Denkens an die ganze Ungerechtigkeit und Verlogenheit gespürt, die das Leben bereithalten kann.“

Als verlogen hat er die Erwachsenen wahrgenommen, die ihn emotional in seinem Alltag begleiten sollten, ungerecht war für ihn, nicht behütet wie andere Kinder leben zu können. Als Zwölfjähriger hat er es das erste Mal nicht mehr ausgehalten und sich ein paar Wochen lang draußen auf den Straßen aufgehalten. Eine Zeit lang auch hat er in Kaufhäusern geklaut, „um mich selbst zu entschädigen und um endlich normal untergebracht zu werden.“ Schon damals hatte er sich viel vorgenommen,ohne es bereits in Worte fassen zu können. Er wollte einfach weg aus dem gewohnten Alltag, wollte nichts weniger, als dem Leben eine andere Richtung geben: Es muss gehen, hat er damals gehofft. Irgendwie. Aber wie? Dass man ihn 1981 aus seiner damaligen Pflegefamilie in Berlin herausnahm und in Kiel ein neuer Abschnitt für ihn begann, stellt im Rückblick für Paule die entscheidende Wende dar. Hier fand er Voraussetzungen, um den Hauptschulabschluss zu machen. Und seither wühlt und arbeitet er Tag um Tag, „weil ich weiterhin mein Gewissen beruhigen muss und weil man sich besser fühlt, wenn man was zu tun hat.“

Es war ein langer Weg, den Paule in den vergangenen Jahren gegangen ist und auf dem er weiterhin unterwegs ist, und vielleicht wird der ihn auch nie dorthin führen, wohin Wege in der Vorstellung anderer Menschen führen sollten. Reich wird er wohl nie werden mit dem was er macht, trotz des alten Opel Astra und der zwei Gebrauchthänger, die er sich in den vergangenen Jahren vom Mund abgespart hat, um den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Sein Zuhause ist bis heute das gleiche 13 Quadratmeter große Zimmer wie schon vor 25 Jahren, ohne Bad, mit Toilette auf halber Treppe und selbst eingebauter Kochecke. Neu sind inzwischen ein paar Meter Gewerbefläche, um Hämmer, Sägen, Bohrer oder recyceltes Altmaterial lagern zu können. Wichtig ist ihm, sich in einem „System des Selbermachens“ bewegen zu können, wie er es nennt. „Ich habe schon immer im Format der kleinen Leute gelebt“, sagt Paule, „das will ich weiterhin.“ Deshalb bietet er seine Arbeit auch dann an, wenn für ihn kaum Gewinn übrig bleibt.

Als Kämpfer, so wie er sich sieht, ist er es schließlich gewohnt, nie aufzugeben. „Die Software in mir ist zum Glück kaum veränderbar“, sagt Paule. Eine Software, die auf Aktion und Kreativität programmiert ist, um den Alltag zu bestehen. Und in der es überhaupt keinen Speicherplatz für irgendwie geartete Bequemlichkeit gibt.

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Gastbeitrag von Peter Brandhorst, Redaktionsleiter des Kieler Straßenmagazins HEMPELS -  Erschienen Juli-Heft. Das Magazin ist Mitglied im Internationalen Netzwerk der Straßenzeitungen sowie im forum sozial e.V. HEMPELS gibt es in Kiel und in vielen Städten im Raum Schleswig-Holstein.

Foto von Heidi Klinner-Krautwald

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