Erinnerungen im Erzählcafé: Kindsein im Zweiten Weltkrieg
11. November 2013
Lübeck. "Bin ich hier richtig, wenn ich erzählen möchte?", fragt Edith Vahl, während sie mit ihrem Rollator in die Kapelle von St. Marien in Lübeck kommt. Bevor sie sich setzt, sprudelt es schon aus der 88-Jährigen heraus: "Ich bin 1945 verschleppt worden und war zwei Jahre in Russland im Lager." Vahl ist Besucherin des Erzählcafés und der Ausstellung "Bruchstücke - Kindsein und der Zweite Weltkrieg", die der Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg organisiert hat. Sie läuft über zwei Wochen und endet mit einem großen Gottesdienst am Volkstrauertag (17. November).
Das Erzählcafé ist Grundlage für die Ausstellung. Denn zur Eröffnung waren die großen Stellwände unter der Orgelempore komplett leer. Gefüllt werden sie mit den Erinnerungen der Besucher: Das können Erzählungen und Berichte sein, aber auch mitgebrachte Gegenstände und Erinnerungsstücke. Während der Öffnungszeiten stehen Mitarbeiter der Lübecker Telefonseelsorge, Historiker und Marien-Pastorin Annegret Wegner-Braun zur Verfügung. Sie protokollieren die Erzählungen und fotografieren mitgebrachte Gegenstände vor Ort. Anschließend druckt ein Techniker alles aus und heftet es an die Stellwände. Kopierer, Arbeitsplätze mit Laptop und eine Stativ mit Kamera sind als provisorische Werkstatt in der schummrigen Kapelle aufgebaut.
Erinnerungen von Besuchern füllen die Lübecker Ausstellung "Bruchstücke"
Auch Edith Vahl hat ein Erinnerungsstück mitgebracht: ein abgegriffenes Holzbrett in Postkartengröße, auf das mit kräftigem Bleistiftstrich Baracken, ein Turm und im Hintergrund Wald und Vögel gezeichnet sind. "Das hat ein Mann im Kriegsgefangenenlager in Russland für mich gemacht", erzählt sie. 1945 wurde die damals 20-jährige Gutssekretärin verschleppt und verbrachte knapp zwei Jahre in einem Lager nahe der Stadt Welsk. Zusätzlich hält sie eine Kladde in den Händen, dicht beschrieben mit ihren Erinnerungen.
Die Idee zur Ausstellung kam der Leiterin der Lübecker Telefonseelsorge, Marion Böhrk-Martin, bei einer Recherche. Anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Einrichtung 2010 forschte sie in den Archiven und entdeckte immer wiederkehrende Verhaltensmuster speziell in der Kriegskinder-Generation des Zweiten Weltkriegs. Der Austausch mit Kollegen aus Italien, Frankreich und Großbritannien ergab: Die kennen diese Probleme so nicht. "Es lässt sich also höchstwahrscheinlich auf die deutsche Vergangenheit zurückführen", sagt Böhrk-Martin.
Immer wiederkehrende Verhaltensmuster speziell in der Kriegskinder-Generation
Sie lud zu einer Fachtagung, und das Echo war gewaltig: "Wir haben gemerkt: Das Thema ist dran", sagt sie. "Wir Pastoren haben diese Geschichten zwar schon immer gehört, aber der öffentliche Raum war bisher nicht dafür da." Inzwischen war auch Pröpstin Petra Kallies mit im Boot. Gemeinsam entstand die Idee zu einem Gottesdienst speziell für ehemalige Kriegskinder.
Dieser Gottesdienst wird nun eingeleitet durch eine zweiwöchige Projektzeit - das Erzählcafé und die Ausstellung in St. Marien. Böhrk-Martin sieht es als "Vehikel, um ins Reden zu kommen." Die Menschen dürfen im Erzählcafé reden, sagt die Pastorin. Zuhause seien Erinnerungen oft auf Abenteuergeschichten aus dem Krieg reduziert. "Oder es heißt: Ach, du mit deinen alten Kamellen!"
Auch Ruth Prüser, Jahrgang 1927, möchte ihre Geschichte erzählen. "Ich war zu Kriegsbeginn zwölf Jahre alt", beginnt sie. Von der Flucht aus Pommern träume sie heute noch regelmäßig. Davon, wie die Familie vor den Russen floh, "Koffer und Taschen haben wir am ersten Tag gleich verloren, es ging nur noch ums nackte Überleben." Einzig das Tafelsilber, das ihre Eltern zur Hochzeit bekommen hatten, nahmen sie mit. "Jeder von uns hatte ein Besteck in der Manteltasche, das habe ich noch heute und benutze es." Sie findet es schön, dass ihr hier auch jüngere Leute zuhören. Und vielleicht komme sie im Erzählcafé auch mit anderen ins Gespräch, die ähnliches erlebt haben.
Gottesdienst speziell für ehemalige Kriegskinder zum Abschluss
Pastorin Wegner-Braun bekommt durch die Gespräche einen völlig neuen Blick auf ihre Arbeitsstätte: Viele Besucher erzählen von ihren Erinnerungen an die schwere Bombardierung der Lübecker Innenstadt und St. Marien in der Nacht vom 28./29. März 1942. "Wenn ich anschließend aus der Kirche trete, habe ich ein ganz anderes Empfinden der Umgebung."
Info:
Die Ausstellung unter der Orgelempore ist bis Sonnabend, 16. November, täglich geöffnet von 10 bis 17 Uhr.
Das Erzählcafé in der Briefkapelle öffnet bis Freitag, 15. November, täglich von 15 bis 17 Uhr.
Der Abschluss-Gottesdienst ist am Sonntag, 17. November, um 15 Uhr.
Der Besuch der Ausstellung ist kostenlos, und der Marientaler ist nicht fällig.
Ort: St. Marien zu Lübeck (Innenstadt), Marienkirchhof, 23552 Lübeck