26. Februar 2015 | 10. Tagung der Landessynode, Travemünde

Können wir noch Demut?

26. Februar 2015 von Gerhard Ulrich

Bericht des Landesbischofs auf der Tagung der 10. Landessynode zum Thema "Wie hast du’s mit der Religion?"

I. Religion in der Verfassung?

„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ (J. W. v. Goethe, Faust, Der Tragödie erster Teil, Vers 3.415) – das ist sie, die Gretchenfrage. Sie ist nicht nur Teil des bürgerlichen Bildungskanons, sondern ist immer noch oder wieder einmal eine sehr aktuelle Frage – persönlich, gesellschaftlich, politisch und kirchlich.

„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ – für uns in der Nordkirche, besonders im Sprengel Schleswig und Holstein, ist diese Frage mit der Diskussion um einen Gottesbezug in der Präambel einer neuen Landesverfassung akut geworden. Im Oktober 2014 hat der Landtag darüber abgestimmt, und im Vorfeld gab es eine breite öffentliche Diskussion dazu. Sie, liebe Synodale, haben vor einem Jahr dazu eine Stellungnahme verabschiedet, in der es u. a. heißt: Auf Grund unseres christlichen Glaubens, aber auch im Blick auf die geschichtlichen Erfahrungen in Deutschland wünsche die Nordkirche „den Hinweis auf die Grenzen und Schranken allen menschlichen Handelns, auf die Weltlichkeit, Fehlbarkeit und Endlichkeit einer demokratischen Verfassung“. Gute Gründe sprechen für einen Gottesbezug in der Verfassung. Und wir haben in verschiedensten Formen und Foren uns dafür eingesetzt, dass diese Gründe gehört und verstanden werden und zum Tragen kommen. Viel Einsatz. Aber am Ende haben die Anträge für einen Gottesbezug die notwendige Mehrheit klar verfehlt.

„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ – also als Teil der Schleswig-Holsteinischen Verfassung ist ein solcher Verweis offensichtlich nicht mehrheitsfähig. Heißt das: Auch als Teil von gesellschaft­lichem Meinungsbildungs­prozess? Als Motivation und Grundlage von Politik? Das ist, glaube ich, nicht so klar. Ich habe noch sehr deutlich ein Statement im Ohr, aus der Diskussion: „Mir persönlich ist der Glauben sehr wichtig, auch in meinem gesellschaftspolitischen Engagement“, sagte da eine. „Ich bin Mitglied der Nordkirche und kann mit Bibel und kirchlichen Traditionen viel anfangen. Aber ich bin gegen den Gottesbezug, denn die Verfassung gilt ja für alle Menschen in unserem Bundesland.“ Eigentlich eine merkwürdige Schizophrenie – persönlich überzeugt, aber bei einer persönlichen Entscheidung nicht leitend.

Es ist offensichtlich unklar – wie wollen wir uns stellen zu religiöser und weltanschaulicher Vielfalt in unserem Land?

Direkt nach der Abstimmung im Landtag waren wir natürlich enttäuscht und sind seitdem in intensiven Gesprächen und Diskussionen in den Gemeinden und mit der katholischen Kirche. Ich meine, dass wir notwendig zögerlich waren. Weil es auf der einen Seite nicht schlicht und einfach ist mit den Antworten auf die Frage nach der Religion, bei der sich alte Antwortmuster überlebt haben.

Aber andererseits müssen wir uns eben auch klarmachen: Es geht hier wirklich um die Gretchenfrage – nämlich darum, ob wir wissen oder ahnen, dass unser Leben und die Welt nicht aufgeht in dem, was wir sehen und tun und können; ob wir es aushalten können, dass nicht alles verfügbar ist und machbar?! Altmodisch gesprochen: Können wir noch „Demut“? Es ist die Mission der Kirchen, dass sie Gott bekannt machen in der Welt, ihn in die Herzen bringen. Dass sie laut bezeugen, was uns ins Herz geschrieben ist.

Darin müssen wir uns kritisch befragen als große Volksbewegung, die in Unterricht und Seelsorge, in Diakonie und Gemeinden, zumal in ihren Gottesdiensten davon spricht, was es heißt, wenn Gott in der Gesellschaft zu Hause ist und das Leben regiert: Ob wir in der Bezeugung der frohen Botschaft zu mutlos sind und zu ängstlich?


II. Kirchenmitgliedschaft und Glaubensüberzeugung

Auch in der Auseinandersetzung um den Gottesbezug wird mit Austritt gedroht – ich empfinde die Drohung oft wie einen Keulenschlag. Leute drohen – per Leserbrief oder per E-mail, per Telefon oder anonym – mit Kirchenaustritt oder vollziehen ihn auch. Die einen, weil Kirche sich etwas herausnimmt, was angeblich zu einem modernen Staat nicht passt. Die anderen, weil Kirche sich gegenüber dem modernen Staat angeblich gar nichts mehr herausnimmt, sondern sich immer schön anpasst und dadurch Identität verliert.

Mich bedrückt das sehr. Und es macht mich auch ärgerlich, weil ich denke: Was haben wir eigentlich innerkirchlich für eine Diskussionskultur, wenn man über Meinungen nicht streiten kann, ohne sich gleich die Gemeinschaft aufzukündigen?!

Aber mehr noch bedrückt es mich, wenn es noch aus ganz anderen Gründen zum Kirchenaustritt kommt, nämlich aufgrund von unverständlichen Formulierungen auf dem Kontoauszug. Da wurde das Einzugsverfahren für die Kirchensteuer auf Kapitalerträge automatisiert. Technisch umgestellt. Im Grunde gerechter gemacht, weil nun alle die Beiträge, die sie immer schon zu zahlen hatten, jetzt auch wirklich automatisch zahlen mussten und müssen. Auf vielen Kontoauszügen war das zu lesen – und möglicherweise wird sich das alljährlich wiederholen. Juristisch korrekt, aber inhaltlich lieblos und unverständlich. Vielleicht verkürzen deshalb viele die wirren Informationen innerlich auf eine einzige Frage: „Wie hast du’s mit der Religion?“, oder genauer: Wieviel hast du für die Religion, für deine Kirchenmitgliedschaft, übrig? Und die Antwort ist oft: Also, so viel nun auch nicht.

Schmerzlich spüren vor allem die Kirchengemeinden vor Ort die Welle der Kirchenaustritte. Und schmerzlich müssen wir erkennen: Zum Teil ist die Bindung an unsere Kirche so locker, dass manchmal nur sehr wenige Euro ausreichen, um diese Bindung zu kappen. Weil es so selbstverständlich erscheint, die Frage nach der Religion von der Frage nach der Kirche zu trennen. Und wenn ein solches Denken für Menschen außerhalb der Kirche noch plausibel sein mag, so ist doch die Frage, die wir uns als Kirchenmitglieder stellen müssen: Wie sehen wir das denn wirklich? Wie wollen wir es sehen? Gibt es für uns einen tragenden Grund für Kirche auch als Organisation? Hat der eigene Glaube etwas damit zu tun, in der Kirche zu sein oder umgekehrt: Hat das In-der-Kirche-Sein etwas mit Glauben zu tun oder nur damit, dass ich noch nicht gemerkt habe, was es mich an Geld kostet? Wer ist Kirche – die anderen, die Engagierten im Kirchengemeinderat oder in der Frauenhilfe? Die, die immer im Gottesdienst sind, die Pastorinnen und Pastoren und der Kirchenmusiker? Oder bin ich selbst Kirche, mit anderen zusammen? Wer gehört dazu? Wer soll dazu gehören?

„Ich glaube an den Heiligen Geist, die Heilige, christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen…“: Der Glaube bleibt nicht für sich allein. Er drängt in die Gemeinschaft, lebt in ihr und von ihr und mit ihr. Der Heilige Geist ist ein Beziehungsstifter.

In der Debatte um ein neues Kirchenmitgliedschaftsrecht, die wir möglicherweise schon im November führen, werden Sie, liebe Synodale, diese Frage unmittelbar vor sich auf dem Tisch sehen und darauf eine Antwort geben. Und diese Antwort wird eingebunden sein in die Fragen nach der Zukunft der Ortsgemeinde und in die Fragen, die sich mit einer Überarbeitung des Hauptbereichsgesetzes für die Dienste und Werke ergeben. „Wie hast du’s mit deiner Religion, mit deiner Kirche?“ – das wird eine Grundfrage sein, an der sich die Zukunft unserer Nordkirche ganz wesentlich entscheidet.

An vielen Stellen erlebe ich, dass wir der Frage nach unserer eigenen Glaubensüberzeugung und Glaubenserfahrung ausweichen. Da wird über Vieles und Wichtiges heiß diskutiert; aber stellt einer die Gretchenfrage nach dem eigenen Glauben beim Thema, dann wird die Rede unsicher, die Stimme leiser und die Formulierung vorsichtiger.

Mir steht noch sehr vor Augen, wie wir in der Ersten Kirchenleitung vor kurzem über die Freihandelsabkommen TTIP und CETA gesprochen haben. Auf inhaltlich sehr hohem Niveau, gut informiert und im Bewusstsein, dass es sich hier um eine wichtige politische und gesellschaftlichen Thematik handelt. Aber im Verlauf der Diskussion bin ich immer unruhiger geworden, weil ich gedacht habe: Was hat unsere Haltung als  Kirche dazu eigentlich mit meinem Glauben zu tun? Lassen sich die Fragen, die da gestellt, und die Antworten, die angeboten werden, eigentlich rückbinden an den Grund unseres Glaubens und Lebens?

Und als dann in der Debatte die These auftauchte, dass Kirche vor allem die moralische, die ethische Komponente in die wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen einzutragen habe, bin ich etwas geplatzt. Weil ich gesagt habe: Wir als Kirche sind nicht nur eine Institution zur Verteidigung von Moral; Kirche ist keine Ethik-Agentur allein. Den moralischen Zeigefinger zu heben und nur zu sagen, was Leitartikler der „Süddeutschen“ auch schon vielfach geschrieben haben, darin geht die Aufgabe der Kirche nicht auf. Sondern wir müssen doch davon reden, was unser Glaube dazu sagt. Müssen also nach dem Menschenbild fragen, das im Hintergrund solcher Lobbydebatten wie der TTIP-Diskussion steht. Müssen danach fragen, welcher Begriff von Freiheit eigentlich im „Frei“-Handelsabkommen gemeint ist und wie sich der zur Freiheit eines Christenmenschen verhält.

Wie hast du’s mit der Religion? – das heißt eben auch: Wie verantwortest Du Deine Antworten auf die Fragen des täglichen Lebens vor Deinem Gott und Deinem Glauben.

Das ist mir wichtig, liebe Schwestern und Brüder – dass es uns in den kommenden Jahren um mehr gehen muss als nur um die Stabilisierung unserer Organisation und die Optimierung unser Strukturen. Dass wir Kirche sein wollen, weil wir „es mit der Religion“ haben und weil Gott etwas „mit uns hat“.

Der erste große Prüfstein, bei dem das relevant wird, ist für mich die „Zukunft der Ortsgemeinde“. Dieses Thema steht für den September auf unserer Agenda – und die Herausforderungen dabei sind in der Tat groß. Vor allem, weil wir den rasanten Wandel der Wirklichkeit von Gemeinde und Gemeinden in den letzten Jahren zur Kenntnis nehmen müssen. Das fängt damit an, dass wir uns deutlicher als früher vor Augen halten müssen: Wenn wir von Gemeinde reden, dann ist nicht notwendig nur die Ortsgemeinde gemeint. Dann kommen auch die Dienste und Werke in den Blick, die in ihrer Arbeit zwar auf die Gemeinden vor Ort bezogen sind, aber daneben auch selbst Gemeinde sind – weil auch in ihnen Versammlung von Gläubigen stattfindet, „bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“ (CA VII). Viele Menschen haben in den Jahren Zugang zu ihrer Kirche (neu) gefunden über die Gemeinden der Dienste und Werke.

Noch deutlicher hat sich das Bild verändert durch die Möglichkeiten verstärkter Zusammenarbeit, durch verschiedene Formen der Regionalisierung bis hin zur Fusion von Gemeinden. Das erweitert den Horizont und macht die Wirklichkeit bunter. Dabei lässt sich natürlich eine verstärkte Zusammenarbeit in einigen Bereichen, etwa im städtischen Kontext, leichter realisieren als in dünn besiedelten Gebieten. Und wenn formal z. B. eine Fusion beschlossen ist, dann fängt die Arbeit ja erst an. Dann müssen Gebäudenutzungspläne aufgestellt und umgesetzt werden. Dann müssen Arbeitsbereiche neu zugeschnitten werden – inklusive des Streits darüber, in welcher Predigtstätte der gemeinsame Kirchenmusiker die meiste Zeit verbringt. Dann muss man Abschied nehmen von liebgewonnenen Gewohnheiten und vertrauten Traditionen. Dann schwindet unter Umständen auch das Bewusstsein von Kirchenmitgliedern und anderen für „die Gemeinde“. Bestimme Orte werden wichtiger, etwa stimmungsvolle Kirchen, oder bestimmte Personen, z. B. der charismatische Jugendmitarbeiter.

Wie behalten wir unter diesen vielfältigen Neuerungen und Umstellungen den Bezug zur „Religion“, zu dem, was uns eigentlich antreibt? Neben dem Dorf oder Stadtteil als Horizont kirchengemeindlicher Arbeit rückt das Quartier ins Blickfeld oder – wie es etwa vor allem in der Tradition der ehemaligen Mecklenburgischen Landeskirche erprobte und erfolgreiche Praxis ist – die Region. Es wird verstärkt wahrgenommen, wie unterschiedlich die Situationen in den einzelnen Bereichen unserer Landeskirche sind, und eine Frage für die „Zukunft der Ortsgemeinde“ wird sein: Wie gehen wir mit dieser bunten Vielfalt um? Wie viel Freiraum für eigene Ideen und Entwicklungen wollen wir einander geben? Aber auch: Welche Gelegenheiten gibt es, bei denen sich alle, die sich engagieren, ihres gemeinsamen Grundes versichern? Und wird im Blick sein, wie wichtig es ist, dass wir immer wieder um die Formulierung des gemeinsamen Auftrages im jeweiligen Kontext ringen?

„Wie hast du’s mit der Religion?“ – der Gretchenfrage werden wir nicht ausweichen können,  davon bin ich überzeugt. Und sie wird sich nicht nur in der distanzierten Allgemeinheit stellen, wie sie die klassische Form vorgibt. Sondern sie wird konkret werden und lauten: Wie hast du’s mit der Zugehörigkeit zur Kirche, die etwas kostet? Wie hast du’s mit der Mitarbeit in der Gemeinde? Wie hast du’s mit deinem persönlichen Glauben? Wie hast du’s mit Freiheit und Bindung?!


III. Loyalität in Wechselseitigkeit

„Wie hast du’s mit der Religion?“ – diese Frage hat im zurückliegenden Berichtszeitraum aber auch in einem anderen Bereich an Bedeutung gewonnen, nämlich bei den Überlegungen zur Thematik „Arbeit und Recht“. Auch das ist ja ein Thema, das uns als Nordkirche intensiv beschäftigen wird. Und in diesem Zusammenhang zeigt sich die Gretchenfrage als „Einstellungsfrage“ im doppelten Sinn: Ganz buchstäblich als Frage an eine Arbeitnehmerin, einen Arbeitnehmer. „Wie hast du’s mit der Religion?“ Gehörst Du einer der Gliedkirchen der EKD an und erfüllst damit die Anforderungen der Loyalitätsrichtlinie? Oder bist Du Mitglied einer ACK-Kirche, damit wir ein Auge zudrücken können? Oder bist Du der Erzieher, den wir gerade unbedingt und händeringend suchen, ohne den wir die Kita schließen müssen – dann kannst Du’s mit der Religion halten wie Du willst. Oder doch nicht?

Die Kirchenmitgliedschaft als formales Kriterium für Anstellungs­fähigkeit – darum gibt es mittlerweile eine breite Debatte. Weil der nüchterne Blick auf die Verhältnisse deutlich macht:  Es ist mancherorts nicht mehr die Regel, dass die Loyalitätsrichtlinie noch angewandt wird – im Osten unserer Landeskirche nicht, aber auch im Westen mit vielen Ausnahmen, die in der Regel gut begründet sind. Aber nicht nur aufgrund der normativen Kraft des Faktischen sind an dieser Stelle die Dinge in Bewegung geraten. Sondern, weil die Frage nach der Religion eben auch eine Einstellungsfrage in anderer Hinsicht ist – nämlich insofern es um innere Einstellungen, um Überzeugung, um Glauben geht. Es geht ja auch darum, die Sprachfähigkeit des Glaubens auf den unterschiedlichen Ebenen eines Unternehmens oder einer Einrichtung zu stärken, und das bedeutet, dass wir Leute im Unternehmen brauchen, die selbst sprachfähig sind und den Glauben sprachfähig machen können.

Und da reicht es mir zur Identifizierung eines Unternehmens als christliches eben nicht aus, wenn man die „Gründungsmythen“ des Christentums bewahrt, also so eine Art „Gedenkstätte des Christlichen“ ist, indem man eine Kapelle vorhält und sich im Leitbild auf die christlichen Traditionen bezieht. Auch christliche Unternehmen in Kirche und Diakonie sollen dem einen Auftrag des Herrn folgen, dem der Verkündigung nämlich in Wort und Tat. Christliche Unternehmen sind Erzählgemeinschaften – nicht anders als Kirche überhaupt. Loyalität jedenfalls darf es nur auf Gegenseitigkeit geben. Auch wir schulden denen eine Loyalität, die bei uns arbeiten, die Loyalität der Bildung nämlich und der Begeisterung für die Sache. Wir schulden ihnen, dass wir ihnen weitergeben die Loyalität, mit der Gott uns begegnet, mit der er uns an sich bindet in aller Freiheit!

Wenn wir also nach einem neuen Verständnis von Loyalität und Kirchenzugehörigkeit suchen – einem Verständnis nämlich, das sich gleichermaßen auf die Mitarbeitenden und die Unternehmen richtet – dann werden wir einerseits wieder sehr deutlich auf unsere Bindung verwiesen – die Bindung nämlich an Gott und sein Evangelium, die Bindung an die missio dei, die darin besteht, dass Gott will, dass allen Menschen geholfen werde (1. Tim 2,4); und andererseits werden wir auf unsere Freiheit verwiesen – eine Freiheit, in der wir offen sein können auch für nichtkirchliche oder sogar nichtchristliche Menschen in unseren Reihen, in unseren Diensten und Einrichtungen. Weil wir um die einende Kraft des Einen wissen, können wir auch die Vielfalt leben.

An dieser Stelle will ich es bei dem Hinweis auf die theologische Dimension der Thematik „Arbeit und Recht“ belassen – wohl wissend, dass es daneben sehr viele und komplexe rechtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge gibt, die berücksichtigt werden müssen. Aber wichtig ist für mich: Die Gretchenfrage ist aus meiner Sicht auch an dieser Stelle wirklich eine Gretchenfrage, also eine direkte, an den Kern der Sache gehende Frage.


IV. „Integration“ im Zeichen des Kreuzes Jesu

Wir müssen energisch zu den Inhalten unseres Glaubens kommen, weil sich an den Inhalten unsere Zukunft als Kirche nach innen und außen entscheidet.

Und – und das ist ja in den letzten Monaten auf dramatische Art und Weise deutlich geworden – weil sich an der Frage nach Religion auch gesellschaftliche Zukunft entscheidet.

Seit Ende letzten Jahres marschiert „Pegida“ – die angeblichen Patrioten, die gegen eine Islamisierung des Abendlandes mobil machen. Es heißt zwar nicht ausdrücklich „Christliches Abendland“, aber schwarz-rot-goldene Kreuze werden trotzdem dabei herum getragen. Nun sind die „Pegida“-Leute ja keine religiösen Demonstranten, aber die Demonstrationen rücken die Gretchenfrage eben doch wieder ins öffentliche Bewusstsein.

Für mich steht fest: Wir müssen uns deutlich gegen Religion als „Schlag“-Wort stellen, in welchem Zusammenhang es auch immer so missbraucht wird. Wir müssen als Christen und Kirche deutlich machen: Das Kreuz Jesu Christi hat keine Nationalfarben. Der christliche Glaube bekennt sich zu dem Jesus Christus, der sagt: „Ich bin ein Fremder gewesen“. Und der im Blick auf seine Anhänger sagt: „…und ihr habt mich aufgenommen“. In unserem Umgang mit Flüchtlingen sind wir als Christenmenschen gebunden durch Gottes Wort. Da darf es kein Missverstehen geben. Sie sind uns willkommen. Ich schließe mich dem katholischen Bischof aus Hildesheim, Norbert Trelle, an, der gesagt hat: „Wer gegen Flüchtlinge, Fremde, Migranten und Menschen anderer Hautfarbe hetzt, der hat die Kirche gegen sich.“

Und ich bin dankbar für die vielen Initiativen in unseren Gemeinden und Kommunen und vor allem auch in der Diakonie, die sich verstärkt für Flüchtlinge engagieren, Türen öffnen, teilen, willkommen heißen. Deshalb freue ich mich sehr, dass die Steuerungsgruppe des Hauptbereiches 4 vor kurzem den Beschluss gefasst hat, aus den Mitteln des Kirchlichen Entwicklungsdienstes (KED) jedem Kirchenkreis einen Personalkostenzuschuss für eine/n hauptamtlichen Flüchtlingsbeauftragte/n in Höhe von 50.000 € pro Jahr für 5 Jahre anzubieten. Es geht dabei um ein Gesamtvolumen von 3,25 Millionen €. Damit sollen die Haupt- und Ehrenamtlichen, die sich in dieser Arbeit engagieren, unterstützt und qualifiziert werden. Die Kirchengemeinden sollen beraten und begleitet werden. Das ist eine richtige, die passende und notwendige Antwort auf die Ängste vor Überfremdung. Und das macht uns zu Christenmenschen – dass wir Christus  in dem Menschen erkennen, dem es am Nötigsten zum Leben fehlt – Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf. Der also sucht vor allem: offene Arme, die ihn willkommen heißen.

Das Kreuz Christi, unter dem unsere Kirche steht, weist auf den hin, der ans Kreuz genagelt worden ist, weil er für eine offene Gemeinschaft gelebt hat. Weil er aufgenommen hat bei sich die, die nicht wussten wohin; weil er die Kranken und Aussätzigen an seinen Tisch geholt und ihre Tischgemeinschaft gesucht hat. Dafür ist er am Kreuz gestorben. Und deshalb ist das Kreuz Christi ein Zeichen der Hoffnung, das Gemeinschaft und Frieden verkündet. Das Kreuz ist auch ein Zeichen für einen besonderen Schutzraum. Deswegen werden wir weiterhin sehr deutlich und eindeutig für die Möglichkeit des Kirchenasyls eintreten.

Ich bin sehr froh und zolle Respekt, dass Bundesinnenminister Thomas de Maizière gestern in Interviews seine scharfe Kritik am Kirchenasyl, vor allem den Vergleich mit der Scharia, zurückgenommen hat. Das Kirchenasyl ist eine wichtige Einrichtung und es ist gut, dass auch der Innenminister das nicht mehr grundsätzlich infrage stellt. Durch das Kirchenasyl wird die Gültigkeit des Rechts nicht in Frage gestellt. Das Kirchenasyl ist keine Kampfansage an den Rechtsstaat. Vielmehr wird durch das Kirchenasyl bei bestimmten humanitären Einzelfällen und in besonderen Situationen das geschützt, dem auch das Recht dienen soll und muss – nämlich die unantastbare Würde von Menschen. Die Adenauer-Stiftung nennt das Kirchenasyl einen „Akt christlicher Barmherzigkeit“. Im Hintergrund steht dabei die fundamentale Einsicht, dass auch der Staat irren kann. Die Auslegung von Bestimmungen der Dublin III-Verordnung  durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dahingehend, die Personen, die im Kirchenasyl sind, als flüchtig anzusehen, kann ich deshalb in keiner Weise nachvollziehen und ich bin zuversichtlich, dass in den anstehenden Gesprächen gute Lösungen gefunden werden.

Es ist klar, dass unsere Gemeinden in dieser Hinsicht gute Beratung brauchen – und auch bekommen. Der Kirchenkreis Mecklenburg z. B. hat eine Handreichung entwickelt, die Gemeinden in Situationen des Kirchenasyls hilft.

In den letzten Jahren ist viel von „Integration“ die Rede gewesen. Aber im Blick auf „Pegida“ stehen wir nun offensichtlich vor einer ganz anderen Herausforderung, nämlich jene zu integrieren, die abgehängt worden sind. Was wir in Dresden, aber ja auch in anderen Zusammenhängen sehen, macht eine erschreckende und eklatante Schwäche der Institutionen deutlich – der Parteien, der Parlamente, der staatlichen Organe – und der Kirchen natürlich auch. Eine Unwissenheit im Blick auf politische demokratische Prozesse. Eine Kapitulation vor der Komplexität gesellschaftlicher Vorgänge, die nicht mehr begriffen werden.

Mir hat deshalb eingeleuchtet, was Ministerpräsident Tillich in Sachsen versucht hat: Dass er im Januar zu einer Diskussion mit denen, die in den Demonstrationen mitlaufen, eingeladen hat – im Dresdener Kongresszentrum an 50 Tischen haben er und Mitglieder der Regierung eineinhalb Stunden lang mit den Leuten diskutiert und gestritten. Ein Dialogforum, zu dem man sicher diese oder jene Meinung haben kann. Aber dass es für den Dialog ein Forum braucht, das auch denen gerecht wird, die im Dialog ungeübt sind, das ist eine naheliegende Vermutung. Und vielleicht haben wir als Kirche hier ja eine wichtige Aufgabe – ein Ort zu sein, wo milieuübergreifend gesprochen und gestritten werden kann; und zwar so, dass unsere Werte wie Barmherzigkeit, Vergebung, Gnade und ein Bild vom Menschen, das die Beziehungsfähigkeit und Beziehungsbedürftigkeit in den Vordergrund rückt, immer mit im Spiel sind.


V. Zum Gewalt- und Friedenspotential der Religion

Noch dramatischer als bei den innenpolitischen Vorgängen um „Pegida“ ist das Thema Religion durch die Anschläge in Paris, auf die Redaktion von Charlie Hebdo, auf Polizeibeamte und Menschen in einem jüdischen Supermarkt, und in Kopenhagen, auf ein Kulturzentrum und eine Synagoge, in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Natürlich zunächst unter der Überschrift „Terrorismus und Fundamentalismus“. Aber doch zunehmend auch mit der Frage nach dem Zusammen­leben der Religionen. Oft einzig und allein nach der Demokratiekompatibilität des Islam. Aber implizit dadurch auch als Anfrage an uns als Kirche. Wie stehen wir konkret zum Islam? Und blickt man über die engen deutschen und europäischen Grenzen hinweg, dann wird deutlich: Kirche ist unmittelbar betroffen. Kirchen brennen in Nigeria. Christen im Irak und in Syrien werden durch den IS vertrieben und getötet. „Wie hast du’s mit der Religion?“ – diese Frage kann zur mörderischen Parole werden, Menschenwürde mit Füßen treten und demokratische Grundrechte und Strukturen in ihren Grundfesten bedrohen.

Diese Frage kann aber auch, im Dialog und mit wirklichem Interesse und Respekt vor dem Anderen, zum Auftakt für ein Verstehen werden, das weit hinaus geht über das Interesse an einer schnellen Beruhigung der Lage. Voraussetzung dafür ist, dass sich alle Religions­gemeinschaften mit dem Gewaltpotential auseinandersetzen, das ihnen inne wohnt – auch wir als Christen, als Kirchen, indem wir uns erinnern, dass es erst 17 Jahre her ist, dass der blutige Konfessionskrieg in Nord-Irland seinen offiziellen Abschluss fand und dass noch 2001 George W. Bush einen „Kreuzzug gegen das Böse“ ausgerufen hat.

Ja, wir als Christen, als Kirche müssen uns dem stellen – aber auch die Vertreter des jüdischen Glaubens,  im Blick auf den ungelösten Nahostkonflikt und das Verhältnis zu den Palästinensern. Und eben auch der Islam, der sich seiner eigenen Geschichte bewusst werden muss – eine Herausforderung, der sich viele Muslime auch schon stellen. Es wäre aus meiner Sicht eine echte Chance im Dialog der Religionen, wenn die drei Schriftreligionen ihre Heiligen Schriften gemeinsam verantworten würden in der kritischen Auseinandersetzung mit ihrem jeweiligen historischen Kontext. Das birgt übrigens auch die Möglichkeit, die liberalen Kräfte im Islam zu stärken gegenüber den Fanatikern und Extremisten.

Darum brauchen wir neben den Islamwissenschaften eben auch die Lehrstühle für Islamische Theologie und Islamische Religionspädagogik an unseren Universitäten (mehr als 20 Professuren in Erlangen, Nürnberg, Frankfurt, Gießen, Hamburg, Münster, Osnabrück, Tübingen). Wir brauchen die theologische Auseinandersetzung mit den Heiligen Schriften. Das ist in diesen Zeiten eine ganz besondere Herausforderung auch an die Muslime, der sie sich bereits engagiert stellen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Frankfurter Erklärung deutschsprachiger Theologinnen und Theologen, Islamwissenschaftlerinnen und Islamwissenschaftler, in der sie sich entschieden gegen den Terror des sogenannten Islamischen Staates und die Instrumenta­lisierung ihrer Religion gestellt haben. Beachtlich ist ferner die eingehende theologische Widerlegung der religiösen Argumentationen des IS durch weltweit 120 – vornehmlich gerade konservative – Gelehrte aller Zentren islamischer Gelehrsamkeit.[1] Damit liegen hoch interessante Diskussionsbeiträge für den interreligiösen Dialog vor.

Die große gesellschaftlich-politische Perspektive macht deutlich: Auch hier ist die  Frage nach der Religion eine, die uns dazu führt, auf unsere Traditionen, auf unseren Glauben zu sehen. Auch hier ist es die zugespitzte Frage: Wie hast du’s mit deiner Religion?


VI. Zum „komplexen System“ mit Namen Kirche

Die Gretchenfrage stellt sich uns also in vielen Zusammenhängen und in vielen Bereichen. Nehmen wir es wirklich ernst, dass wir Antwort geben sollen auf diese Frage? Oder sind wir zu sehr mit anderen Fragen beschäftigt? Mit Verfahrensfragen und Baufragen? Mit Kompetenzfragen und Imagefragen?

Und: Wie begegnen wir der Schwäche der Institution wirksam, wie bekommen wir neu Anschluss an ihre innere Stärke?

Ich gebe zu: In manchen Diskussionen möchte ich einfach mal die Rednerliste zerreißen und sagen: „Jetzt ist aber Schluss!“ Schluss mit den Detailfragen und dem Streit um Worte. Schluss mit dem ewigen Hin und Herr von Rede und Gegenrede. Kommt doch mal zur Sache. Kommt doch mal zu dem, worum es in Kirche eigentlich geht – um Gottes Wort, das Menschen und Welt verändern und erlösen will. Manchmal ist mir nach einem Machtwort.

Aber im selben Moment merke ich: So geht es ja auch nicht. Zum einen, weil das mit dem Machtwort theologisch unmöglich ist. Dann aber vor allem, weil ich all denen, die mit viel Mühe und großem Engagement an den Detailfragen, an den Gesetzestexten, an den Finanzplanun­gen und der Rechtsförmlichkeitsprüfung sitzen, Unrecht tun würde – auch sie dienen dem einen Verkündigungsauftrag Christi an seine Kirche.

Dann wird mir bewusst: Wenn wir heutzutage eine Antwort auf die Gretchenfrage geben wollen – und wir müssen das wollen – dann zeigt sich: Eine Antwort auf diese Frage ist nicht nur kompliziert, sondern sie muss komplex sein.

Lange haben wir, habe auch ich gedacht, dass die Sache mit der Kirche in der Gegenwart nur kompliziert ist. Weil immer so vieles zu bedenken ist – kirchliche Traditionen, gesellschaftliche Entwicklungen, Rücksicht auf die EKD, Rücksicht auf die Spaßgesellschaft, Erkenntnisse der Wissenschaft, Lust und Laune, usw. Es wird kompliziert, und weil es kompliziert wird, holt man sich Experten – natürlich von außen –, die sich auf Organisationsentwicklung verstehen, das merkwürdige Gebilde „Kirche“ analysieren und dann wissen, an welchen Stellschrauben zu drehen und welche Prozesse zu implementieren sind.

Ich denke noch heute mit einiger Verwunderung an eine Tagung der Nordelbischen Synode, in der uns die renommierte Firma PriceWaterhouseCoopers mit großer Klarheit und Überzeugungskraft das schöne Gebäude der Zielsteuerung mit Strategischen Gesamtzielen, Strategischen Bereichszielen, Balance Scorecard (mein Lieblingsbegriff) usw. erklärt haben. Dann haben wir 15 strategische Gesamtziele zusammengestellt und gedacht: Das ist es nun. Die Zukunft der Kirche liegt klar vor uns. Leider hatten wir nicht wirklich begriffen, was wir da eigentlich gemacht hatten. Und wir hatten vor allem nicht begriffen, dass Kirche sich so eben nicht steuern lässt. Denn unsere Gesamtsituation in Kirche ist nicht kompliziert – sie ist komplex.

Ich greife an dieser Stelle auf einen fruchtbaren Gedankenaustausch mit Pastorin Isabel Hartmann und Prof. Reiner Knieling zurück, die das Gemeindekolleg der VELKD in Neu­dieten­dorf leiten. Beide berichteten von den Erfahrungen, die sie in den vergangenen Jahren im Gemeindekolleg gemacht haben:

Erfahrungen mit Mitarbeitenden in kirchlichen Einrichtungen, die davon berichten, dass ihnen gesagt wird: „Kümmern Sie sich um sich. Sorgen Sie für ihre Gesundheit. Achten Sie auf Ihren Urlaub. Nehmen Sie sich Auszeiten. Aber machen Sie sich auch klar: Die Arbeitsbereiche werden größer werden. Wir werden an Qualitätssicherung und Qualitäts­steigerung arbeiten müssen. Und in ein neues System der Kennzahlen werden Sie sich auch einarbeiten müssen.“ Was für eine Doppelbotschaft! Wie sollen die Menschen damit umgehen?!

Erfahrungen aber auch von Kirchengemeinderäten in fusionierten Gemeinden, die keinen wirklichen Neuanfang schaffen. Da entsteht der neue KGR durch die bloße Addition der alten Kirchengemeinderäte und bekommt dadurch eine Größe, die kaum arbeitsfähig ist. Da werden Unterausschüsse für die ehemaligen Gemeindegebiete gebildet, damit alle ausreichend wahrgenommen werden; aber eigentlich geht es um die Angst, zu kurz zu kommen. Statt Entscheidungen zu delegieren, werden Entscheidungen in verschiedenen Gremien mehrfach durchgekaut, damit alle zu Wort kommen. Statt die neue Gemeinsamkeit zu nutzen, um sich zu entlasten, werden komplizierte Veranstaltungspläne entwickelt, damit weiterhin alle Gemeindezentren bespielt werden können. Und weil das Geld immer weniger wird, muss all das mit immer weniger Personal bewältigt werden. Kein Wunder, dass es bei der anstehenden Kirchenwahl schwierig ist, Kandidatinnen und Kandidaten für den KGR zu finden!

Und Erfahrungen mit Vertretern von Kirchenkreisen oder Dekanaten, die von der Arbeit in Steuerungsgruppen berichten. Dass man nach Beratung durch externe Fachleute einen Strukturprozess im Kirchenkreis initiiert und dazu eine Steuerungsgruppe geschaffen habe. Viele engagierte Menschen sind zur Mitarbeit bereit – oftmals diejenigen, die auch schon in zwei, drei anderen Ausschüssen sind. Man sitzt, man tagt – nur leider läuft der Strukturprozess ganz anders als gedacht. Unvermuteter Widerstand entsteht, vermuteter Widerstand hat ganz andere Hintergründe als gedacht, Zeitpläne müssen gestreckt und geschoben werden, weil Gremien nicht rechtzeitig tagen und Termine vergessen wurden, und die erhoffte Kreativität und Vitalität will sich auch in der Steuerungsgruppe selbst einfach nicht einstellen. Das Fazit am Ende: Typisch Kirche. Hier macht sowieso jeder was er will.

Vielleicht kommt Ihnen, liebe Schwestern und Brüder, die eine oder andere Schilderung bekannt vor. Ich jedenfalls habe sehr aufmerksam zugehört und Pastorin Hartmann und Prof. Knieling gefragt, wie man in Neudietendorf denn mit diesen Problemen umgeht. Und beide haben berichtet, dass sie gute Erfahrungen mit einer besonderen Theorie des Wissensmanagements gemacht haben, die von dem Briten Dave Snowden (nicht zu verwechseln mit NSA-Snowden) entwickelt wurde[2].

In dieser Theorie („Cynefin-Framework“ genannt) werden einfache Situationen, komplizierte Situationen, komplexe Situationen und chaotische Situationen unterschieden.

In einfachen Situationen gibt es den schlichten Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Für ein bestimmtes Problem gibt es eine klare Lösungsmöglichkeit, und wenn die richtige Entscheidung getroffen wird, dann stellt sich der gewünschte Erfolg zuallermeist wirklich ein. Es gibt also richtige Antworten und optimale Lösungen.

„Anders ist es im komplizierten Terrain: Was zu tun ist, kann nicht aus einem einfachen Ursache-Wirkungszusammenhang hergeleitet werden, denn hier gibt es oft mehrere verursachende Faktoren mit verschiedenen Folgen“[3]. Für eine genaue Analyse wird Expertenwissen und Fachwissen benötigt. Es gibt nicht die optimale Lösung, sondern mehrere gute Lösungen.

In einer komplexen Situation gelten wiederum andere Spielregeln. Dabei ist entscheidend die Einsicht: „Hier kann man nicht im Vorhinein wissen, was zu tun ist. Man lernt es erst unterwegs“, denn „interne und externe Interaktionen und Wechselwirkungen [können] nicht einfach analysiert und dann planvoll gestaltet werden“[4]

Im chaotischen Feld schließlich „handeln Menschen spontan, zufällig und unberechenbar….Ordnende Strukturen sind außer Kraft geraten“[5].

Wendet man die Systematisierung des „Cynefin-Framework“ nun auf die gegenwärtige Lage der Kirche an, dann wird deutlich:

Das Problem bei der Auffassung, wir hätten es hier nur mit einer komplizierten Situation zu tun, liegt darin, dass die Methoden, die aufgrund dieser Annahme angewendet wurden, „die Organisationen zu sehr wie durchaus komplizierte, aber letztlich doch verstehbare und optimierbare Maschinen“[6] behandeln. Das trifft aber das Wesen sozialer Systeme nicht, erst recht nicht das Wesen von Kirche.

Davon ausgehend liegt der Grundansatz für die Anwendung dieser Systematisierung auf unsere Kirche in der Erkenntnis:

„Soziale Systeme sind keine Maschinen, … sondern Organismen, deren interne und externe Interaktionen und Wechselwirkungen nicht einfach analysiert und dann planvoll gestaltet werden können“[7].  „Es spielen so viele Faktoren und Menschen zusammen, dass es nahezu unmöglich ist zu prognostizieren, welche Idee Wurzeln schlagen und erfolgreich sein wird usw.“[8]

In einer komplexen Wirklichkeit braucht es folglich ein anderes Vorgehen als in einer komplizierten Wirklichkeit. Wenn es kompliziert ist, dann legt sich folgender methodischer Dreischritt nahe: Wahrnehmen – Analysieren – Reagieren[9]. Und es gibt natürlich sehr viele Fragen, die sich in dieser Weise professionell bearbeiten lassen, so dass man zu guten Lösungen kommt.

Wer sich (aber) in einem komplexen Feld bewegen will, tut das sinnvollerweise in dem Dreischritt: Probieren – Wahrnehmen – Reagieren.[10] Es geht darum, erst einmal anzufangen – sicher nicht in blindem Aktionismus, sicher nicht unbedacht und nur aus einer Laune heraus, aber immerhin anfangen. Einen Versuch starten.

Und dabei auch vor ungewöhnlichen Ideen nicht zurückschrecken. In Schwerin haben wir in Zusammenarbeit mit dem Theater dort die Idee einer „Theater-Predigt“ entwickelt – die Bühne als Kanzel. Das Theater als Ort der Verkündigung. Der Bischof als Schauspieler? – nein, sondern wirklich als Prediger. Und dann hat es mich doch sehr verwundert, in einem erbosten Leserbrief zu lesen, dass ich doch bitte weniger bei den Atheisten und dafür mehr im Dom predigen solle. Da dachte ich: Nein, genau so geht es nicht. Nicht die Festlegung auf das, was immer so war. Sich nicht festlegen oder festlegen lassen auf die vertrauten Räume. Sondern hinausgehen und fremde Orte aufsuchen und fremde Zusammenhänge ausprobieren und sehen, was kommt. Und gespannt erwarten, was passiert.

Mir hat das Konzept des komplexen Feldes eingeleuchtet, liebe Synodale. Mir hat es eingeleuchtet, weil ich vor diesem Hintergrund deutlicher verstehe, was mir länger schon Unbehagen macht – nämlich die Überdehnung der Systeme und der Hang zur Kontrolle, der vielfach spürbar ist, um die auseinanderstrebenden Kräfte und unterschiedlichen Anforderungen noch einigermaßen beieinander zu halten.

Ein wunderbares Beispiel dafür ist das regelmäßige Ritual der Wahlgesetzgebung, dem Sie, liebe Synodale, sich ja auf dieser Tagung auch wieder widmen dürfen. Meine Erfahrung ist: Nach jeder Wahl wird der Ruf laut nach einem Wahlgesetz, das einfacher, transparenter, anwenderfreundlicher und gerechter ist. Heraus kommt aber jedes Mal ein Entwurf, der mindestens ebenso kompliziert ist wie das alte Recht, wenn nicht noch komplizierter. Und ich sage das nicht, um diejenigen, die sich an dieser Stelle redlich mühen und wirklich viel Arbeit investieren, abzuwerten. Ihnen will ich hier ausdrücklich danken.

Ich will uns allen vor Augen halten, dass das Heil für uns als Kirche nicht in immer ausgefeilteren Vorschriften und nicht in immer detaillierterer Reglementierung liegt, sondern wahrscheinlich gerade in der entgegengesetzten Richtung, hin zu mehr Offenheit, zu mehr Freiheit fürs Ausprobieren, Scheitern, Korrigieren, erneutem Versuchen und Staunen darüber, was denn doch klappt. Ich wünsche mir, dass Kirchengemeinderäte und Kirchenkreisräte sich selbst nicht so sehr als „kybernetische Aufsichtsräte“, sondern vielmehr als „geistliche Probierzirkel“ verstehen. Und von Kuratorien, Steuerungsgruppen und der Kirchenleitung wünsche ich mir das übrigens auch.

Ich wünsche mir, dass wir mehr Mut zum Experiment, mehr Vertrauen in spontane Initiativen entwickeln, Spielräume öffnen auch für scheinbar ganz Verrücktes, Fremdes, Unfertiges. Oft scheint es, als würde bei uns weniger das Gottvertrauen regieren, das wir sonntäglich predigen, als vielmehr der Blick auf die Rücklagen und Budgets. Wer eine Idee einbringt, wird oft zu hören bekommen: Liefern Sie bitte erstmal ein Konzept und vor allem einen Finanzierungsplan. Für spontane Leute ist so etwas tödlich.

Vor kurzem waren wir mit  einer Gruppe des Kirchenkreises Mecklenburg in Augsburg zur jährlichen Begegnung mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Wir haben u. a. ein Projekt der Diakonie in Augsburg besucht, das "Grandhotel Cosmopolis". In einem ehemaligen Altenpflegeheim, das die Diakonie betrieben hatte und das mehrere Jahre leer stand, ist auf Initiative eines Vereins ein Hotelbetrieb mit Asylantenunterkünften entstanden. Zusätzlich wird ein Café betrieben und ein Kulturzentrum. Der Verein besteht vor allem aus Menschen aus dem Bereich der Kulturschaffenden. Lauter Leute mit unkonventionellen Lebensläufen und idealistischen Vorstellungen vom Zusammenleben der Kulturen und vom Engagement für die Gesellschaft. Geld und Budgetpläne stehen in ihrem Denken nicht an erster Stelle. Ihr Verhältnis zu Institutionen und gar zu Kirche war und ist distanziert bis abweisend.

Und doch hatte die Diakonie in Augsburg zusammen mit der Bezirksregierung den Mut, die Umsetzung dieser Idee zu stützen – also ein unübersehbares Risiko einzugehen. Inzwischen wohnen dort viele Asylbewerber, das Hotel weist eine Belegungsquote von mehr als 60 Prozent auf: Ein buntes Leben herrscht in dem großen Haus, Medien über Bayern und Deutschland hinaus interessieren sich für das Projekt mitten in der Stadt, mitten im Domviertel. Die Kommunikation mit den Vereinsleuten ist nie einfach. Aber man macht es, weil man erkannt hat: Es ist unsere Sache, die hier betrieben wird von Menschen, die wir nicht zuerst fragen: Wie hast du‘s mit der Kirche oder mit der Religion oder wieviel Geld bringst du mit. Was die Diakonie und die Kirche hier tun, ist dies: Sie halten einen Rahmen bereit für die Entfaltung der guten Idee. Sie stellen Expertise und ihr Netzwerk zur Verfügung.

Inzwischen sind Vertrauen und Freundschaft gewachsen und auch eine vorher nicht zu erwartende Nähe zur Kirchengemeinde vor Ort. Es gibt nach wie vor keinen mittelfristigen Finanzierungsplan. Es gibt auch keine Absicherung der Menschen, die dort ihre Gaben einbringen. Man hangelt sich von Jahr zu Jahr und versucht, sich den Herausforderungen gemeinsam zu stellen. Was da geschieht, ist Teil des Leibes Christi, ist tätige Nächsten- und Fremdenliebe. Und darum geht es. Inzwischen wissen alle, dass da Diakonie und Kirche drin sind.

Solche Offenheit wünsche mir. Aber ich weiß: Sie stellt sich nicht von selbst ein und liegt auch nicht einfach auf der Hand. Denn diese Offenheit bedeutet auch, dass wir sehr offen eine schlichte, aber eben auch schmerzhafte Erkenntnis realisieren  müssen. Nämlich die Tatsache, dass wir eine Kirche sind, die weniger wird. Weniger an Mitgliedern, aber auch weniger an Ansehen, an Einfluss, an gesellschaftlicher Akzeptanz, an öffentlicher Bedeutung.

Eine Kirche, die weniger wird, und zwar trotz aller Bemühungen, hieran etwas zu ändern. Trotz aller Hinwendung zu den Menschen, trotz vieler guter Ideen und hervorragender Arbeit, trotz viel Zustimmung zu einzelnen Inhalten und Themen.

Das ist ganz schön frustrierend. Ich strenge mich an, bemühe mich, immer besser zu werden, immer besser zu verstehen, immer besser zu leiten, immer besser zu predigen. Nur leider nützt es nichts. Die Leute treten trotzdem aus der Kirche aus.

Wir sind also in einer komplexen Situation – und diese Einsicht ist ein erster Schritt hin zur Beantwortung der Gretchenfrage, die uns als Kirche aufgegeben ist. Denn in einer komplexen Situation bekommt die Frage nach dem, was innerlich hält und trägt, die Frage nach der geistlichen Grundlage und nach unserem Glauben, ganz neu Bedeutung. Bei komplizierten Zusammenhängen konnten wir noch die Experten fragen. Aber jetzt, in unser komplexen Situation, müssen wir uns fragen:

Was befähigt uns, Versuche zu machen? Was befähigt uns, die Kontrollmechanismen herunterzufahren und Erprobungsräume zu lassen? Was befähigt uns, mit der Kränkung zu leben, dass ein Projekt gescheitert ist und nicht weitergeführt werden kann? Was befähigt uns, die Brache zu ertragen, die Leerstelle, das nicht genutzte Arbeitsfeld, die nicht übernommene Aufgabe? Was befähigt uns, Dinge zu lassen, auch wenn wir sie „zur Not“ noch irgendwie schaffen könnten? Wie können wir das aushalten, so viel Kraft und Leidenschaft und Zeit zu investieren – und an der Gesamtsituation von Kirche ändert sich trotzdem nichts?

Und das ist für mich an dieser Stelle überhaupt nicht nur eine theoretische Erwägung, sondern ganz persönliches Erleben. Ich habe im vergangenen Jahr sehr schöne Erfahrungen gemacht, wenn ich in Lagerhallen und vor Unternehmern, im Knast und im Stall gepredigt habe – Kirche am anderen, fremden Ort, sehr lebendig, mit guten Gesprächen und viel Zustimmung. Aber jeder kann es sehen – auch das hat nicht die große Wende gebracht. Was hatte ich auch erwartet?, frage ich mich selbst. Und, ja, ich hatte was erwartet, irgendwie schon. Ich erwarte, oder wünsche mir zumindest, dass da etwas rüberkommt von meiner Begeisterung für Glauben und Kirche.

Und ja: es geschieht etwas. Ich stoße auf Dankbarkeit und auf Neugier. Man will etwas von uns. Man akzeptiert unsere Bedeutung für das Leben in der Gesellschaft. Manchmal habe ich das Gefühl: außen ist da selbstverständlichere Akzeptanz als manchmal innen.

Ich selber habe aber lernen müssen, dass Stabilität der Kirche in Zukunft nicht zuerst abhängt von der Zahl der Mitglieder, der getauften Glaubenden. Und dass eine Einladung, die begeisterte Verkündigung ausspricht, zwar ankommt, aber erst verzögert angenommen werden kann. Kirche ist oft wie ein Tanker, dessen Fahrtrichtung lange vor der sichtbaren Kurve navigiert werden muss. Und ich merke, wie ich selbst mehr und mehr Mut und Kraft ziehe gerade aus den Begegnungen mit Menschen von außen, mit den Quer-Fragenden, Provozierenden, Nichts-von-uns-wissen-Wollenden! Wir müssen uns in der Verkündigung in Wort und Tat immer wieder und immer mehr animieren lassen von jenen, die die Frage nach unserer (oder ihrer?) Religion ganz abgesehen von der eigenen Frage stellen – bevor es vielleicht ihre eigene werden kann.

Wie können wir das aushalten – den Weg der Versuche und des Ausprobierens, der tastenden oder auch energischen Schritte auf unbekanntes Terrain?

Ich meine, liebe Schwestern und Brüder, die Antwort darauf liegt eigentlich ganz nahe – vielleicht so nahe, dass wir sie manchmal nicht mehr wirklich  zu schätzen wissen.

Die Antwort ist fromm: Es ist das Vertrauen auf den Gott Jesu Christi, der uns die Kraft und die Zuversicht gibt, um in komplexen Zusammenhängen einen Weg für unsere – nein, für Seine Kirche zu finden. Es ist das Vertrauen auf den Gott, über dessen Messias der Täufer Johannes sagt: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ (Joh. 3,30). Das wäre doch mal eine neue Perspektive –  Christus muss wachsen, aber wir als Kirchen müssen abnehmen, müssen weniger werden. Vielleicht ist es ja Gottes Willen, dass wir Minderheitenkirche sind und bleiben? Vielleicht will Gott seine Kirche genau so – nicht mehr dominierend und bestimmend und an erster Stelle. Sondern etwas zerzaust und angeschlagen und belächelt.

Was steckt eigentlich dahinter, wenn wir immer den Rückgang in den Zahlen und den Verlust an gesellschaftlichem Boden beklagen? Vielleicht doch auch die Unterwerfung unter eine Wachstumsideologie, die aus Kirche ein Unternehmen und aus Gottes Evangelium ein Produkt macht? Ich bin sicher – wenn wir mit der Gretchenfrage wirklich nach des Pudels Kern suchen, dann wird es nicht der Teufel sein, der dann hervortritt wie weiland beim Dr. Faust. Sondern es wird noch immer Christus sein, der spricht: „Fürchte dich nicht!“.

Und uns in der Kirche wird es dann ergehen wie Petrus mit seinem Versuch, übers Wasser zu gehen. Als er auf das Wort Jesu hin die vorsichtigen Schritte auf unsicherem Grund macht, tastend, ausprobierend, was wohl trägt, mit Vertrauen, aber auch verunsichert. Petrus, der dann auch wirklich den Einbruch erlebt. Der erlebt, dass er wirklich untergehen kann. Der aber gerade dann und dort erfährt: Ich bin nicht allein. Gott ist da, der mich hält. Christus ist da, der mich fasst. Und von dem ich mich dann auch fragen lassen muss: Was bist du so kleingläubig? Warum lässt Du Dich binden von den Prinzipien, die all zu oft kirchliche Arbeit leiten: Das haben wir noch nie so gemacht. Das haben wir schon so oft versucht. Da könnte ja jeder kommen!

Wie hast Du’s mit dem Glauben, dem Gottvertrauen, wenn es darum geht, Verantwortung auch für die „Seele“ der Kirche zu übernehmen und für ihre geistliche Ausrichtung auf Gott hin? – eine Verantwortung, die aus der Tatsache folgt, dass Kirche ja nicht nur von Christus spricht und im Blick auf Christus handelt, sondern Leib Christi ist.


VII. Wer glaubt, der redet – von Gott!

Wie hast du’s mit der Religion?

Auf jeden Fall also so, dass ich mir bewusst bin: Ich habe eine komplexe Situation vor mir und gerade deshalb ist meine „Religion“, ist mein Glaube entscheidend wichtig. Das aber macht noch einmal sehr deutlich, wo der Schwerpunkt in der Betonung sein müsste, nämlich auf dem Wort „Du“. Wie hast du’s mit der Religion?

Es geht an dieser Stelle nicht um allgemeine Religiosität. Es geht auch nicht um einen allgemeinen Religionsbegriff, der am besten so gefasst wird, dass möglichst viele Religionen sich darunter versammeln können. Und ich will deshalb auch hier gar nicht den Anschein erwecken, als wolle ich einen bischöflichen Beitrag zur Frage liefern, ob es in der Kirche nicht wieder mehr religiöse Rede im eigentlichen Sinne geben müsse, weil „die meisten Menschen … ansprechbar [sind] auf die religiöse Dimension ihres Lebens“[11].

Mir ist wichtig, dass wir uns fragen lassen nach dem, was Menschen innerlich wirklich wichtig ist, was sie antreibt und umtreibt, und auch das wieder nicht abstrakt, sondern konkret in den eigenen Glaubensgeschichten, in den eigenen Gottesbegegnungen, in den eigenen Zweifeln und Überzeugungen, in Klarheit und Verwirrung, in Gottvertrauen und Gottvergessen. Das ist doch die Gretchenfrage, die sich heute stellt: Wie es mit mir selbst steht und wo ich selbst stehe!

Und an uns als Kirche stellt sich die Frage, ob es uns auch als Organisation gelingt, bei dem zu stehen, was die Menschen in unserer Kirche hält und trägt. Wie nahe bleiben wir da dran? Wie weit rücken wir da weg? Nicht wenige haben ja die Einstellung: „Wenn keiner sich mehr um das kümmert, was wirklich meins ist, was mir wirklich wichtig ist, dann kümmere eben ich mich um mich selbst, und nur um mich selbst…“ Deshalb müssen wir uns als Kirche um das kümmern, was Menschen am Herzen liegt, um unsere biblische Geschichten und unsere kirchliche Traditionen –  im Bewusstsein, dass Religion, dass Glauben eine existentielle Wirklichkeit für Menschen ist, etwas, was sie prägt und trägt und was nicht einfach zur Privatsache gemacht werden kann, auch wenn das bequemer zu sein scheint.

Darum geht es für mich – dass wir vom Glauben her denken, wenn wir über die Zukunft unserer Kirche nachdenken. Und dass wir die  Menschen in unserer Kirche im Blick haben, indem wir die Frage stellen: „Wie denken wir das, was wir tun, konsequent von den Menschen her, die sich engagieren wollen und können, und von den Ressourcen her, die wir haben?“[12]

Und liegt in der Erfahrung der sprudelnden und überfließenden und fruchtbaren Kraft des Glaubens nicht auch der Grund für unsere Freiheit als Christenmenschen? Eine Freiheit, die wir brauchen werden, wenn wir die komplexen Herausforderungen der Zukunft für unsere Kirche bewältigen wollen. Eine Freiheit, die – wenn man lutherisch denkt – immer beides zusammenhält: Die Befreiung und die Verantwortlichkeit. Den Aufbruch ins Neue, ins Offene  und die Grenzen, die gewahrt werden müssen. „Alles ist möglich, aber nicht alles dient zum Guten“ (1. Kor 6, 12; 10, 23).

Deshalb ist der Ruf in die Freiheit des Glaubens kein Plädoyer für rechtsfreie Räume oder für eine Verachtung des Rechts. Wir bleiben eine Körperschaft öffentlichen Rechts und bleiben gebunden an Recht und Gesetz. Und wir bleiben auch Institution! Eine Institution, die sich dessen bewusst ist, dass Menschen Institutionen brauchen, selbst wenn sie sich hingebungsvoll in Institutionskritik üben. Die Bedeutung von Institutionen liegt ja darin, dass sie „fraglos gültig sind“ und deshalb bei allem, was im Leben sonst fragwürdig ist und in Frage gestellt wird, eine innerliche und soziale Vergewisserung schaffen. Deshalb ist es mir auch wichtig, dass wir als Institution stark sind. Oder genauer: Dass wenigstens wir uns nicht selbst schwächen und in Frage stellen. Dass wir uns nicht selbst säkularisieren.

Nein, wir sind nicht nur eine Rechtsperson und nicht nur ein Baustein im gesellschaftlichen System Religion. Sondern wir sind Kirche, creatura verbi. Sind gebunden an das Wort Gott, aus dem sich unser Recht ableitet und an dem sich unsere Gesetze messen lassen müssen. Sind aber auch frei durch den Geist Gottes, der uns in Dienst nimmt, uns aufhilft und begeistert.  Denn wer glaubt, soll sich nicht die Freiheit nehmen, von Gott zu schweigen! Sondern soll im Gegenteil laut singen und sagen von dem Gott, der die Welt so sehr liebt, dass er seinen einzigen Sohn hergibt! Laut singen und sagen von dem Herrn Jesus Christus, dessen Kreuz keine Haken hat und keine Nationalfarben trägt! Laut zu verkündigen die Verheißung des Friedens, der höher ist als alle Vernunft und der in die Welt hinein führt, nicht aus ihr heraus. Unsere Stärke ist es, dass wir in der Welt sind, aber nicht von der Welt; dass wir spüren: Die Wirklichkeit dieser Welt und ihrer Menschen geht nicht auf in dem, was wir sehen, verstehen, bemessen oder bedenkenträgerisch vermeiden. Die Wirklichkeit dieser Welt und unserer Welt ist eingefasst und durchströmt von Gott, der uns „an allen Ecken und Enden“ begegnet, der den ersten Schritt schon getan hat, längst bevor wir losmarschiert sind. 

„Wie hast du’s mit der Religion“ – lieber Schwestern und Brüder, so werden wir gefragt, von der Gesellschaft, von Menschen, die auf der Suche sind.

Und für mich ist diese Frage ein Impuls – ein Impuls,  mich daran zu erinnern, dass es auch weiterhin Gott ist, der mich hält. Der seine Kirche hält. Der seine Welt in Händen hält. Ein Impuls, mich daran zu erinnern und darum getrost und zuversichtlich in die Zukunft zu gehen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 

 


[1] Auf den Text der 120 Gelehrten kann unter <link http: www.madrasah.de>www.madrasah.de/.at zurückgegriffen werden.

[2] Isabel Hartmann, Reiner Knieling, Gemeinde neu denken, Geistliche Orientierung in wachsender Komplexität, Gütersloh 2014, S. 13ff. Wichtig ist den Verfassern besonders, dass es dabei nicht darum geht, dem schon vorhandenen Methodenrepertoire einfach nur ein neues Analyse-Instrument hinzuzufügen, sondern um die angemessene Würdigung von konkreten Erfahrungen.

[3] Hartmann, Knieling, a.a.O., S. 14.

[4] Hartmann, Knieling, a.a.O., S. 15.

[5] Ebenda.

[6] Hartmann, Knieling, a.a.O., S. 12.

[7] Hartmann, Knieling, a.a.O., S. 15.

[8]Hartmann, Knieling, a.a.O., S 34.

[9] Hartmann, Knieling, a.a.O., S. 14.

 

Datum
26.02.2015
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Gerhard Ulrich
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