2. April 2018 | Dom zu Lübeck

Körper und Geist untrennbar verbunden

02. April 2018 von Kirsten Fehrs

Ostermontag, Predigt zu Lukas 24, 13-35

Liebe Osterfestgemeinde!

Aufrecht und freundlich steht sie vor mir. Sie ist vielleicht 11 Jahre alt. Man merkt, sie hat eine dringende Frage, die sie dringend loswerden muss, wie nur Kinder dringend sein können, nennen wir sie Hanna. Gerade sind wir mit Tausend anderen eine ganze Zeit gemeinsamen Wegs gegangen – am vergangenen Karfreitag, auf Lübecks Kreuzweg, dem ältesten in Deutschland überhaupt. Und mich fasziniert immer wieder, dort so viele junge Familien zu sehen, viele Kinder auch. Gut so. Weil wir ihre Fragen brauchen und ihre Sichtweisen… Denke ich noch so. Und Hanna stellt ihre Frage: Im Evangelium hieß es, dass der Simon von Cyrene gezwungen wurde, das Kreuz Jesu auf sich zu nehmen. Aber dann wurde gesagt: Er hat das getan, um Jesus zu trösten. Was stimmt denn nun? Sie müssen das doch wissen?“

Manchmal ist es nicht leicht Bischöfin zu sein…

Ich mühe mich redlich. Mir fällt meine Reise nach Jerusalem ein und dass ich mich gewundert habe, wie eng die Via Dolorosa, der Schmerzensweg Jesu, tatsächlich ist. Wenn Simon dort gestanden hat, war er dem entkräfteten und leidenden Jesus körperlich unglaublich nah; das war kein Geschehen auf Distanz. Ganz gleich, ob ihn die Römer gedrängt haben oder nicht. So oder so hätte er sich schlicht nicht entziehen können, diesem Blick nicht, dieser Eindringlichkeit der Dornenkrone, diesem Schmerz nicht und auch letztlich nicht der Entscheidung. Nehme ich das Kreuz? Muss oder will ich? Oder riskiere ich mein Leben? Mag sein, es war nur ein Sekundenbruchteil, ein Gefühl, in jedem Fall greift er mit beiden Händen zu. Und nimmt Jesus für einen Teil des Weges seine Last.

Hanna ist ganz einverstanden mit meiner Antwort. Das gibt es ja, sagt sie, dass man einerseits was nicht will und es dann doch tut. Ich bin erleichtert und auch ein wenig stolz auf mich J….viel mehr aber auf Hanna, auf unsere klugen, kleinen Wegbegleiterinnen im Leben, die unseren Blick enorm schärfen für die wesentlichen Dinge. Und das Eigentliche.

Ihr Blick dagegen war verstellt. Die Augen waren „gehalten“, sagt das Lukasevangelium über die beiden Emmausjünger. Noch voller Entsetzen über das, was in Jerusalem gerade stattgefunden hat, gehen sie die Straße entlang. Es ist ihr Kreuzweg. Schweigend zunächst versuchen sie zu erfassen, was sie so erschüttert und traurig macht. Auch sie haben die Via Dolorosa vor Augen, wie Jesus litt und stöhnte. Und dann Golgatha. Furchtbar. So „gehalten“ sind sie von diesen Bildern, dass sie nicht bemerken, wie jemand neben ihnen geht. Jemand, der sich aufs Trösten versteht. Weil er fragt. Zuhört. Und so schütten sie ihr Herz aus, erzählen ihren ganzen Jammer, was sie geglaubt und an Glauben verloren haben, was sie ängstigt, was nun werden soll. Das ganze tiefe Tal – und der unerkannte Tröster geht mit. Jeden Schritt.

Für mich ist diese Emmausgeschichte eine der schönsten Auferstehungsgeschichten der Bibel, liebe Gemeinde. Denn sie sagt: Trauer hat ihr Recht. Ja mehr noch: Trauern zu können ist der erste Schritt zur Lebendigkeit. Es darf mit heißen Tränen der Verlust  beweint und beklagt werden – Gott hält das ja alles aus – und irgendwann ist es gut. Dann löst sich dieser eratische Block, der einem fast den Atem nimmt. Und der Blick wird frei und die Seele auch. So gut tut den Jüngern dieser Trauerbegleiter an ihrer Seite, dass sie bitten, ja ihn drängen: Bleib bei uns, es wird ja schon Abend.
Da ist es immer am schlimmsten.

Und als er mitgeht, als er mit ihnen das Brot bricht – da hält sie und ihre Augen nichts mehr. Sie erkennen ihn! ER ist es, tatsächlich. Er ist auferstanden. Wahrhaftig auferstanden. Mit allem hatten sie gerechnet, nur nicht mit dem Leben!

Das ist Ostern, liebe Gemeinde. Mit dem Leben rechnen. Sich den Blick nicht verstellen lassen durch Todesschatten und Hoffnungslosigkeit. Nein, trauert nicht wie die, die keine Hoffnung haben!

Deshalb stehen sie auf. So viele junge Menschen derzeit in den USA. Sie stehen auf für das Leben und gehen auf die Straße „for our Lives“. 800.000 haben jüngst in Washington protestiert gegen diesen Waffenwahn, der schon so viele Leben ausgelöscht und soviel Blut von Schülerinnen und Schülern vergossen hat. Doch Gott sei Dank – auch die Älteren stehen auf. Es ist ein sensationeller „March for our lives“. Gibt es eine hoffnungsvollere Ostergeschichte unserer Tage, liebe Gemeinde?

Die Jugend steht auf. Und singt dabei alte Protestsongs wie den von Bob Dylan. "The Times They Are A Changin'“. Die Zeiten ändern sich. Die Sängerin Jennifer Hudson singt es in Washington – gemeinsam mit dem Chor der Parkland High School – für alle. Sie selbst hat vor zehn Jahren Mutter und Bruder durch Waffengewalt verloren. Sie singt: „Der jetzt Langsame wird später schnell sein, wie die Gegenwart später Vergangenheit sein wird. Und der Erste jetzt wird später der Letzte sein, denn die Zeiten ändern sich.“ 

Und ich stimme ein mit einem ganz alten Osterlied: „Nunmehr liegt der Tod gebunden, von dem Leben überwunden, wir sind seiner Tyrannei, seines Stachels quitt und frei.“ Nicht nur die Zeiten, auch wir werden uns ändern, sagt dieser Protestsong aus dem 17. Jahrhundert. „Nunmehr steht der Himmel offen, wahrer Friede ist getroffen.“ Denn Christus ist auferstanden. Und die Jünger in Emmaus nicken: Ja, wir haben ihn ja gesehen! Er ist wahrhaftig auferstanden! Ganz und gar, mit Leib und Seele, mit Stimme und Kleidern, Wunden und Gefühlen.

Wahrhaftigauferstanden – wir sind beim Kern der Osterbotschaft. Und haben unsere Mühe, oder? Sperren sich bei dieser Vorstellung doch zunächst unsere Vernunft und unsere Erfahrung. Dennoch: alle Evangelien betonen diese Leiblichkeit des Auferstandenen und dass er vielen leibhaftig begegnet. Und als einige immer noch nicht glauben können, dass sie kein Gespenst sehen, bittet er sie um ein Stück gebratenen Fisch "und nahm's und aß vor ihnen". - Warum betonen die Evangelisten diese Leiblichkeit so, obwohl sie doch immer schon so schwer zu verstehen ist? Wieso reicht nicht einfach die Bekräftigung, dass seine Ideen, seine Worte lebendig bleiben in unseren Herzen und Gedanken? Das wäre einfacher zu glauben – und ginge doch am Sinn von Ostern völlig vorbei. Denn die Geschichte Jesu ist von Anfang an eine Geschichte vom Gott, der Mensch geworden ist: Das Wort ward Fleisch. Von Weihnachten bis Ostern: Zum Menschsein gehört der Körper unabdingbar dazu.

Diese scheinbar banale Erkenntnis ist für mich in der letzten Zeit immer bedeutsamer geworden. Denn unsere Gesellschaft ist dabei, den Menschen immer stärker über Geist und Gedanken zu definieren und seinen Körper immer weiter in den Hintergrund zu drängen.

Allein, was unter dem Stichwort „Digitalisierung“ an tiefgreifender Veränderung in der Arbeitswelt und Kommunikation stattfindet, geht ja  einher mit einer zunehmenden „Körperlosigkeit“. Sicher, der Leib ist als Bild noch wichtig, aber doch eher als sorgsam gestyltes Ideal. Nicht umsonst hat die Industrie rund um die Verschönerung des eigenen „Bodys“ Hochkonjunktur!

Aber der wahre, wahrhaftig auch bedürftige und schwache Leib wird immer öfter als lästige Realität betrachtet. Dazu passt, dass es schon jetzt hohe künstliche Intelligenz und nimmermüde Roboter gibt, die einerseits vieles erleichtern, sogar in der Pflege. Andererseits werden doch Roboter niemals ersetzen können, was die Begegnung von Mensch zu Mensch an Wärme ausstrahlt, was sie an Berührung ermöglicht und Liebesempfinden.

Was passieren kann, wenn man diese Körperlichkeit aus dem Blick, oder besser: aus den Empfindungen verliert, zeigt sich für mich in eben diesem Waffenkult. Ob man nun fasziniert von Schusswaffen ist wie in den USA. Oder ob man Kriegswaffen produziert und sie in alle Welt exportiert, wie es viel zu oft von Deutschland aus geschieht. Über diese Waffen würde ganz anders geredet und gedacht, wenn wir uns nicht in erster Linie die ausgefeilte Technik vorstellten oder die Exportstatistik. Sondern wenn wir Menschenkörper vor Augen hätten, die von Kugeln durchsiebt, von Drohnen und Minen zerrissen würden. „Ihr denkt an das abstrakte Recht, Waffen zu tragen“, sagten die Schüler in Washington. „Wir denken an unsere Mitschüler, die nie mehr mit uns sprechen, lachen, spielen werden.“

Überall, wo es menschlich zugehen soll, muss der Körper mit dem Geist untrennbar verbunden sein. Auch Christus hätte ohne Körper nicht mit den Menschen essen und trinken können, nicht schlafen und nicht weinen. Er hätte nicht heilen können und nicht trösten, nicht umarmen und nicht leiden, nicht fühlen und nicht mitgehen. Er wäre eine gute Idee geblieben, die doch nicht zur Welt gekommen wäre. Eine Idee, der wir zwar nacheifern könnten, die uns aber nicht wirklich verändert.

Denn auch das ist wahr: Dass der Auferstandene verändert, weil er selbst verändert ist. Die Emmausjünger erkennen Jesus im ersten Moment nicht. Erst Stimme und Gesten verraten seine Identität. Er ist nach wie vor ein ganzer Mensch, er trägt nach wie vor die Wunden, und doch ist er ein ganz anderer. Und damit zeigt das Ostergeschehen auch den Weg unserer eigenen Verwandlung im Glauben. Wir werden niemals Mensch sein nur mit unserem Geist, sondern erst dann lebendig, wenn wir atmen, um zu singen, wenn wir Sterbenden sanft den Arm streicheln, wenn wir den Geflüchteten und den Verlorenen unserer Tage die Hand reichen. Christlicher Glaube braucht menschliche Hände in dieser Welt.

Hanna sagt dazu: „Hauptsache, der Simon damals in Jerusalem hat zugepackt. Und damit Jesus getröstet. Und diese Idee, was wäre, wenn wir alle Gutes täten, z. B. jede Woche mindestens eine gute Tat vollbringen, ist schon cool. Fünfzigmal die tausend Leute auf dem Kreuzweg, macht 50.000 mal Gutes!“ Und ich rechne heute weiter: Kommen hinzu die knapp 2.000 gestern im Michel, Sie heute im Dom, macht schon 175.000 mal Gutes pro Jahr – und zu schön, täten es alle Christen in Lübeck und Hamburg, ja Deutschland…

Rechnen wir mit dem Leben – wie die Jugend es uns zeigt. Stehen wir auf, gegen Tod und Waffenwahn! Gegen Schöpfungs- und Menschenverachtung. Gegen dieses: „Wir können nichts tun“ sagen: „Wir können viel bewegen.“ Also aufgestanden. Werden wir Mensch, ganz und gar, wie er. Denn: Christus ist auferstanden. Halleluja. Er ist wahrhaftig auferstanden!  Halleluja.
Amen.

Datum
02.04.2018
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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