29. Oktober 2017 | Christianskirche Hamburg-Ottensen

Musik ist Leben, Lebendigkeit

29. Oktober 2017 von Kirsten Fehrs

Predigt zu NDR – Evangelischer Gottesdienst zum 500. Reformationsjubiläum

Liebe Gemeinde, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer –
Musik ist Leben. Lebendigkeit.
Wenn es dafür noch eines Beweises bedurft hätte – jetzt mit all diesen verschiedenen Klängen und Liedern im Ohr, aber auch mit dem Blick auf all die Musizierenden, die mit so einer Spiel-Freude der Musik Schönheit geben – keine Frage: Musik ist Leben – pur!

Deshalb ist es so wichtig, sie schon Kindern zu schenken. Ihnen damit einen Grundpuls vom Mutterleib an ins Herz zu senken. Einen Rhythmus, der uns lehrt ein- und auszuatmen, die Pause – nicht zu vergessen! Meine Mutter liebte es zu singen, auch mit uns Kindern gemeinsam. Und überlebensnotwendig war es außerdem, wenn sie mit uns vier Geschwistern im Auto zu meinen Großeltern fuhr: Damit auch keinem von uns schlecht wurde, sang sie die Mundorgel mit uns rauf und runter. Vielleicht kennt manch einer noch dieses alte Liederheft: Im Frühtau zu Berge - rasen die Affen durch den Wald. Singen hält gesund…

Und waren wir dann bei meiner Großmutter, gehörte es abends zum Einschlafen dazu, das wunderschöne Lied von Brahms zu singen – Gesang A. Brinkers Gut Abend gut Nacht, mit Rosen bedacht

Das ist ein so vertrauensvolles Gebet! Mit Näglein besteckt - lange habe ich als Kind überlegt, was das wohl ist – wer kommt schon auf Gewürznelken?

….Schlupf unter die Deck - ich fühle heute noch die schweren Federbetten mit ihrer Wärme…

Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Über mir sah ich dann das große Gemälde mit dem Schutzengel – in feinstem Rosa – der einem Kind über die Brücke hilft.

Ich bin sicher: Da fing ich an zu glauben. Religiös musikalisch zu werden, wie es so schön heißt. Jenseits tiefer theologischer Auseinandersetzung und auch ein wenig pietätlos war Gott für mich so etwas wie ein sehr besonderes Familienmitglied. Einer, der mich liebt und da ist – ohne körperlich anwesend zu sein. Was dann dazu führte, dass ich eine Zeitlang meinen vielbeschäftigten Vater für Gott hielt. Allemal an den seltenen Abenden wenn er mit uns sang, nicht schön zwar, aber mit großer Innigkeit. Schlaft, Prinzesschen, schlaft ein. Ich höre ihn noch. Und weiß, wie rundum glücklich ich war. Geborgen in einer größeren Ordnung, die jedes kindliche Chaos vergessen ließ.

Musik erreicht eine Tiefe, eine Dimension der Seele, die wir nicht in der Hand oder im Griff haben. Eine Dimension jenseits von Text und Intellekt, die den oft allzu fernen Gott herunter holt in mein Leben. Und deshalb kann Musik wirklich trösten. Etwas lösen. Ja, erlösen. Von verqueren Gedanken. Tiefer Verzweiflung. Von Ängsten. So wie damals König Saul es dank der Harfe wieder eine Zeitlang besser aushielt mit sich selbst.

Musik ist für mich immer ein Schlüssel gewesen, Gott nahe zu sein. Ja, etwas zu verstehen von seiner Weise uns zu begleiten und zu segnen. Er, als der Schöpfer allen Lebens hat uns den Atem eingehaucht – samt einer Pause. Damit wir seinen Geist atmen, jedes Kind und jeder Greis. Damit wir aufatmen und singen von der Hoffnung, die in uns ist. Trotz allem. Trotz all des Irrsinns in dieser Welt.

Und trotz des Chaos, schärft uns der Seher Johannes in der Offenbarung ein. Eben habe ich seine etwas komplizierten Worte vorgelesen. Johannes kämpft mit der Angst, denn er sieht, wie apokalyptische Zustände die Welt bedrohen. Die Herrschaft Roms zu seiner Zeit, etwa 100 nach Christus, kommt einem vor wie ein aktueller Nachrichtenüberblick: Unterdrückung von Religionen und Kulturen gerade im Nahen Osten, Steuerwillkür und ungerechter Handel, Kriege – so nah am heutigen Syrien - und despotische Staatenlenker. In diese Not hinein - singt!, sagt Johannes. Singt das Lied derer, die all das überwinden werden. Und sie standen an dem gläsernen Meer und hatten Gottes Harfen und sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes: Groß und wunderbar sind deine Taten, Gott.

Je mehr Katastrophenstimmung droht, desto mehr müssen Widerstand und Friedenssehnsucht wachsen, sagt Johannes. Deshalb erinnert er inmitten des Unheils das Lied des Mose, der durch Meer und Wüste hindurch gerettet wird. Go down Moses, heißt das Lied dazu. Geh Mose, heraus aus Ägyptenland!

Gesang Chor Go down Moses

Geht! Geht durch das gläserne, durchsichtige Meer, das man sich damals vorgestellt hat wie eine kristallene Schale, die die Erde umschließt. Und weil das Meer eben durchsichtig ist, kann Johannes auch in den offenen Himmel sehen und Gott bei seinem Wunder zuschauen! Er sieht, wie Gott das Meer teilt und wie die Verfolgten die Grenze zum Land der Freiheit überwinden.

Und ich höre Johannes zu uns sagen: Singt, wie Moses es tat! Auch wenn du wie er im Engpass bist, dich immer wieder verirrst, wenn du scheiterst und der Verantwortung müde bist: Sing. Nicht: „Schwierig ist die Welt, unüberwindbar die Probleme, furchtbar – natürlich! – all diese Lügen.“ Sondern im Angesicht all dessen: „Wahrhaftig und gerecht sind deine Wege, Gott. Wir sind geschaffen, auf dieser Erde mit deinen Wundern zu rechnen. Zu singen von der Verheißung einer besseren Welt!“ Singen wir von ihr, denn je stärker wir diese Vision lebendig halten, desto eher hat sie eine Chance, Wirklichkeit zu werden.

Also: Go down, Moses. Heraus aus der Gefangenschaft. Let my people go – lass es ziehn mein Volk. Vor über 50 Jahren hat 1964 dieses Lied ein Mann in der Marienkirche in Ostberlin gesungen. Lass es ziehn´ mein Volk - angesichts der Mauer, die alles andere als gläsern war. Lass es ziehn, dieses Volk - hat jener Mann gesungen, der in den USA viel berühmter ist als Martin Luther, nämlich Martin Luther King. Sein Lied der Hoffnung, sein Traum von einer gerechten Welt ist unvergessen, hat den Menschen damals Kraft gegeben und heute auch. Ich habe einen Traum, sagte er, dass eines Tages meine Kinder nicht nach der Farbe ihrer Haut, sondern nach der Qualität ihres Charakters beurteilt werden. Black and white together. Schwarz und weiß vereint. Wir werden sie überwinden: Die Angst. Den Rassismus. Das Unrecht. Die Mauern. Mag sein, auch im heutigen Amerika, das so gespalten ist und aufgewühlt. Oder hier in Europa, – bedrückend, was gerade in Spanien passiert! Europa auch, wo in so vielen Nationen die Spaltungen immer größer werden – zwischen reichen und armen Regionen, den Gewinnern und den Abgehängten. Ungerechtigkeit, die so viel Wut hervorruft und Ängste befeuert.

Gesang A. Brinkers Verleih uns Frieden gnädiglich
Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott. Auch zu unseren Zeiten!

So aktuell ist er, der gute, alte Martin Luther. Mit seinem Flehen. Bitten. Singen. Musik war Leben, auch für ihn. Mag sein, vor allem sie gab ihm die Kraft zum Widerstehen. Jedenfalls wird erzählt, dass dieser manchmal ja sehr düstere, grob gehauene Klotz mit seiner Wortgewalt in der Musik ein anderer war. Ein sanfter Mann, in sich und seinen Gott versunken, mit einer Musik, in der seine Qual aufhörte und des gnädigen Gottes Gegenwart begann. Musik stand an der Wiege der Reformation. Endlich konnten die Menschen singen, wie ihnen der Schnabel gewachsen war. Nicht auf Lateinisch, sondern auf Deutsch. Mit der Sprache des Herzens, nicht des Kopfes. Denn Glauben heißt: Mit dem Herzen wissen.

Musik erreicht das Herz. Die Tiefe unseres Seins. Sie ist Leben – auch im Angesicht des Todes. Weil sie an den Himmel glaubt, der irgendwann, wenn unzählige Tränen geweint sind und der wütende Schmerz verebbt ist, wieder hell werden kann. Und ein Zelt bietet für all die Warum‘s und die Momente der Verlassenheit. Das auch inmitten einer persönlichen Katastrophe zu glauben, ist – das verstehe ich gut – sehr schwer. Wenn wir schwer krank werden, wenn eine Ehe scheitert, wenn man die Arbeit verliert oder – und ich glaube, das ist mit das Schrecklichste – wenn einem das Kind stirbt. In einem der anrührendsten Lieder, die ich kenne, beschreibt das Eric Clapton, der begnadete Blues-Gitarrist. 1991 verunglückt sein vierjähriger Sohn tödlich, als er aus dem 53. Stock eines New Yorker Hochhauses fällt. In dem Lied „Tears in heaven“ – Tränen im Himmel – lässt der untröstliche Vater seiner Trauer freien Lauf. Musik, die mir immer wieder an die Seele geht. Am Schluss heißt es: Die Zeit kann dich zermürben, dich in die Knie zwingen. Die Zeit kann unser Herz zerreißen und dich zum Bitten und Betteln treiben. Ich bin sicher, dass es irgendwo Frieden gibt, und ich bin gewiss, dass im Himmel keine Tränen mehr fließen.

Gesang A. Brinkers Tears to heaven

…dass im Himmel keine Tränen mehr fließen. So endet ja auch sie, die Offenbarung des Sehers Johannes. Und er sieht Gott, wie er bei uns sitzt in unseren Hütten und in unseren Hochhäusern, wie er abwischt alle Tränen. Und sagt: Der Tod wird nicht mehr sein noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein. Sondern da wird sein ein neuer Himmel und eine neue Erde. 

Solange die Sonne aufgeht, gibt es Zukunft, heißt das. Also hingeschaut, liebe Schwestern und Brüder. Auf diese Zukunft für unsere Kirche und für unsere Welt. Für mich bedeutet das: Schreibt neue Lieder. Wagt Zukunftsmusik. Seid der Ton, der Herzen erweicht. Bringt Mauern zum Einsturz. Singt Wiegenlieder. Seid laut, seid leise. Seid das Trotzdem in dieser Welt. Und singt! Gebt der Welt damit ein Zeichen des Friedens.

Denn sein Friede, der höher ist als alle Vernunft, bewahrt ja unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

Datum
29.10.2017
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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