1. Januar 2020 | St. Michaelis zu Hamburg

Niemals ohne Musik!

01. Januar 2020 von Kirsten Fehrs

Neujahrsabend, Krippenandacht, Predigt zur Jahreslosung Markus 9,24

Kanzelgruß

 

Liebe Neujahrsgemeinde,

Gott steh‘ uns bei! „,Gott steh uns bei, dass wir Glück haben‘, hat Mama gesagt. Das muss Gott wohl gehört haben, denn nirgendwo ist es so schön wie im Möwenweg.“ Mit diesen vertrauensstiftenden Worten der Kinderbuchautorin, unserer neuen Hamburger Ehrenbürgerin Kirsten Boie beginnt die Geschichte der Kinder aus dem Möwenweg. Passend zum Neujahrsfest, denn da steht auch alles auf Anfang. Die Familie zieht in ein neues Haus im neuen Jahr mit lauter neuen Nachbar*innen und Kindern. Alles sehr lebensnah, finde ich, bin ich doch auch als Kind in einem Möwenweg aufgewachsen, in Dithmarschen.

Die Bücher von Kirsten Boie sind hoffnungsfrohe Neujahrsliteratur. Und die Möwenwegkinder sind ausgesprochen krippenandachtstauglich. Hören wir Tara, der Ich-Erzählerin einen kleinen Moment zu:

„Ich hatte mich grade […] auf die Bank geschlängelt, als die Weihnachtslieder plötzlich so laut geworden sind, dass alle Leute ganz erschrocken […] geguckt haben. […] Es war aber nichts Schlimmes passiert. Es war nur ein Trick, damit die vielen Leute im Saal still werden sollten und aufhören zu reden“ (Funktioniert ja manchmal auch mit dem Orgelvorspiel …) „Weil jetzt vorne nämlich ganz langsam der Vorhang aufgegangen ist, und auf der Bühne stand die ganze Pinguin-Gruppe aus dem Kindergarten, und dazwischen ist die Erzieherin Frau Kosowiak herumgelaufen und hat die Kinder auseinander gezogen und ein paar nach rechts geschoben und ein paar nach links.

Wenn man sich ein bisschen Mühe gegeben hat, konnte man ganz gut erkennen, welche Kinder die Hirten sein sollten (die hatten […] Mützen auf dem Kopf) und die Engel (die hatten Nachthemden) […]. In der Mitte stand so ein Holzkasten auf Beinen wie die, in denen in der Bücherei immer die Bilderbücher stecken, aber er war ganz mit Stroh aufgefüllt. […] Oben auf dem Stroh lag eine große Babypuppe, die hatte überhaupt nichts an und man konnte genau sehen, dass es eine Jungspuppe war. Und neben dem Büchereikasten waren vier Kinder, von denen hatten zwei ein Kopftuch um und zwei einen Bart. Da wusste man gleich, wer die Marias sein sollten und wer die Josefs.

Frau Kosowiak hat nämlich gesagt, im Kindergarten ist es besser, wenn man alle Rollen mit zwei Kindern besetzt, weil die Kinder immer so aufgeregt sind. […] Und außerdem kann dann auch jedes Kind mitspielen. Das ist ja gerechter. Ich fand es aber ein bisschen schwierig zu verstehen, was die Hirten und die Engel und die Könige gesagt haben. Leider haben die Schauspieler nämlich überhaupt nie gleichzeitig angefangen mit ihrem Satz und darum war es ziemliches Kuddelmuddel. Wie ein Kanon, da kann man ja auch nie was verstehen. Nur ohne Musik.“

Ohne Musik? Nein, niemals ohne Musik – das ist für die Krippenandachten genauso unmöglich wie für Kirchenmusikdirektor Prof. Christoph Schoener. Ohne Kanon hingegen schon eher … Lieber Christoph Schoener, das ist nun heute Ihre letzte Krippenandacht als Kirchenmusiker im Michel, eine Zäsur für alle. So sei Ihnen auch einmal von der Kanzel gedankt. Danke für alle großartige Musik, fast 22 Jahre, danke für Orgelkunst, fürs Orchestrieren, Synchronisieren und Dirigieren – auch der Ihnen treu folgenden Chorsänger*innen. So dass es eben niemals ein unverständliches Kuddelmuddel war, sondern stets allerbester Zusammenklang, niemals Zweitbesetzungen, sondern allererste Güte.

Sie haben als Kirchenmusikdirektor alle gemeinsam zum Einsatz gebracht, nicht nur punktgenau, sondern auch emotional. Denn, liebe Gemeinde, das muss ja jemand können: Nicht nur richtige Noten liefern, sondern Musik entstehen lassen, also mit einer Gemeinschaft – mit Chor, Orchester, Solisten – in eine Komposition eintauchen, sie verstehbar machen, Schwingungen aufnehmen und die Musik aufleben lassen, sei‘s Bach, Bruckner, Beethoven. Danke, lieber Christoph Schoener, für unzählige Stunden herausragender Kirchenmusik mit allen Registern. Danke auch, ganz persönlich, für Kollegialität und Humor. Ich werde die kleinen stillen, gewitzten Minuten in der Sakristei vermissen, kurz bevor‘s losgeht und – wenn man so will – der Vorhang aufgeht. Gott steh‘ uns bei beim Beginnen, das beten wir vor jedem Gottesdienst. Und: Gott steh‘ uns bei beim Verabschieden. Ich wünsche Ihnen von Herzen eine reiche Zeit in der nun nächsten Lebensphase, die sich ja auch als eine Art Umzug in ein neues Lebenshaus verstehen lässt, zum neuen Jahr mit neuen Orten und neuen Nachbarn – all dies, doch niemals ohne Musik! Darin liegt aller Dank und Segen.

Johann Sebastian respektive der Tenor sang es gerade so: „Ich will nur dir zu Ehren leben, mein Heiland, gib mir Kraft und Mut, dass es mein Herz recht eifrig tut. Stärke mich, deine Gnade würdiglich und mit Danken zu erheben.“

Kraft, Mut, Gnade und Dankbarkeit – alles gute Worte zum Anfang eines neuen Jahres. Worte, die so positiv nach vorn weisen, hin zum Krippenkind, das uns entgegenlächelt wie nur Kinder es können. Und dazu nun folgende Jahreslosung: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“

Diese Worte sind wirklich keine Fanfare. Eher ein aufgewühlter Hilferuf aus dem wirklichen Leben. Die Geschichte dazu im Markusevangelium erzählt nämlich von einem Vater, dessen Sohn von Kind an schwerkrank ist, der „Fallsucht“ total ausgeliefert. In seiner Verzweiflung hat der Vater schon alles versucht. Nun steht er – letzte Chance – vor Jesus. Gott steh‘ ihm bei, denkt Jesus. Und tatsächlich: Er vertraut sich an. Ohne Beschönigung gibt er zu, dass sein Glaube schwer angefochten ist. Da ist aus Zweifel tiefe Verzweiflung geworden. Und dann schreit er – so genau steht es im Bibeltext – schreit: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ Beides zerreißt ihn fast – einerseits das innige Vertrauen, dass Gott jedes Leben in Händen hält, und zugleich die Angst zu fallen, immer tiefer.

Und so ist diese Geschichte ganz lebensnah; ich bin sicher, dass manche unter uns solche Zeiten kennen, ja, erlitten haben. Da steht dann gar nichts mehr auf Anfang, da sind vor allem Fragen, Brüche, Anstrengung. Und diese tiefe Sehnsucht, dass sich‘s löst und wieder gut wird.

Ja, es ist eine sperrige, aber lebensnahe und vielleicht gerade darin hoffnungsvolle Jahreslosung, liebe Gemeinde, am Übergang zu den neuen Zwanzigerjahren. Einem Jahrzehnt, das womöglich Analogien hat zu jenen Zwanzigern vor hundert Jahren, war dies doch ein Wandlungsjahrzehnt ohnegleichen. Sicherlich mit Schatten, aber auch geprägt von Lebenslust und Aufbrüchen von Kultur bis Politik. Eine Demokratie wird geboren, sie allem voran, Demokratie, die immer wieder geschützt sein wollte und bis heute geschützt sein will, von anständigen, aufrechten Demokrat*innen!

Dann – ich nenne nur Stichworte: Charleston und Jazz, subversiv und widerständig geradezu diese Lebensfreude, die sich den materiellen und menschlichen Entwertungen nach einem vernichtenden Krieg entgegensetzt. Dann die Wirtschaft, die sich mit Inflation und Depression, mit Massenarbeitslosigkeit und Fließbandarbeit grundlegend umsortiert. Heute heißt die Transformation: Digitalisierung – wie wird das werden? Wohnungsnot gab‘s vor hundert Jahren schon und geradlinigen Bauhausstil, auch die Entdeckung von Natur und Lebensreform, heute sind‘s die Aufbrüche der Jugend hin zu bewussterem Leben und Klimaschutz.

Gewiss, nicht jede Parallele passt eins zu eins, aber klar ist: Es beginnt ein Jahrzehnt der Umbrüche. Und dahinein gesagt nur zwei Worte: Ich glaube. Ich vertraue mich an. Hilf meinem Unglauben. Eine Losung wie aus der Zeit gefallen? In diesen wie jenen Zwanzigern?

Ich bin überzeugt, dass hier im Gegenteil die entscheidende Frage der Zukunft gestellt wird: Glaubst du eigentlich – etwas? Was gibt dir Halt, wenn du Haltung zeigen willst? Was ist dein innerer Kompass? Kannst du sagen, woraus sich deine Hoffnung speist, wenn Angst dich quält? Wem bist du bereit zu vertrauen? – Misstrauen gibt es ja eh genug? Der Vater in unserer Geschichte wagt den Sprung in den Glauben, obwohl er untröstlich und unsicher ist und viele „unglaubliche“ Gefühle an ihm zerren. Und das Wunder geschieht; sein Sohn wird gesund.

Dem Wunder die Hand hinhalten – Glaube, liebe Gemeinde, ist der Mut zum Dennoch. Der Mut zu vertrauen, was man gerade nicht sehen kann. Der Mut zu vertrauen, wenn die Welt sich wie irrsinnig dreht. Das ist es, was das Weihnachtsoratorium immer wieder wachsingt: Kraft, Mut, Gnade und Dankbarkeit – all die Worte, die so positiv nach vorn weisen. Auf das Krippenkind hin. Es ist das Zukunftskind. Und das sagt: Schaut die Kinder. „Ihr alle seid Kinder Gottes“, stimmt der Galaterbrief ein, den wir eben als Lesung gehört haben. „Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsere Herzen!“ Nicht kindliche Naivität ist gemeint, sondern im Gegenteil: Christus im Herzen zu haben heißt, mit Wundern zu rechnen. Heißt: zu hoffen für die, die Hoffnung brauchen!

Und also! Am 8. Mai 2020 werden wir auf 75 Jahre Frieden in Deutschland und Westeuropa zurücksehen. 75 Jahre Frieden! Eine so lange Friedenszeit gab es noch nie. Wie wär‘s, dieses Wunder hingebungsvoll positiv zu feiern? Meinetwegen mit „Jauchzet, frohlocket“, und einen kräftigen Gegenakzent zu setzen gegen all das Misstrauen und die Ängstlichkeiten, gegen die Feindbilder, die neu gepflegt werden? Lasst Christus in eure Herzen, liebe Gemeinde, wir brauchen den anderen Ton in unserer Gesellschaft. Den der Menschlichkeit und des Respekts. Und der Friedfertigkeit.

Gott steht uns bei – das glaube ich. Er steht uns bei auch in diesem Jahr. Bei unseren ganz individuellen Abschieden und Neuanfängen. Wenn wir in neue Häuser ziehen oder Lebensräume. Wenn wir manche Sorge, die uns quält, einmal einen Moment loslassen, jetzt, und Christus hinhalten.

So stehen wir an der Krippe und sind getragen durch die Zeiten, junge und alte Kinder Gottes, Hirte wie Maria mit gleichem Menschenrecht. Alle mit der Sehnsucht, vertrauensvoll die neu geborene Hoffnung in unser Herz zu lassen. Und die Musik natürlich. Niemals ohne die Musik!

Ein gesegnetes neues Jahr wünsche ich Ihnen, liebe Gemeinde. Erfüllt von Frieden, höher als alle Vernunft, er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen

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