29. September 2019 | St. Wilhadi-Kirche Stade

Rede zum Michaelisempfang der Stadt Stade

29. September 2019 von Kirsten Fehrs

Titel: "Von der Menschenwürde bis zum Feiertagsschutz – Eine christliche Würdigung des Grundgesetzes"

Sehr geehrter lieber Landessuperintendent Dr. Brandi, lieber Hans-Christian,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde des ja inzwischen schon traditionellen Michaelisempfangs,

ich danke Ihnen herzlich für die Einladung. Es ist mir eine Ehre und Freude, heute hier die Michaelis-Rede halten zu dürfen – über ein Thema, das glaube ich nicht nur mich zunehmend beschäftigt: Wie diese alte ehrwürdige Dame Demokratie würdigen, halten, ihr dienen, sie pflegen? Sie hat es wahrlich verdient, ist sie doch mit ihrem Grundgesetz 70 Jahre schon Garantin der Freiheit eines jeden Individuums und zugleich Herausforderin, dieser Freiheit gemeinsam gerecht zu werden. Diese Dialektik anhand einiger ausgewählter Artikel des Grundgesetzes auszuführen – auch theologisch zu vertiefen und zu würdigen – ist ein Ziel dieser Rede. Zugleich geht es mir um Erdung. Was erleben wir im Alltag, wie wird die Demokratie mit ihrem Grundgesetz gelebt bzw gefährdet, was bedeutet es konkret, sie zu schützen und zu halten?

Von der Menschenwürde bis zum Feiertagsschutz – wie ließen sich 70 Jahre Grundgesetz besser würdigen als am Tag des Erzengels Michael (und aller Engel), der heute gefügterweise auf einen vom Grundgesetz geschützten Sonntag fällt! Gilt doch der Erzengel Michael seit mehr als tausend Jahren als Schutzpatron Deutschlands (nicht allein als Schutzherr Soldaten). Manche sagen, der vielzitierte „deutsche Michel“ hätte daher seinen Namen.

Tja, der Michael. Vermutlich bin ich nicht die Erste, die anlassbezogen bei ihm anfängt.

Er, der alte Drachentöter, geradezu martialisch dargestellt am Hamburger Michel, meiner Predigtstätte, wo er mit eiserner Faust, wehendem Gewand und scharfem Schwert durchaus furchteinflößend wirkt. Michael, der den als Drachen vorgestellten Teufel besiegt, ihn aus dem Himmel hinauswirft und die mit ihm verbündeten Engel gleich mit. Der Kämpfer für das Gute, der im Himmel aufräumt und das Böse – ja, das ist ein bisschen unschön, auf die Erde hinunter wirft. Und da ist es nun, das Böse, der alte Drachen. Und wir Menschen hier unten auf der Erde, unterhalb des aufgeräumten Himmels, haben die Aufgabe, damit zurechtzukommen, unser Leben und unser Zusammenleben zu gestalten.

Und damit bin ich mitten im Thema: Unser Grundgesetz, das seit 70 Jahren die Grundlagen für die Bundesrepublik Deutschland legt und die wichtigsten Spielregeln für unser Zusammenleben festlegt. Erst 40 Jahre lang im westlichen Teil Deutschlands, dann seit nun bald 30 Jahren in ganz Deutschland. 2019 verknüpft sich das eine Jubiläum mit dem anderen: 30 Jahre Mauerfall und friedliche Revolution in der DDR, die unser ganzes Land so verändert hat. Im Westen verbunden vor allem mit dem 9. November, dem Tag mit dem herausgelockten Wort „unverzüglich“, an dem Hunderte mit ihren Trabis noch spät nachts in unsere Städte fuhren und man auf einmal roch, dass da jede Menge Zweitakter unterwegs waren, erinnern Sie sich? In den östlichen Bundesländern hingegen gibt es viele Wende-Gedenktage, der 40. Geburtstag der DDR am 7. Oktober 1989 zum Beispiel. Menschen waren voller Empörung, aber auch voller Hoffnungen auf den Straßen und in den Kirchen. Gerade in den Kirchen, auch in der Nordkirche, in Rostock, Weimar, Greifswald – mit Kerzen und Gebeten und „Schwerter zu Pflugscharen“ hoffte man diese großartige Vision des Propheten Micha in die Wirklichkeit hinein. Aus: „Wir sind das Volk!“ wurde bald: „Wir sind ein Volk!“ Die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes mit allem, was sie möglich macht, war beinahe über Nacht zum Zeichen großer Hoffnungen und zum Sehnsuchtssymbol eines großen Aufbruchs geworden. Damals.

Das Besondere und Bemerkenswerte nun an unserem Grundgesetz ist, dass es sich gerade nicht aus solch großen Stimmungen und hoffnungsfrohen Gefühlen des Aufbruchs wie im Herbst 1989 speist. Es kommt gerade nicht mit dem triumphalen Gestus des siegreichen Erzengels daher, der in heldenhaftem Kampf das Böse besiegt und den Weg zu großer Zukunft geebnet hätte. Das ist übrigens ein wichtiger Unterschied zu anderen Verfassungen, der französischen etwa.

Das Grundgesetz kommt leise daher, demütig. Es nennt sich nicht Verfassung, weil es erst einmal provisorisch ordnen will, was erschüttert daniederliegt: Das militärisch und moralisch zerstörte und seit 1945 endlich befreite Deutschland in seinem westlichen Teil. Das Grundgesetz vollendet nicht eine erfolgreiche nationale Entwicklung. Es bietet vielmehr Halt nach der Katastrophe von nationalsozialistischer Gewaltherrschaft , einem an Grauen nicht zu überbietenden Holocaust und einem Zweitem Weltkrieg.

Die Präambel der Bremer Verfassung, die zwei Jahre vor dem Grundgesetz entstanden ist, formuliert den gemeinsamen Hintergrund treffend so:

„Erschüttert von der Vernichtung, die die autoritäre Regierung der Nationalsozialisten unter Missachtung der persönlichen Freiheit und der Würde des Menschen in der jahrhundertealten Freien Hansestadt Bremen verursacht hat, sind die Bürger dieses Landes willens, eine Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, in der die soziale Gerechtigkeit, die Menschlichkeit und der Friede gepflegt werden, in der der wirtschaftlich Schwache vor Ausbeutung geschützt und allen Arbeitswilligen ein menschenwürdiges Dasein gesichert wird.“

„Auferstanden aus Ruinen“ – ironischerweise bringen diese ersten Worte aus der alten Hymne der DDR mit einem christlichen Begriff auf den Punkt, was das Grundgesetz möglich gemacht hat. Auferstanden – aus Zerstörung, Menschenverachtung, Amoralität.

Christliche Perspektive wird hier erfasst in der so genannten „Kreuzestheologie“: nämlich der Glaube daran, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist; dass er das geknickte Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen wird; dass gerade das Wort vom Kreuz, von der Niederlage, von durchlittenem Tod die Grundlage wird für neues Leben und Hoffnung auf einen Neuanfang. Das ist der Grundton bei der Entstehung des Grundgesetzes. Und darin ist es dem christlichen Glauben unbedingt nahe.

Übrigens kann man auch dem Drachentöter Michael diese leise Seite abgewinnen. Sein Name Mi-cha-el lobt zwar die Größe und Überlegenheit Gottes. Aber er ist zugleich eine Frage: Wer ist wie Gott? Mi-cha-el? Sein Name macht ihn zu einem fragenden Engel, der jeden, der für Gott in Wort und Tat streitet, infrage stellt. Wer ist schon wie Gott? Wer müsste sich nicht das Leben immer wieder demütig schenken lassen. Aufstehen. Wieder aufstehen. Wieder neu hoffen. Wieder fragen und hinschauen und hinhören und neu anfangen. Genau dafür schafft im großen, staatlichen Rahmen das Grundgesetz die nötigen Voraussetzungen.

Und wie es die schafft! Zuallererst mit den Grundrechten, die ganz vorn in den ersten Artikeln festgehalten sind. So gut wie unveränderbar. Auf ganz besondere Weise geschützt, damit ihnen nie wieder etwas geschieht. Darauf soll man sich verlassen können:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
„Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“
„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“
„Eine Zensur findet nicht statt.“
„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“
Schon sprachlich sind diese zum Teil so kurzen, prägnanten Sätze ein Meisterwerk.
Und inhaltlich und moralisch sowieso.

Was für eine Errungenschaft sind diese Menschenrechte, die sich das Grundgesetz ja nicht ausgedacht hat, die es aber für unser Land und unsere Gesellschaft auf unnachahmliche Weise zum Ausdruck bringt. Und auch für die Menschenrechte gilt, genau wie für das Grundgesetz: Sie sind kein Siegeslied. Natürlich haben sie ihre Wurzeln in der beeindruckenden Geschichte der Aufklärung, in dem berühmten „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, wie Kant so schön formuliert hat. Aber die Menschenrechte leben ebenso sehr von den tiefen Leid- und Ohnmachtserfahrungen, die Menschen unter der Folter und in der Sklaverei gemacht haben. Ein moralisches „Nie wieder!“ schwingt darin. Aber eben auch ein sehr christliches „Trotzdem!“: Menschen können Macht missbrauchen und anderen das Leben zur Hölle machen – aber trotzdem und gerade deswegen halten wir an der Würde des Menschen und an der Schönheit des Lebens fest.

Eine kleine Nebenbemerkung möchte ich gern machen, ohne darauf allzu ausführlich einzugehen:

Manchmal klingt es so, als seien die Menschenrechte und die Grundrechte des Grundgesetzes urchristlich, als seien sie geradezu logische Folge des Christentums. Da wäre ich nun doch ein bisschen zurückhaltend, oder um es mit den Worten des Soziologen Hans Joas zu sagen: „Es sieht ein bisschen nach einem Taschenspielertrick aus, wenn etwas als Errungenschaft der eigenen Tradition beansprucht wird, was von den Vertretern derselben Tradition verdammt wurde, als es entstand.“ Denn das gehört zur historischen Wahrheit dazu: Die Kirchen haben die Menschenrechte abgelehnt, als sie entstanden. Und auch der urdemokratische Grundgedanke, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht – der fand Widerspruch bei denen, die die staatliche Macht als von Gott übertragen verstanden, auch und gerade in den Kirchen.

Vielleicht kann man sich das Verhältnis von christlichem Glauben und Grundrechten wie ein Wechselspiel vorstellen: Die Grundrechte knüpfen an wertvolle Gedanken der christlich-jüdischen Tradition an und entwickeln sie fort. Sie konkretisieren ohne Zweifel, wofür Jesus gelebt hat und eingestanden ist. Aber auch umgekehrt haben die Grundrechte großen Einfluss darauf gehabt, wie sich die Haltung und der Glaube von Christinnen und Christen in den letzten Jahren verändert und weiterentwickelt hat. Ohne das Grundgesetz, ohne die Menschenrechte würden wir anders glauben. Übrigens ist im modernen Islam ganz ähnliches zu beobachten: Auch dialoginteressierte Muslime weisen gern und immer öfter daraufhin, dass ihre Religion mit Freiheit, Menschenrechten und Demokratie nicht nur gut vereinbar ist, sondern dass dies im Islam geradezu schon mit angelegt sei.

So sind die Menschenrechte und das Grundgesetz eine gute, tragfähige Basis auch für das Miteinander der Religionen, obwohl an interreligiösen Dialog 1949 vermutlich noch niemand gedacht hat. Doch mit Artikel 4 ist unantastbar:

  1. Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
  2. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

Es lebe die Religionsfreiheit. Dazu noch einmal Hans Joas: Menschenrechte sind „nicht in eine bestimmte Tradition ‚eingesperrt‘… Infolgedessen können solche religiösen oder kulturellen Traditionen auch, ohne mit sich selbst zu brechen, neue Gemeinsamkeiten miteinander finden.“

Vom religiösen Bereich losgelöst und hineingesprochen in den Alltag unserer pluralen Gesellschaft heißt das ganz schlicht: Wir müssen reden!
Wir müssen reden – so heißt nicht umsonst eine Serie von Veröffentlichungen unseres Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier. Wir müssen reden – sagt nicht nur er. Angesichts von offen fremdenfeindlichen Reden, hate-speach im Netz, menschenverachtenden Szenen am Rande von Demonstrationen und Gewalt, die sich bis hin zum Mord entlädt – es verändert sich Grundlegendes in unserem Land. Gesprächskultur, Sprache, Gemeinschaft; all dies scheint verstört, in hochemotionaler Polarisierung. Bei einem Besuch in Cottbus und in der Oberlausitz ist mir das so nachgegangen!  

Ja, wir müssen reden. Doch wie? Wie können wir einander (noch) erreichen? Wie kann Dialog mehr sein als eine Chiffre, die ja immer so gut ankommt? Wie kann der Auftrag zum Dialog – und den haben wir als Christen ebenso wie als Demokratinnen (!) – ernsthaft etwas bewirken?

Das Dialogkonzept in der ältesten Weisheitsliteratur in der Bibel lautet wie folgt. Freundliche Reden sind Honigseim, süß für die Seele und heilsam für die Glieder. (Sprüche 16,24)

Reden, nicht schweigen. Und zwar freundlich. Wohlgemerkt nicht süßlich. Es geht nicht um Honig, den man um irgendwelche Bärte schmiert. Nicht Lobhudelei ist gemeint, sondern Auseinandersetzung im freundlichen, respektvollen Ton. Das Evangelium redet so, es ist per se freundliche Rede, würdigend und schützend für Kinder und Völker. Es ist so universal wie menschenfreundlich. Dem und der einzelnen zugewandt und zugleich mit der Idee der Gerechtigkeit, die für die Menschenfamilie auf der ganzen Erde gilt.

Das ist der universale Maßstab und führt via Aufklärung direkt ins Grundgesetz: Ausnahmslos jeder Mensch ist von Gott her gedacht eine kunstvolle Schöpfung, ist geliebt, geachtet, gewürdigt und mit unglaublich vielen Gaben gesegnet – schauen Sie sich selbst an. Und deshalb heilig, aus dem Hebräischen übersetzt: unantastbar. Nicht umsonst steht dies unserem Grundgesetz voran: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Was einem Staat heilig ist, sieht man auch daran, was er wie sanktioniert: Die höchsten Strafen gibt es in der Rechtsgeschichte für das, was sich gegen den „heiligen Kern“ des Gemeinwesens richtet: Blasphemie, Ketzerei, Hochverrat – das waren einmal todeswürdige Verbrechen.

Heute sind Mord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit die am schwersten bestraften Taten. Das Leben und die Würde des einzelnen Menschen sind zum „heiligen Kern“ geworden, der bedingungslos geschützt und unantastbar ist. Und die Todesstrafe ist ganz schlicht abgeschafft, Artikel 102 des Grundgesetzes. Nichts, kein noch so schweres Verbrechen, darf dazu führen, dass einem Menschen das Recht auf Leben aberkannt wird. Das ist jüdisch-christliche Gottebenbildlichkeit konsequent zu Ende gedacht!

Am 23. Mai hatte ich die große Ehre, bei der Geburtstagfeier des Grundgesetzes im Schloss Bellevue beim Bundespräsidenten eine Tischgruppe moderieren zu dürfen. Und ich sage Ihnen: Besser ließ sich das Grundgesetz nicht feiern, als Menschen allen Alters, aller Religionen, aller politischer Positionen jeweils an einen Tisch zu bringen und sie in aller Offenheit miteinander reden zu lassen. Demokratie geht nur so, als Dialog und, ja, als Diskussion, die auch etwas aushält. Deshalb brauchte es viel Kuchen, Süßes halt, weil manche eben auch ein bisschen sauer waren.

Und so geschah es, dass eine ältere Dame aus Württemberg, die besorgt vom Rumoren im Lande redete und vor der Überfremdung (im Osten!) warnte, vom 23-jährigen Start-Upper aus der Dresdner Szene charmant mit immer mehr Kuchen versorgt wurde, süß für die Seele. Als sie schließlich seinem Charme erlag und ein wenig lächelte, warf er ein, dass es ja auch auf die Zukunft ankäme und wie glücklich er sei, in einem demokratischen, freien und wohlhabenden Land geboren worden zu sein, in dem solche Tischgespräche möglich wären. – Genau, schloss die türkische Alevitin sich an, auch sie liebe ihr Land. Einwurf der Württembergerin: „Achja, die Türkei…“. „Nein“, entgegnete die Alevitin, „Deutschland!“ Weil es ein so fortschrittliches Land sei. Mit einem Grundgesetz, das die Gleichberechtigung von Mann und Frau gesetzlich verankert, es helfe ihr so in ihrer noch sehr traditionellen Familie in Neukölln! Und der 68-jährige Berufsschullehrer, so ein knurrig-Warmherziger, fügte hinzu: Es gäbe ja mit großer Absicht den Artikel zum Recht auf Asyl, seine Eltern wären Flüchtlinge nach diesem furchtbaren Krieg gewesen, nie wieder darf das sein, schließt er. Als wir nach 1 ½ Stunden das Gespräch zusammenfassen, sind wir friedlich unterschiedlicher Meinung – und es macht keinen sauer und tut auch nicht weh.

Zugegeben, es war wirklich Arbeit, sie alle am Tisch zu halten. Aber ich bin überzeugt, die Tischgemeinschaften der Unterschiedlichen lohnen sich. Das erfahren auch Kirchengemeinden in Hamburg, zum Beispiel in so heterogenen Stadtteilen wie St. Pauli, wenn sie mit Tischen, Stühlen und Suppe auf die Plätze gehen. Ganz so, wie biblische Propheten sich den Frieden einer Gesellschaft in Gestalt einer Tischgemeinschaft vorstellen, an der jede und jeder Platz nehmen darf. Da ist die Idee: Der große Gastgeber, Gott lädt ausnahmslos alle ein. Zu fettem Wein und Honig. Zum Kommunizieren, Brot teilen, das ist universales Menschenrecht! Feindschaften sind aufgehoben. Niemand schaut auf irgendwen herab. Alle sind Tischnachbarn – ebenbürtig und freundschaftlich. Auch im Grundgesetz zu finden übrigens, das Diskriminierungsverbot, Artikel 3.

Dabei ist meiner Beobachtung nach eines sehr interessant: im Nachdenken über das Grundgesetz und über demokratische Gesprächskultur wird immer häufiger an die Kirchen die Erwartung adressiert, Räume für solch einen friedlich-kontroversen Dialog zu schaffen. Als Institution mit Menschen und Glaubenden, die für einen brüchig gewordenen Wertekonsens steht.

Wie vor knapp vier Jahren in Glückstadt, gleich schräg gegenüber auf der anderen Seite der Elbe, wo damals die leerstehende Kaserne zur Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge wurde. Es gab Fragen und Befürchtungen, und es waren die dicken Mauern der alten Stadtkirche samt deren Verantwortliche, die für eine große öffentliche Diskussion einen sicheren Frage-, Diskussions- und Friedensraum boten. Ein gelungenes kleines Stück Demokratie, das Schutz bietet und Ängste bindet.  

Wir müssen reden. Auch angesichts eines erodierenden Europas ist das mehr als dran. Die vergangene Europawahl hat es gezeigt: rechtspopulistische und nationalistische Stimmen sind stärker geworden. Der Ton – gerade in der Flüchtlingspolitik – ist alles andere als freundlich.

Zugleich: wer hätte gedacht, dass sich die Klima-Aufbruchstimmung gerade der jüngeren Generation europaweit durchsetzt? Wer hätte geglaubt, dass eine Fridays-for-Future-Bewegung Hunderttausende auf die Straße zu friedlichen Demos lockt, Großeltern für ihre Enkel, Kinder für ihre Zukunft, ja, Politiker – und nicht nur grüne! – für eine schnellere Wende in der Klimapolitik. Nur gemeinsam lässt sich etwas bewirken – das ist die Botschaft. Eine ganz demokratische Botschaft, die dem Grundgesetz fast unmittelbar zu entspringen scheint. In einer funktionierenden Demokratie bleibt der Einzelne, die Einzelne nicht wirkungslos. Niemand ist unbedeutend. Und niemand ist nichtverantwortlich. Was wir tun oder lassen, hat Auswirkungen.

Zugleich gilt: Auswirkungen hat vor allem unser gemeinsames Handeln. Die Verantwortung und die Wirksamkeit des einzelnen Menschen kommt erst richtig zur Geltung, wenn daraus gemeinsames Handeln und gemeinsame Verantwortung wird. Auch deswegen also: Reden – über das Gemeinsame, nicht Trennende!

Gerade doch jetzt in Europa! Denn die Verwirklichung eines vereinten Europas – das ist Verfassungsauftrag, Artikel 23. Wann wenn nicht jetzt sollten Demokraten in einem angespannten Europa einstehen für Gemeinschaft und Mitmenschlichkeit?

Vor einiger Zeit war ich eingeladen zum Empfang anlässlich einer Einbürgerungs­zere­monie. 69 Menschen jeden Alters aus 20 Nationen wurden vom Landrat feierlich mit Urkunde begrüßt. Bürgermeister und Stadtpräsidentinnen waren da, um die neuen Bürger je in ihren Gemeinden mit einem Begrüßungsgeschenk willkommen zu heißen. Das war ganz großes Kino der Gefühle. Der Festsaal war proppenvoll – und natürlich gab es gut zu essen, zu trinken, und Musik: Eine Berufsschullehrerband rockte den Saal mit dem Beatles-Klassiker: With a little help from my friends.

Sehr passend, denn das Besondere war:  von den 69 Neubürgerinnen waren 38 Briten. Very british – mit lauter Namen wie Meredith Moothworth und Alister Couthelstonehall, großartig. „Sie haben noch rechtzeitig `rübergemacht“, flüstert man mir rechts und links zu, vertraute Nachbarn durchaus, man kennt die Engländer schließlich seit Jahren, zum Beispiel als Gärtner von der Arbeit in der Baumschule.

Hinterher im Gespräch mit den Briten war´s dann auch ernst. Ganze Familien würden sich wegen des Brexit zerstreiten, sagte einer. Er käme aus Durham, dort im Norden Englands ist die Stimmung noch viel „brexitischer“ als in London – und mit diesem Tag seiner Einbürgerung würde er den väterlichen Teil seiner Verwandtschaft verlieren. Unfassbar diese Zertrennung, sagt er, weil keiner gewinnt und alle verlieren. „Wir brauchen Sie und Ihre Solidarität“, sagte er, „gerade auch die Versöhnungskraft der Kirchen!“ und fügte dann später, bei Sekt und Süßem hinzu: „Wir alle teilen unser Leben in dieser einen Welt and we always need a little help from our friends.“  Wir werden immer einander brauchen, Freunde!

Aufeinander angewiesen in aller Freiheit des Unterschieds – das Grundgesetz ist – modern gesprochen – eines der aufregendsten Inklusionsmodelle überhaupt. Wie die christliche Botschaft auch. Man könnte dies noch weiter ausführen beim Asylrecht, dem Gottesbezug in der Präambel, beim Verhältnis von Staat und Kirche, bei der Devise „Eigentum verpflichtet“, bei der Sicherung des Friedens durch die dauerhafte Anerkennung der heutigen deutschen Grenzen – doch soll es jetzt genug sein. Wir können ja gleich darüber reden, wie viele Gründe es gibt, dankbar zu sein für dieses Grundgesetz und den freiheitlichen Staat, den es begründet.

Das letzte Wort nun aber soll Michael haben. Der Engel, der mir tatsächlich begegnet ist und auf den Punkt bringt, was das Grundgesetz wollte.

Kirchentag. Ich bin ins Café Inklusiv eingeladen. Ich bin total abgehetzt, soundsovielte Veranstaltung, und nun soll ich auch noch reden! Mit Michael, meinem Interviewer, er erwartet mich schon. Er ist um die 50, teilweise blind und hat eine geistige Behinderung. Vor allem aber hat er vor Aufregung wegen dieses Interviews die ganze Nacht nicht geschlafen. All das erzählt er mir, während wir auf die Bühne gehen. „Jetzt machen wir aber alles so, wie ich das geplant hab´, sagt er. „Klar“, erwidere ich, „wer zu spät kommt….“

Michael beginnt das Interview – mit einem Gebet: „Ich danke dir, Vater im Himmel, dass du auf uns alle aufgepasst hast und uns beim Kirchentag nichts passiert ist. Du begleitest uns, ohne dich kommen wir da ja auch gar nicht durch. Amen.“

Und ich denke: Junge, derweiß, wie man beten kann! Dann stellt Michael seine Fragen: was man denn so tut als Bischöferin. Beten, sage ich, gehört unbedingt dazu. Und seines sei ein ganz besonders schönes gewesen. Da strahlt er und stellt weiter seine Fragen. Klug. Ein bisschen raffiniert auch. Und weil ihm das sehr gefällt, beantwortet er die Fragen auch gleich selbst.

Als er durch ist, fragt er gespannt: „Na, wie fandest du mein Interview?“ „Großartig“, antworte ich wahrheitsgemäß, „so ein tolles Interview habe ich wirklich noch nie erlebt!“ Und er, total aus dem Häuschen: „Ach, ich bin so froh, ich bin so glücklich, dass ich das mit dir hinter mir hab´… Und jetzt will ich dich segnen.“ Und dann hält er die Hand über mir und sagt: „Lieber Gott, wir bitten dich, begleite auch die Bischöferin, dass ihr ja nix passiert. Kannst sowieso nur du. Amen.“

Ich wünsche Ihnen von Herzen, liebe Freundinnen und Freunde des Michaelisempfangs, dass Menschen immer wieder für Sie da sind, ja vielleicht sogar beten und Euch segnen. Euch würdigen. Weil wir ja oft so abgehetzt durchs Leben eilen und uns das manchmal verloren geht. Ich jedenfalls ging leichten Schrittes weiter. Mit einem tiefen inneren Frieden. Unantastbar gut.

Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.

Datum
29.09.2019
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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