25. Februar 2018 | Hauptkirche St. Michaelis

Reminszere – gedenke, wie alles anfing

25. Februar 2018 von Kirsten Fehrs

Reminszere, Predigt zu Römer 5, 1-5

Liebe Gemeinde,

„My Hope never ends!“ („Meine Hoffnung hört nie auf!“) – mit fast heiligem Ernst sagt dies der junge Syrer neben mir. Wir befinden uns in einem Weihnachtsgottesdienst der Syrisch-Orthodoxen Gemeinde in Harburg. Erst kurz zuvor war der junge Mann nach Deutschland gekommen, noch mit seiner Familie, welch ein Glück. Im Arm hält er seinen kleinen Sohn. Er, der Sohn!, hatte einen feinen Anzug aus Samt an und eine klitzekleine Fliege um. Mit großen Augen verfolgt er das Geschehen um sich herum: Hunderte von Menschen, die stehend singen und beten und den Weihrauchschwaden trotzen. Der Raum ist komplett überfüllt; wegen Flucht und Vertreibung aus der Heimat ist die Gemeinde enorm gewachsen. Rechter Hand feiern die Frauen samt Mädchenchor und linker Hand die Männer mit sonoren Gesängen. Als Ehrengast auf ebendieser linken „Männer“-Seite genieße ich die fröhliche Freundlichkeit und das großartige Gotteslob – orthodox eben:  Rühmen, Preisen, Halleluja! Einige Männer tanzen sogar, zum Teil in ärmlichsten Plastiksandalen - was macht‘s? Mir zuliebe haben sie die kurze Liturgie gewählt, die dann auch wirklich nur dreieinhalb Stunden dauert…

Ich fühle mich schon irgendwie fremd –aber keineswegs unwohl – und in dieser Fremdheitserfahrung beobachte ich fasziniert, wie all die Fremden hier längst Heimat gefunden haben. Christengemeinde als Ort der Integration! Heimatgefühl gibt die Gemeinschaft, aber auch die Melodien und vertrauten Worte des Ursprungs. Bibelwort und Gebete erklingen nämlich in aramäisch, in Jesu Sprache. Reminszere – gedenke, wie alles anfing, sagen diese Worte. Wie er, Christus, geboren wurde, und mit ihm der Traum vom Frieden. Und wie er lebendig geblieben ist, trotz all der Kriegstreiber über die Zeiten hin. Trotz Giftgasbomben, die in Syrien auf die Kinder (!) fielen. Trotz allem: Hope never ends - und ich sehe, wie der junge Syrer innig seinen kleinen Sohn an sich drückt.

„Durch ihn, Gottes Sohn, haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird.“

Ich höre diese schönen und großen und zunächst ein wenig abgehobenen Worte des Römerbriefs und denke: Was mögen der Syrer und sein Sohn hinter sich haben? An Verfolgung, Todesangst? Als Christen? Und inmitten dieser bunten ökumenischen Feier wird auf einmal glasklar, wie viele dort genau wissen, was es bedeutet, verfolgt zu sein und gebrochen zu werden, weil man Christus glaubt und bekennt.

„Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt,Geduld aberBewährung, Bewährung aber Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden.“

Das sind keine oberflächlichen Durchhalte-„Parolen“, liebe Gemeinde. Sondern Trostworte. Und sie sind stark. Vor allem deshalb, weil sie Not und Schmerz genau kennen.

So wie Paulus dieses Rom kennt. An die Christen dort hat er um 56 nach Christus einen Brief geschrieben. Er sieht Rom vor sich, diese umtriebige, laszive Stadt, die sich gern ihres  Kolosseums rühmt. Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal da waren, in dieser Arena der Superlative, in der unvorstellbar viel Blut geflossen ist. In den 400 Jahren, in denen regelmäßig Schaukämpfe stattfanden, starben dort schätzungsweise mehr als 100.000 Menschen, die Zahl der getöteten Tiere geht in die Millionen. Es ist einer der blutigsten Orte der Welt. Er gilt als Ort des Leidens und des Martyriums, an dem auch zahllose Christinnen und Christen von wilden Tieren zerfleischt oder vom Schwert hingerichtet wurden.

Dies alles hat Paulus vor Augen, wenn er sagt: „Wir rühmen uns auch der Bedrängnisse.“ Sie gehören zum Alltag der Christen, damals. Todeskämpfe in Arenen, aber auch Spott und Demütigung, Schläge und Benachteiligungen. Paulus kennt das gut, und zwar von beiden Seiten: als Täter und Opfer. War er doch einer der grausamsten Verfolger, bis er buchstäblich vom Saulus zum Paulus wurde, auf diesem Weg nach Damaskus, ausgerechnet Damaskus. Dort in Syrien, unweit von Aleppo, hat er der Gewalt abgeschworen. Sein Leben ganz und gar in den Dienst Christi gestellt. Und wird von da an wird er selbst verfolgt an Leib und Seele.

Reminszere, „Erinnere all das!“ Reminszere ist der Sonntag, an dem wir der verfolgten Christen in aller Welt gedenken. Allem voran in Syrien und im Irak. Unvorstellbare Grausamkeiten haben sie unter der Herrschaft des IS und anderer islamistischer Milizen erlitten. Und nicht wenige, die geflohen sind, leben hier in Deutschland, auch bei uns in Hamburg. Und was mir immer wieder auffällt: Keiner von ihnen denkt an Hass oder an Rache oder an Vergeltung. Das orientalische Christentum ist vermutlich eine der friedfertigsten Ausprägungen unseres Glaubens. „Der Krieg ist stets eine Sünde“, betonen die syrischen und irakischen Christen immer wieder. Es käme nur den allerwenigsten in den Sinn, sich mit Waffengewalt zu wehren, „weil wir wissen“,  so würden sie mit dem Römerbrief vorhin sagen, „weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt,Geduld aberBewährung, Bewährung aber Hoffnung…“

Schläge, Vergewaltigung, Mord, Vertreibung – ich war absolut erschüttert, was mir aramäische Christen erzählten, als ich sie in Jordanien in Flüchtlingslagern traf. Sie – und ihre Kinder! – tragen die Narben furchtbarer Verletzungen an Leib und Seele. Natürlich sind es nicht allein Christen, die im Nahen Osten leiden. Aber sie gehören mit zu der größten Gruppe. Weil sie kein geschlossenes Siedlungsgebiet haben, in das sie sich zurückziehen könnten. Weil sie als westliche Agenten gelten. Weil sie oft vergleichsweise gebildet und wohlhabend sind.

Und dann gibt es natürlich auch Menschen, die hier bei uns erst zur Taufe kommen, oft aus dem Iran. Männer und Frauen, die dort ihren christlichen Glauben heimlich gelebt haben, immer in Angst vor den Schergen des Regimes und die hier erst den Mut gefunden haben, sich zu bekennen. Die sich auf einmal auch innerlich frei fühlen, sich unseren Gemeinden anschließen. Doch auch wenn eine Pastorin bescheinigt, dass diese Menschen an  monatelangen Taufkursen teilgenommen haben, wenn sie für die Ernsthaftigkeit der Taufe bürgt: Immer wieder kommt es vor, dass Behörden und einzelne Richter dies bezweifeln, ja dass sie im Rahmen des Asylverfahrens eigene Glaubensprüfungen ansetzen, so als ob sie selbst den Menschen ins Herz schauen könnten. Und, mit Verlaub, wären Sie alle hier auskunftsfähig und könnten die Frage beantworten, was genau es mit dem Heiligen Geist und dem dreieinen Gott auf sich hat?! - Es bleibt dabei: Nach unserem Grundgesetz verbietet es sich für den Staat, die religiöse Überzeugung und das Gewissen der Menschen prüfen und beurteilen zu wollen. Es darf nicht sein, liebe Brüder und Schwestern, dass jemand unter einen Generalverdacht gestellt wird, wenn er sich zu Christus bekennt, durch den wir – wie Paulus sagt – Zugang zu Gottes Gnade haben! Alle hier.

Den christlichen Flüchtlingen gilt heute am Sonntag Reminiszere besondere Aufmerksamkeit. Und am liebsten nicht nur an diesem Sonntag. Als Kirche jedenfalls haben wir unseren Glaubensgeschwistern gegenüber die Aufgabe, Offenheit und Gastfreundschaft zu leben. Und zum Glück passiert das auch, hier im Michel und in so vielen evangelischen Gemeinden. Seit Jahren engagieren sich gerade Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe und bleiben dran! Hope never ends. Am Tag des Ehrenamtes heute sei Ihnen besonders gedankt. Sie, liebe Ehrenamtliche, sind elementar für das soziale Gesicht unseres Landes. Mit Ihrem Einsatz zeigen Sie Solidarität mit allen, die in Bedrängnis sind, welcher Art auch immer. Und gerade christliche Flüchtlinge brauchen uns, sie haben sonst keine Lobby!

Das heißt nun im Umkehrschluss nicht, dass wir die anderen ausschließen. Natürlich trägt unser Glaube auch Früchte, drängt nach außen. Solidarität unter christlichen Geschwistern ist das eine, Nächstenliebe zu jedem Menschenkind ist das andere. Gottes Hoffnung gibt niemanden auf, sage ich mit dem Syrer. Oder mit Paulus gesprochen:  „Hoffnung aber lässt dich nicht zuschanden werden, denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns allen gegeben ist.“ Und zwar längst. Und nicht nur im alten Rom. Sondern hier. Heute und jetzt.

Ein  guter Predigttext in dieser Zeit. In der manch Sorge und Angst, aber auch unverantwortliche Angstmacher uns derzeit an Grenzen bringen. Buchstäblich. Manchmal sogar im Namen des christlichen Abendlandes – welche Verdrehung! Paulus nämlich schreibt uns die Weite ins Herz und den Mut und die Besonnenheit. Geduldig und hoffend. Klug genug, Spott nicht mit Spott und Hass nicht Hass zu beantworten. Vielmehr aufmerksam dafür, welche Grenzen wir akzeptieren und welche wir überwinden müssen. Traut eurer Herzensweite, sagt Paulus, und auf einmal werden wir gewahr, wieviel wir zu verschenken haben!

Zurück zum syrisch-orthodoxen Gottesdienst. Am Schluss, nach den dreieinhalb Stunden voll Rühmens, Singens und Tanzens –da winkt der im Gegensatz zu mir noch völlig unerschöpfte Priester den kleinen Sohn meines syrischen Nachbarn zu sich. Der springt vom Arm, wippende dunkle Locken, die Fliege dreht sich fast mit seiner Geschwindigkeit und er holt ein Geschenk. Für mich. Für den Ehrengast. Eine Ikone, wunderschön. Weihnachten schenkt man sich was, sagt Priester Dan. In der Tat, denke ich und bedanke mich in meinem Grußwort für den Reichtum dieses Vormittags. Für das Miteinander. Die neuen, auch fremden Erfahrungen. Und den Segen. Den reichen Segen, füge ich hinzu, als ich sehe, dass Leute aus der Gemeinde einen Präsentkorb in Lastwagengröße vor mir abstellen. Als kleine Gabe der Gastfreundschaft, sagen sie.

Mich haben diese Menschen wochenlang begleitet, was sage ich: genährt  – und meine Gäste auch. Mit Keksen, Tomatencreme und sagenhaftem Früchtebrot. Vor allem aber mit der Hoffnung, die niemals aufhört. Sie bleibe in uns als langer Atem und weiter Aussicht. Wie auch sein Friede, höher als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und in Sinne in Christus Jesus.
Amen.

 

Datum
25.02.2018
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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