Seelsorgerin spricht über Traumaweitergabe
15. März 2019
Die Pastoralpsychologin und Leiterin der Lübecker Telefonseelsorge, Marion Böhrk-Martin, spricht im Interview über ein „German Problem“: Die Traumata der Kriegsgeneration sind durch Eltern und Großeltern über Jahre an die sogenannten „Kriegsenkel“ weitergegeben worden. Das hat, so Böhrk-Martin, die Gesellschaft nachhaltig geprägt.
Frau Böhrk-Martin, wer sind die Kriegsenkel?
Als Kriegsenkel bezeichnet man die Generation, die zwischen 1955 und 1975-80 geboren ist. Es sind die geburtenstarken Jahrgänge derjenigen, deren Eltern in der Nazizeit und im zweiten Weltkrieg Kinder und Jugendliche waren. Kriegsenkel werden sie genannt, weil da noch ein Zusammenhang besteht: ihre Eltern haben als Kinder traumatische Leiden erlebt. Sie saßen im Bombenhagel, verloren nahe Angehörige oder gingen selbst verloren. Sie bekamen die dramatischen Ängste von Erwachsenen mit, erlebten Vergewaltigungen mit, sie litten grausamen Hunger. Millionen verloren ihr Zuhause, ihre Heimat, wurden am neuen Wohnort als Flüchtlingen gedemütigt.
Was zeichnet die Kriegsenkel aus?
Viele haben die gleichen Macken, Einschränkungen oder sogar psychische Störungen wie ihre Eltern. Sie fühlen sich selbst wie Flüchtlinge. Nicht nur, dass das Alte sie festhält, sie halten auch selbst am Alten fest: kommen manchmal vom Ort ihrer Geburt oder dem Elternhaus nicht los, manche auch nicht von ihren Eltern, in deren Schuld sie sich fühlen; sie haben diffuse Heimatsehnsüchte, die nicht wirklich gestillt werden können; hängen an alten Familientraditionen, als könnten diese sie in der Welt verankern.
Festhalten am Alten oder rastloses Ungenügen - ist das wirklich ein Problem?
Oberflächlich betrachtet war alles da und die Kriegsenkel sind behütet aufgewachsen: Vater, Mutter, Geschwister, Haus, sichere Arbeitsverhältnisse. Trotzdem erlebten sie zuweilen ein stilles Drama: Kälte, emotionale Leere, kein Kuscheln, diffuse Ängste, die niemand auffing. Deshalb ist bei vielen dieser Generation heute das Grundgefühl: Unsicherheit, Haltlosigkeit, immer auf der Hut sein müssen, keine längerfristigen Bindungen eingehen können, das Gefühl nirgendwo wirklich dazu zu gehören, ein Leben mit angezogener Handbremse.
Wie sind Sie auf die Generation der Kriegsenkel gekommen?
Als ich anlässlich des 50. Jubiläums der Telefonseelsorge Lübeck recherchiert habe, was in all den Jahrzehnten so los war am Telefon, sind mir immer wiederkehrende Konflikte und Probleme aufgefallen.
Welche waren das?
Verstrickte Familiengeschichten, die dazu führten, dass die Jüngeren sich zuweilen sehr intensiv in der Betreuung und Pflege des oft allein übriggebliebenen Elternteils manchmal regelrecht selber aufgaben oder als Abwehr dagegen sich gänzlich vom Elternhaus lösten und für immer verschwanden. Es gab aber auch immer wieder Klagen der alten Eltern über die undankbaren Kinder, die doch alles gehabt hätten und ihnen nun Vorwürfe machten, dass sie depressiv seien und Burnout hätten.
Erinnern Sie sich an einen konkreten Anruf?
Eine alte Frau beispielswese rief aus dem Altenheim an. Sie läge im Sterben und würde wenigstens eines ihrer vier Kinder so gern noch einmal sehen. Die wohnten doch alle in der Nähe und würden sie schon seit Jahren nicht mehr besucht haben. Ob die Telefonseelsorge da nicht was machen könnte. Puh, das geht an die Nieren.
Sind die Kriegsenkel ein europäisches Phänomen?
Während eines internationalen Telefonseelsorge-Kongresses in Wien habe ich die europäischen Kollegen nach ähnlichen Problemen über die Jahre gefragt. „German problem!“ antwortete ein englischer Kollege. Ich war überrascht und begann zu recherchieren, stieß auf die erste Kriegskinder- und Kriegsenkelliteratur. Ein großes Symposium über die Kriegskinder haben wir dann in Lübeck organisiert. Prof. Dr. Michael Ermann aus München war dabei. Sabine Bode, die damals ihre ersten Bücher über Kriegsenkel veröffentlicht hatte, ebenfalls. Das Thema bleibt und geht mit den Fachtagen und dem Themenabend Spurensuchen in die nächste Generation.
Sie gehören selbst zur Generation der Kriegsenkel: Wie ist das bei Ihnen persönlich?
Mir selbst hat auch geholfen, nach meinen Wurzeln zu suchen. Als ich zum ersten Mal nach Danzig kam, hatte ich das Gefühl: Hier ist Heimat. Das hat mich tief bewegt. Ich bin aus Erzählungen meiner Mutter so vertraute Wege gelaufen. Hab mir das Haus angesehen in dem sie gewohnt hat. Das kann sehr heilsam sein.
Was bringt dieser Prozess?
Wir haben die Möglichkeit, zu verzeihen. So werden wir frei für die Gegenwart. Das wäre gut. Wir können nachträglich lernen, was wir als Kinder oft nicht gelernt haben: Nähe eingehen, Gefühlstiefe, innere Sicherheit und Geborgenheit, Dinge, die das Leben erfüllen und schön machen. Schließlich bei aller Wiederanbindung an unsere Wurzeln lernen wir, nicht das Leben unserer Eltern leben, sondern unser eigenes. In der Traumaforschung nennt man diese Schritte posttraumatisches Wachstum. In Akzeptanz und Verarbeitung von überfordernden Erfahrungen können neue Fähigkeiten entstehen, die für uns und andere Überleben und neues Leben sichern.
Wie kann eine Gesellschaft mit einer ganzen traumatisierten Generation umgehen?
Gehen wir tausende Jahre zurück und schauen in das Alte Testament der Bibel: Der Prophet Ezechiel hat ein klare Ansage zum Umgang mit Kriegsfolgen gemacht. Das Sprichwort „Die Väter haben die sauren Trauben gegessen und den Kindern werden die Zähne stumpf“ solle fortan nicht mehr gelten. Gott schenke ein neues Herz und einen neuen Geist. Damit werde neues Verhalten möglich.