8. Dezember 2019, 2. Advent | Hamburg, Hauptkirche St. Michaelis

Sehnsucht nach heilsamer Geborgenheit

08. Dezember 2019 von Kirsten Fehrs

Predigt zu Lukas 21, 25-33

Liebe Gemeinde,

ein sehr spannungsvoller, ungeduldiger Adventssonntag ist das heute. Mit fast düsteren Tönen in den Lesungen, ja, einem ganz eigenen Klang für die Tiefen und Untiefen im Leben. Tröstet, tröstet mein Volk, singt dieser wunderbare Jugendchor dazu.

Alles ein echter Kontrast zu dem, was die meisten Menschen, so scheint‘s, mit der Adventszeit verbinden. Ich wohne ja direkt in der Innenstadt und bin original von fünf Weihnachtsmärkten umgeben. Das ist mit dem tausendsten Jingle Bells und White Christmas nur bedingt vergnüglich.

Aber was soll‘s: Besonders ist es schon, dass sich täglich Hunderte drängeln, freuen, Gemeinschaft genießen. Klar, mit Glühwein und/oder Grünkohl, aber auch gemeinsam mit ihren Kindern, die staunend innehalten vor einer hinreißenden Kapelle der Heilsarmee, die inbrünstig Weihnachtschoräle schmettert. Da sieht man Arbeitskollegen miteinander lachen und verliebte Paare Mützen kaufen, damit einem noch wärmer wird um Kopf und Herz.

Und mir kommt dann immer der Gedanke, dass die, die sich mehr auf den Weihnachtsmärkten einfinden und weniger in unseren Kirchen, sich ganz genauso sehnen nach heilsamer Geborgenheit. Nach Liebe, die wahr ist. Nach Frieden. Nach Musik, die etwas wachruft von der Freude schöner Götterfunken. Religiös gesprochen: nach göttlichem Segen, nach Gnade, auch wenn das die allerwenigsten noch so nennen würden. Gott und Religion sind kein Thema, über das man spricht. Jedoch eine leise Sehnsucht, die man fühlt. Als am 19. Dezember 2016 das Attentat auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin unsere Nation in Schreck und Erschütterung versetzte, waren tags darauf die Kirchen voll, St. Petri, St. Jacobi, der Michel. Die Menschen brauchten einen geschützten Ort, um ihre Trauer zu zeigen, der Opfer zu gedenken und Kerzen anzuzünden. Und danach gingen Hunderte wieder auf den – nun sehr stillen – Weihnachtsmarkt, trotzig fast. Man wollte sich nicht einschüchtern lassen. Nicht die Angst sollte siegen und der Hass des Täters, sondern der Frieden.

Kann doch sein, denke ich, dass wir deshalb in unserer säkularen Welt so viele Lichterketten, was sage ich: Lichtermeere brauchen und Glanzkugeln, damit Gott wirklich ganz nach unten geholt wird. Hierher, in unser total irdisches Leben. Damit wir selbst licht werden und uns in diesem ganzen Irrsinn geschützt fühlen. Damit wir weiter hoffen können auf eine bessere Welt, die nicht vor lauter Gewalt auseinander reißt.

Deshalb dieser ungeduldige Advent heute. O Heiland, reiß die Himmel auf. Jetzt! Nicht morgen. Weil es genug ist mit Schmerz und Leid. Das ist das Lied heute. Drängend. Stürmisch: „O Heiland, reiß die Himmel auf.“ Da öffnet sich nicht der Vorhang für ein niedliches Weihnachtsmärchen. Da reißt etwas entzwei, mit gewaltiger Energie: „Reiß ab vom Himmel Tor und Tür.“ Jesaja schreibt den Text dazu: Gott soll bitte aus seiner heiligen, herrlichen Wohnung, aus seinem Himmel mal herabschauen. Er soll sich kümmern, bitte! Denn das ganze Elend der Welt schreit zum Himmel. Es schreit. Damit endlich einer kommt und es ändert.

Wir hätten schon lang keine Zeichen der Hoffnung gesehen, sagt Ibrahim Azar, der Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Heiligen Land und in Jordanien. Wir hätten lang schon die Hoffnung verloren, gäbe es nicht die Jugend mit ihrer Ungeduld und ihrer Friedenssehnsucht. Just vor ein paar Tagen haben wir ihn getroffen, während einer interreligiösen Reise nach Jerusalem. Wir, das ist das Interreligiöse Forum Hamburg: ein paar Evangelische, der Landesrabbiner Shlomo Bistritzky, eine Muslima mit ihrem Sohn, der Violine studieren will, Aleviten, Buddhisten, Bahais. Fast die ganze Welt der Religionen war auf Reisen, großartig – allerdings nicht ohne Risiko. Schon die Einreise in dieses total auf Sicherheit fixierte Land ist eine Herausforderung. Interreligiöse Pilgerreise, was soll das sein? Vier Stunden dauern die Befragungen auf dem Flughafen in Tel Aviv.

Wir haben schon lang keine Zeichen der Hoffnung gesehen – bereits am ersten Tag in Jerusalem ist für uns mit Händen zu greifen, was Bischof Azar meint. Hier ist Religion, welche auch immer, nicht nur seit über 3.000 Jahren verbunden mit heftig geglaubter Heilssehnsucht, sondern immer auch mit Konflikt und Gewalt. Hier gibt es kein Thema, das nicht mit Religion zu tun hätte.

Bischof Azar ist ein beeindruckend aufrechter Christenmensch. Und Palästinenser. Allerdings ohne, dass dies in seinem Pass stünde. In dem steht – nichts. Er ist demnach weder Israeli, noch Palästinenser. Also ist er: staatenlos. Sitzt vor uns – und ist angeblich nicht zugehörig. Umso mehr ist er beheimatet in seinem Glauben.

„Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein und sie werden verzagen.“ – Die Worte des Evangelisten Lukas, gesprochen im damaligen Jerusalem, treffen die heutige Realität furchtbar genau. Als er ein Junge war, erzählt der Bischof, spielte er mit seinen meist muslimischen Freunden vom Halbmond leidenschaftlich Fußball, Religion war egal, Hauptsache der Fallrückzieher stimmte. Am Freitag hat er auf seine Freunde vor der Moschee gewartet, bis sie fertig gebetet hatten, und am Sonntagmorgen haben die anderen auf ihn gewartet, ungeduldig, dass dieser Gottesdienst endlich zu Ende sein möge, um danach weiterzuspielen. Heute existiert eine 60 Meter breite Trasse zwischen den Religionen und Völkern und eine acht Meter hohe Mauer. Es gibt Israelis, die in ihrem Leben noch niemals einen Araber getroffen haben, und Muslime, die niemals einen Juden gesehen haben. Und das in diesem kleinen Land!

Die Luft brennt schnell in Jerusalem. Und ich denke: Unsere interreligiösen Friedensgebete hier in Hamburg nehmen sich so harmlos aus angesichts dieses Gewaltpotentials. Nein, hält Bischof Azar dagegen, jedes Gebet hilft. Jedes klare Wort auch gegen Antisemitismus. Gegen Islamfeindlichkeit. Das ist unsere Sache als Christen. Das Leid der einen muss genauso wie das Leid der anderen erinnert, betrauert und genannt werden. Dadurch genau wird Hoffnung geboren. Nie darf vergessen werden, was dem jüdischen Volk in einem unvorstellbar grausamen Holocaust angetan wurde. Also: betet. Und bleibt wach. Schaut hin. Ihr seid unsere Hoffnung. Und ich höre: „Seht auf und erhebt eure Häupter.“

Wir gehen auch in seine Kirche, die Erlöserkirche. Sitzen ganz ruhig. Nach und nach steht einer nach dem anderen auf; wir erheben uns und irgendwann die Stimme. Die Akustik trägt unseren Ton. Erst leise, dann immer deutlicher: Gib uns Frieden. Jetzt! Dona nobis pacem.

Erhebt eure Häupter. Die Erlösung naht! Er, der Friedefürst und Gottessohn, er wird kommen. Was für eine Zusage. Heißt auch: Erwartet endlich mal etwas. Singt und betet und wartet Gott herab aus diesem seinem Himmel. Denn ja, Advent ist ungeduldiges, vielleicht sogar wütendes, lautes Warten. Aber es ist niemals resignativ. Im Gegenteil: Kopf hoch, heißt die Botschaft, gebt euch nicht zufrieden. Es gibt jede Menge zu hoffen und zu erwarten. Also: Erhebt eure Häupter.

„Kopf hoch!“, sagt Jesus im Evangelium, aber nicht im oberflächlichen Sinne. Sondern: Wenn ihr euren Blick nach oben richtet, dann ist das eine grundlegende Veränderung der Perspektive. Es ist der Blick der Aufrechten – die deshalb frei sind, weil sie sich anvertrauen. Die sich getragen wissen von einem, der höher, größer, weiter ist als alles, was der Mensch in seiner Vernunft denken kann und auch, was er mitunter erleiden muss. Deshalb das Gleichnis vom Feigenbaum: „Seht den Feigenbaum an: Wenn sie jetzt ausschlagen und ihr seht es, so wisst ihr selbst, dass jetzt der Sommer nahe ist. So auch ihr: Wenn ihr seht, dass dies alles geschieht, so wisst, dass das Reich Gottes nahe ist.“

So soll es denn getröstet sein, das Volk. Und das heißt gerade nicht: vertröstet. Denn natürlich wissen wir, dass so ein Satz: „Die Völker werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres.“ heutzutage sofort unter den Vorzeichen eines dramatischen Klimawandels gehört wird. Gebe Gott, dass die Klimakonferenz in Madrid gute Früchte trägt.

Und natürlich wissen wir von Sorgen um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Wissen von Lieblosigkeit und ganz persönlichen Nöten, auch hier unter uns.

Tröstet, tröstet mein Volk – Trost ist die Sprache der Liebe, weil sie nicht vertröstet und nicht sagt, indem man wegschaut: Das Leben geht weiter, Kopf hoch. Sondern sie sucht mit dir das, was dich gefangen hält, was dich unfrei macht und bitter. Sie sagt: Schau hin. Steh auf. Sie sucht das Gebet, für dich gesprochen. Das Lied, das der Müdigkeit widersteht. Die Bitte um Verzeihung. Die Umarmung, die den Schmerz lindert. All das sucht diese Sprache der Liebe, was den Menschen innerlich wieder aufrichtet. Damit er vor sich sehen kann, was es zu hoffen und zu erwarten gibt.

Dafür, liebe Gemeinde, öffnet Gott uns heute das Herz. Damit wir die Hoffnung wagen. Über Mauern, Grenzen und Zäune hinweg. Mit brennender Geduld. Dona nobis pacem: Er, der Friede Gottes, höher als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

Datum
08.12.2019
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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