3. Juli 2017 | Sommerkirche Welt in Garding

Sympathy for the devil - und auf der Bühne ist der Teufel los!

03. Juli 2017 von Gerhard Ulrich

Auftakt der Sommerkirche Welt 2017 mit einem Vortrag des Landesbischofs

Sehr geehrte Damen und Herren,liebe Freundinnen und Freunde der Sommerkirche und der Blues- und Rockmusik!

„Herr Bischof, das geht doch nicht!!!“
Der Redakteur des NDR war aufgeregt, fassungslos geradezu.
Was war geschehen?

Vor einigen Jahren hatte mich der NDR eingeladen zu einer Interviewsendung. Man wollte wissen, wer der Bischof ist, was er denkt, welche Pläne er mit seiner Kirche hat. Das Ganze in einer netten Plauderstunde, eingebettet in eine Sendung mit viel Musik. Dazwischen: der Herr Bischof.
„Sie dürfen sich etwas wünschen, ein schönes Musikstück, das Ihnen am Herzen liegt. Das spielen wir dann während der Sendung als Ihren ganz speziellen Wunschtitel“, sagte der Redakteur ganz generös. „Gut“, sagte ich, „ich habe da einen Wunsch. Bitte spielen Sie ‚Sympathy For The Devil‘ von den Rolling Stones. Das ist mein Lieblingssong.“
Stille am anderen Ende der Leitung. Wahrscheinlich hatte der nette Mensch erwartet, ich würde mir ein Orgelkonzert von Buxtehude oder eine Choralbearbeitung von Johann Sebastian Bach wünschen, irgendetwas zur Vorstellung vom Amt eines seriösen Bischofs Passendes.
Man konnte geradezu spüren, wie dem Redakteur der Schweiß ausbrach, wie es in seinem Kopf arbeitete: wie konnte er wohl dem Bischof diese Flausen austreiben und ihn vor dieser Peinlichkeit bewahren: ein Bischof offenbart vor einem großen Publikum seine „Sympathie für den Teufel“!
„Herr Bischof, das geht nicht, bedenken Sie: das ist ein Song über Satanismus. Und die Stones? Teufelsanbeter womöglich. Nichts ist ihnen heilig. Wollen Sie tatsächlich mit denen identifiziert werden, sich outen als Fan dieser Truppe?“
Ja, als Fan dieser Truppe wollte ich mich gern outen, denn das bin ich. Schon sehr lange. Aber Identifikation ist doch noch mal etwas anderes. Und: weder sind die Stones Satanisten, noch besingt der Song den Satanismus. Er ist keine Teufelsbeschwörung. Er beschreibt die Realität des Bösen in der Welt. „Spielen Sie den Song. Ich will dann gern etwas dazu sagen in der Sendung!“
Immer wieder erlebe ich hier und in anderer Hinsicht, wie schnell Klischees entstehen und sich hartnäckig festsetzen. Ich war sicher: der Redakteur kannte den Text des Stones Songs so wenig wie die allermeisten anderen Menschen. Das Etikett hieß: Skandal! Und es haftet nahezu ewig.
Dazu kommt: alles, was mit dem Teufel zusammenhängt, mit dem Bösen, das halten wir uns vom Leib. Das Böse? Das ist woanders. Weit weg. Und dann ist es ideal, wenn sich Projektionsflächen auftun, Projektionsfiguren wie die Rolling Stones, die mit ihrem Lebenswandel die Klischees und Vorurteile geradezu bedienen – mit Lust und provokativ. Schon die Reaktionen auf den Song bestätigen, was er beschreibt. Ich werde zeigen, dass es nicht um Sympathie mit dem Teufel geht. Es geht um das, was das englische Wort eigentlich meint: „Mitgefühl“. Mit dem anderen fühlen. Sich in ihn hinein versetzen, ihn verstehen. Sich selber in dem anderen suchen und finden. Auf die Spur kommen dem, was ihn oder sie ausmacht.
Jeder Mensch braucht Mitgefühl. Wir leben davon, dass man mit uns geht, fühlt, denkt. Wir leben davon, dass man uns wertschätzt – mit den guten Seiten und mit den nicht so netten, den bösen auch. Und auch der Teufel ist nur ein Mensch… - Doch davon später mehr.

I

Ende 1961 war es, da begegneten sich Mick Jagger, 18 Jahre jung, und Keith Richards, gleiches Alter, auf dem Bahnsteig in Dartford in der Grafschaft Kent. Jagger war auf dem Weg zur London School of Economics – hatte da wohl noch die Idee, etwas Anständiges lernen zu müssen - und wartete auf den Zug nach London. Richards wollte ebenfalls nach London, zum Sidcup Art College – schon etwas avantgardistischer. Die beiden kannten sich aus ihren Kindertagen und gemeinsamen Schuljahren, hatten sich aber aus den Augen verloren. Jagger trug Schallplatten von Chuck Berry - einer Rock ’n’ Roll Legende - und Muddy Waters – dem König des Chicago Blues - unter dem Arm und sie stellten fest, dass sie die Begeisterung für diese Künstler teilten. Die beiden verabredeten sich, um Rock-’n-Roll- und Blues-Platten zu hören.

So fing die Geschichte der Rolling Stones an, die dann schließlich zu dem Ehrentitel führte: „The greatest rock & roll band in the world“.
Ich bin mit dieser Musik aufgewachsen. Klassische Musik, Choräle oder Motetten gar spielten in meiner säkularen Umwelt keine Rolle. Im Blues und in der Rockmusik der Stones, die ja eine Weiterentwicklung des Chicago-Blues eines Muddy Waters vor allem ist, fand ich wie viele meiner Generation ein Transportmittel für meine Suche, meine emotionale Reise. Denn Musik ist immer, und diese ist es zumal, mehr als nur schöne Kunst. Sie bringt zum Ausdruck das Unaussprechliche; sie birgt die Sehnsüchte; sie führt zu Antworten die Fragen des Lebens. Sie ist Kraft des Widerspruchs, des Aufstands gegen alles Stromlinienförmige. Der Blues war immer Medium im Befreiungskampf der Schwarzen in den USA, inspiriert wiederum von der Musik Afrikas, von den Gospelsongs auch. Blues und Rock sind Lebensgefühl, bringen zum Ausdruck die Ungerechtigkeit, das Unrecht. Sie geben eine Melodie der Verzweiflung, der Sehnsucht nach Freiheit und Würde. Und sie singen und spielen von der Urkraft des Lebens: der Liebe. Vom Scheitern und Gelingen; von den Abgründen der Lust und von der Einsamkeit; von der Macht über Seelen und Körper. Sie beschwören die Macht der Liebe. Sie tun das direkt, ungeschönt, zielen direkt auf die Seelen ohne Umgehung des Körperlichen.

Ich sei „ein grässlicher, jazzbeflissener Kerl“, hat einmal meine Mathematiklehrerin zu mir gesagt. Sie mochte nicht nur die Musik nicht; sie spürte, dass mit der Musik, die wir hörten und selber spielten, ihre Macht als Pädagogin der alten Schule, als Vertreterin der Wissensmacht an ihr Ende geriet: neue Zeiten, neue Geister, andere Manieren, anderer Geschmack. Blues und Rock waren ein Signal in die Gesellschaft hinein: es bahnte sich an eine Schubumkehr: Kraft von unten in Richtung derer „da oben“.

Blues und Rock haben ganze Generationen auf die Beine gebracht, ermutigt zum Aufstand gegen alle Zwänge, gegen Verdrängung der Schuld der Väter.

Sie knüpfen an auch an eine in der Reformation vor allem entdeckte Ausdruckskraft: das Singen war für Martin Luther ein zentraler Ausdruck des Glaubens, der sich über diese Welt hinaus sehnt, sich ausstreckt zu dem, was verheißen ist: es muss doch mehr als alles geben. Und wenn man sich die Choräle anguckt: auch in ihnen finden sich geradezu unglaubliche Ausdrucksweisen, das Leben, die Sehnsüchte auf den Punkt zu bringen. Musik muss nicht falsche Rücksicht nehmen.

Gerade Martin Luthers Choräle sprühen von vitaler Kraft: „Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen. Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen. Der altböse Feind mit Ernst er’s jetzt meint; groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist, auf Erd ist nicht seinsgleichen…“ – Und alle, die es hörten, wussten, wer oder was gemeint war. Der Papst, den Luther als Antichrist ausgemacht hatte, samt allen Mächten zusammen. Da konnte und kann sich jede und jeder hineinfallen lassen, mitschwingen, einstimmen.

Ein Kampflied der Reformation, gegen die Enge der weltlichen und der geistlichen Macht. Ein Aufstandslied. Wie später auch das Adventslied „O Heiland, reiß die Himmel auf“: Sehnsuchtslied für alle, die ein Ende aller Gewalt und Unterdrückung ersehnen und von Gott alles erwarten. Reiß ab, wo Schloss und Riegel für…

Das Singen stärkt die Gemeinschaft, vergewissert sie des gemeinsamen Halts, bringt Menschen zusammen. Lieder drücken stellvertretend aus, was alle Menschen umtreibt: die Frage nach dem Leben, nach seinem Grund und nach seinem Halt; nach dem Woher des Bösen.

II

Sympathy for the Devil: das Stück hatte eine längere Geburt. Die Rolling Stones kamen ohne Vorbereitung ins Studio und entwickelte das Musikstück improvisatorisch im Laufe der Sessions. Sie fanden im Juni 1968 in den Olympic Studios in London statt. Die Truppe fing an mit einem Liedtext von Mick Jagger: Arbeitstitel „The Devil Is My Name“.

Die Geburt von „Sympathy for the Devil“ war nicht nur keine Sturzgeburt. Eine Kopfgeburt war es sowieso nicht. Doch sie war auch dramatisch: Während der Studioaufnahmen der Rolling Stones kam es zu einem Brand in den Olympic Studios, ausgelöst durch heiße Filmscheinwerfer. Alle Anwesenden konnten aus dem brennenden Studio fliehen, bei den Löscharbeiten der Feuerwehr wurden jedoch die Studiogeräte und die Musikinstrumente der Band zerstört. Die Tonbänder mit den Aufnahmen von Sympathy for the Devil konnten aber gerettet werden. Hatte der Teufel einen Schutzengel?

Doch damit noch nicht genug der Dramatik. Dass  Jagger den Teufel im Song darstellte und dass scheinbar Sympathie für ihn gefordert wurde –  es beeinflusste lange den Ruf der Rolling Stones. Unter Anhängern und Gegnern der Band erst recht kursierten Gerüchte über mögliche satanistische Tendenzen der Musiker. Die übliche Form der Abwehr – damals wie heute.

Unbestritten ist, dass okkulte Strömungen bei Rolling Stones-Boss Mick Jagger privat durchaus eine Zeitlang auf Interesse stießen. Er war ein Mensch auf der Suche. Die Antworten, die die materialistisch ausgerichtete Wohlstandgesellschaft gab, reichten ihm nicht. Er war in einem sehr weiten Sinne religiös unterwegs.

III

Der Teufel in dem Lied ist ein höflicher Mann: „ Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle. Ich bin ein Mann mit Reichtum und Geschmack. Ich gehe hier schon viele, viele Jahre um. Raube vielen die Seele und das Schicksal…“ Es hat gute Manieren, das Böse.

Erst, nachdem er sich den Hörern vorgestellt hat, beginnt er zu erzählen, dass er bei zentralen historischen und zeitgenössischen Ereignissen dabei gewesen sei: So hatte er seine Hand im Spiel, als Jesus Christus zweifelte und litt. Er habe auch dafür gesorgt, dass Pontius Pilatus dessen Schicksal besiegelte und sich dabei die Hände in Unschuld waschen konnte. Auch an der russischen Oktoberrevolution sei er beteiligt gewesen und für die Ermordung der Zarenfamilie verantwortlich. Während des Zweiten Weltkrieges hätte er als Panzergeneral  Blitzkriege geführt. „Des Teufels General“ ist hier von Luzifer selbst nicht mehr zu unterscheiden. Schließlich stellt der Teufel die Frage, wer „die Kennedys“ ermordet habe und beantwortet sie selber mit der Erwägung „after all it was you and me“ - eigentlich waren es du und ich. Das Böse, das Teuflische: es ist nicht weit weg, nicht bei „den anderen“.

Der Teufel scheint etwas zu sein, das nicht so einfach von dir und mir zu unterscheiden ist. Das ist die Realität des Bösen. Übrigens: In frühen Fassungen des Textes wurde allein die Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy erwähnt. Nachdem am 6. Juni 1968 auch dessen Bruder, Senator Robert F. Kennedy, ermordet worden war, änderten die Rolling Stones diese Textzeile. Sie meinen also ernst was sie schreiben. Ihr Lied ist Gegenwartsdeutung. Später sangen andere Musiker, die „Erste Allgemeine Verunsicherung“ aus Österreich: „…das Böse ist immer und überall…“ Eine Adaption dieses Urthemas der Menschheit: woher kommt das Böse? Wie können wir es loswerden? Es ist da, wo du bist, wo ich bin; es ist mit dir und mir. Nicht abzuschütteln.

Der Teufel beschreibt sich in dem Stones-Song als Mann von Wohlstand und Geschmack. Einer, mit dem man sich gerne in Szenebars sehen lässt, dessen Nähe man sucht und froh ist, ihn duzen zu dürfen. Was also eingefordert wird – Sympathie – ist längst und immer schon erfüllt. Mitgefühl mit dem Teufel, mitfühlen mit dem Bösen. Das ist leicht. Denn wir fühlen ja mit uns selbst. Wo wir das Mitgefühl mit ihm verweigern – verweigern wir es uns selbst!

Was aber verwirrend, was puzzling an ihm ist: das ist sein Wesen – „the nature of my game“. Das Böse ist schwer zu erkennen und nicht einfach auszugrenzen. Wer ihm begegnet, den bittet er um Höflichkeit, Mitgefühl und Geschmack. Er ist das, was man einen gut erzogenen Menschen nennt. Anderenfalls jedoch, wenn du nicht tust, wie ich es dir nahelege, „werde ich deine Seele zerstören“. Doch hat nicht auch jener verloren, der sich auf  die Regeln des Teufels einlässt  - auch wenn der als Gentleman daherkommt? Und was meint der Vers: „nutzt all eure einstudierten Manieren…“ Rettet das vor ihm? Können wir vielleicht gar nicht anders, als mit dem Teufel ein Tänzchen zu wagen - dürfen es aber nicht zu weit treiben?

Mich erinnert das an William Shakespeares Komödie der Irrungen, Vierter Aufzug, Dritte Szene. Und Shakespeares markante Zitate sind Standardbildung in England. Bei Mick Jagger waren sie es sicher auch. In der dritten Szene, da sagt einer: „Nun, mein' Seel', der braucht einen langen Löffel, der mit dem Teufel ißt.“  Warum? Weil der Teufel in verführerischer Schönheit daherkommt. Bei Shakespeare als bezaubernde Kurtisane. Und einer, der ihr auf den Leim geht, ruft erschrocken: Herr, ist dies Mädchen der Satan?

Und beantwortet sich die Frage dann selbst im Komparativ, im Steigerungsmodus: „Nein, sie ist noch was Schlimmres, sie ist des Teufels Großmutter; und hier kommt sie und scheint ins Feld wie eine leichte Schöne oder eine schöne Leuchte. Denn, wenn die leichten Dirnen sagen, »Gott verdamme mich«, so heißt das eigentlich so viel als »Gott laß mich eine Leuchte werden«: denn es steht geschrieben, sie erscheinen den Menschen wie leuchtende Engel; alle Leuchten aber sind feurig, und Feuer brennt; ergo, wenn sie zu den Leichten gehören, verbrennt man sich an ihnen; darum kommt ihr nicht zu nah!“

Der schöne Schein, den Luzifer entfalten kann… Seinem Locken ist schwer zu widerstehen…

Doch wer sich mit ihm einlässt, der verbrennt wie die Motte im Licht und findet sich noch im Verglühen wunderschön und groß. Können wir uns gar nicht vor Satan schützen? Ist er  vielleicht in jedem von uns? Können wir unterscheiden Himmel von Hölle – so singen Pink Floyd, wie wir eben gehört haben.

Zurück zu Sympathy for the devil. Zum Schluss fragt er: „Sag mir, Baby, kennst du meinen Namen?“ Als ob er die Kurtisane von eben anredet, die dann doch nicht der Teufel ist, nur mit zu kurzem Löffel mit ihm ißt – wie wir alle vielleicht. Dann gibt auch bei den Rolling Stones der Teufel selbst die Antwort auf seine Frage: „Ich sag’s dir nur einmal, es ist deine Schuld.“: Ja, du trägst Verantwortung. Wir lassen uns, ich lasse mich immer wieder verführen. Darum kommt auch auf die Frage,  wer „die Kennedys“ ermordet habe, die nachdenkliche Antwort von ihm selbst: „eigentlich waren es du und ich“.

Wenn ich mit dem Teufel einen Pakt schließe, dann löst sich das Wahre, das Gute, das Schöne auf. Verkehrt sich Gutes in Böses, Schlechtes in Schönes: und der Polizist ist auch Verbrecher, alle Sünder dafür Heilige. Beim Münzenwerfen sind Kopf und Zahl das Gleiche – so der Stones-Text.

Die Verführungen des Teufels stehen stets neben uns, bieten sich uns an, strecken ihre charmanten Hände aus: Du kannst Macht bekommen, wenn du die andern vergisst, kannst berühmt werden, wenn du nur an dich denkst. Kannst Siege im Panzer erringen, wenn dir die andern egal sind. Kannst schnell ein nettes Haus mit Garten haben, wenn du vergisst, was deine Rendite in anderen Ländern anrichtet. Das ist der Teufel, von dem die Stones singen: unsere Verführbarkeit. Und das ist eine Seite in uns, die zieht uns an. Das sind wir. Diese Form des Mitgefühls ist tatsächlich so etwas wie „Sympathie“! Daran hängt es, ob die Kraft des Bösen sich entfalten kann, Macht bekommt über Seelen und Herzen, Strukturen und Programme. Wie all unsere Kraft, wie all unsere Gaben sich nur entfalten können, wenn und weil einer sagt: du bist gut, du kannst das, du machst das – du schaffst das! Das gilt für Gutes wie für Böses.

IV

Sympathy for the devil: Inspiriert sind die Stones von Bulgakows Roman "Der Meister und Margarita”. Als das Buch endlich in Russland gedruckt werden durfte, wurde es wie eine brisante Flugschrift gelesen und zugleich als Wunderwerk wahrgenommen. In ganz Osteuropa wurde der "Meister" zum Kultbuch und ist es bis heute geblieben. Auch im Westen war die Wirkung beträchtlich. Mick Jagger schrieb nach der Lektüre den Song "Sympathy for the Devil".

Es geht in dem Roman um die menschlichen Werte: Gut und Böse, Gott und Teufel, Leben und Tod. Die Erlösung aller Beteiligten, die sich verstrickt haben in heilloses Dasein, darum geht es. Deshalb der Hauptgedanke: Keine größere Sünde gibt es: als die Feigheit. Denn keine der Romanfiguren ist wirklich bereit, mit der  höheren Macht zu kämpfen – sei es die Staatsmacht, sei es der Satan. Mitmachen, in der Horde mittrotten, weil es drinnen vermeintlich warm und trocken ist, egal was draußen passiert, nicht widersprechen, nicht hinterfragen, die hohle Fassade nicht abklopfen, keinen Widerstand leisten. „Es ist dir gesagt Mensch, was gut ist“: - Vergessen! Das ist Sünde. Das ist die Wurzel des Bösen, leichtes Spiel für den Teufel in jeder Gestalt. Das ist die Freundlichkeit, die Zurückhaltung, der Geschmack; das sind die einstudierten Manieren, die der Teufel bei den Stones einfordert. So bedienen wir das Böse. Nicht nur, wenn wir die Waffen selbst in die Hand nehmen, sondern schon, wenn wir die Augen schließen vor der Gewalt, mit der diese Welt überzogen wird, mit der Menschen in die Flucht geschlagen werden. Wenn wir der Freundlichkeit jener auf den Leim gehen, die ihre Geschäfte machen auf Kosten der armen Länder und auf Kosten der Schöpfung. Wenn wir hinnehmen, dass durch unseren Lebensstil hier die Welt auf der anderen Seide der Erdkugel aus den Fugen gerät, austrocknet. Wenn wir die Aggression exportieren und irgendwie staunend hinnehmen, dass unser Land der drittgrößte Waffenexporteur der Welt ist und die, die zu uns kommen, auf ihrer Flucht oft in Gewehrläufe geschaut haben, die hier produziert wurden. Auch durch freundliches Abschieben werden wir diesen Teufel nicht vom Pelz bekommen. Er stellt sich uns freundlich vor, immer wieder, immer neu, der Mann von Reichtum und Geschmack, der mit Schadenfreude zusieht, wie Könige kämpfen, indem sie den Namen Gottes missbrauchen, und wie sie fallenlassen, wen sie gerade erhöht hatten.

Als in den 1960er Jahren der Wohlstand in Westeuropa wuchs, nach Nachkriegsnöten alle genug hatten – in einem guten Sinne: genug für alle da war (in Westeuropa jedenfalls) -, aber keiner fragte: warum müssen wir immer mehr investieren, mehr verdienen, statt weniger zu arbeiten und mehr vom Leben zu haben. Da sangen Mick Jagger und andere: Dass wir uns das Leben wiederholen sollen, das pulsierende Leben, das mit Begeisterung und Ektase, das Leben jenseits der Streichholzschachtel, in die wir gepackt werden, und ohne den ständigen Blick auf den Wohnzimmerwandschrank im Gelsenkirchener Barock.

Aber sie sangen auch: „You  can’t always get what you want…“

V

Anders als bei Bulgakow ist bei Jagger und seinen Mannen der Teufel aber nicht heimlicher Helfer der Erlösung aus heillosem Dasein zu echtem Leben. Er ist der Verführer, der Διάβολος, der ‚Durcheinanderwerfer‘ im Sinne von ‚Verwirrer, Faktenverdreher: aus διά ‚auseinander‘ und βάλλειν ‚werfen‘ – das sind die beiden Teile, aus denen sich das griechische Wort ‚Diabolos‘ zusammensetzt. Gegen ihn müssen wir uns erheben, protestieren, kämpfen: auch gegen das Establishment, in dem er steckt, und von dem wir zugleich auch ein Teil sind.

Das erinnert mich an Luther, dem der Teufel auch immer dicht auf den Fersen war, für den der Satan ganz dicht an jedem von uns ist. Plastisch beschreibt Luther einmal: ihm habe sich ein schwarzer Hund ins Bett gelegt und er habe gemerkt, der schwarze Hund, das sei eigentlich der Teufel gewesen. Der Beweis dafür ist, er hat den Hund gepackt und zum Fenster hinaus geworfen und hat hinterher geschaut und unten lag kein Hundekadaver. Also muss der überlebt haben, das konnte nur der Teufel, es war kein echter Hund. So schildert Luther seinen Umgang mit dem Teufel.

Luther war kein Held – auch wenn er, gerade in diesen Zeiten, auf Sockel gehoben und in Plastikfiguren gegossen, verehrt wird. Luther war ein Kind seiner Zeit… Und diese Zeit war geprägt von der Angst vor dem Bösen. Der Teufel hatte konkrete Gestalten: die Pest, die unbesiegbaren Krankheiten; die Nöte von Hunger und Armut. Und dann die Mächtigen in Staat und Kirche jener Zeit, die die Unwissenden knechteten. Die Magie des Bösen, die Teufelsgegenwart war ein Geschäftsmodell gar: der Ablasshandel galt ja der Sedierung des Bösen in jedem einzelnen Menschen.

Martin Luther hatte seine Begegnungen mit dem Bösen, der Teufel trat ihm oft genug in den Weg. Er aber wollte nicht länger freundlich mit ihm sein, kein Mitgefühl mehr mit dem Teufel, weg mit den einstudierten Manieren. Jesu Kampf gegen den Teufel, den großen Versucher, der ihm Macht und Einfluss versprach, wenn er sich unterwarf: dieser Kampf wurde Luther zum Vorbild. „Niemand lebt vom Brot allein, sondern von einem jeglichem Wort, das aus des Herrn Mund geht…“ Das Studium der Heiligen Schrift brachte Luther auf die Spur des Bösen: es kommt tatsächlich fast alltäglich daher, gut getarnt. Ist in jedem von uns. Und er entdeckte: nicht weltliche Macht ist gewachsen dem Bösen. Gott allein ist es. Das ist der Urgrund der Freiheit, dass Gott vergibt, liebt, aufrichtet. Klar und ohne Manieren. Nicht, weil es egal wäre, ob gut oder böse. Aber weil Gott sich uns zuwendet im Guten wie im Bösen, können wir aufstehen gegen das Böse in der Welt: „Der Fürst dieser Welt, wie sau’r er sich stellt, tut er uns doch nicht; das macht, er ist gericht‘: ein Wörtlein kann ihn fällen.“

Für Gott gilt: Sympathy for the mankind! – Mitgefühl mit dem Menschen!

Der Mensch, so Luther, wird entweder von Gott oder vom Teufel geritten. Geritten werden wir immer. Wir sind nicht frei, nicht groß, nicht stark. Aber wir haben doch die Freiheit zu entscheiden, an wen wir uns anlehnen, woher wir uns Kraft holen, worauf wir hören. Es geht nicht darum mich zu kasteien, um frei vom Bösen zu werden. Es geht auch nicht um gute Werke, die ich tun muss. Es geht nicht um meine Leistungen. Es geht darum, worauf ich vertraue. Woran ich mein Herz hänge – das ist mein Gott oder mein Götze. Worauf ich mich einlasse. Woran ich mich binde eben: An den Teufel – den Egoismus, die Kurzsichtigkeit, den exklusiven Club auf Kosten anderer. Das ist Bindung an die Bindungslosigkeit, an die Willkürfreiheit derer, die grade oben schwimmen. Oder ich binde mich an Gott - an die Gemeinschaft, in der genug für alle ist, die keinen ausschließt und die über den Tellerrand der eigenen Bedürfnisse hinausschaut.

VI

„Sympathy for the devil“ ist nicht das Einzige, was die Stones intonieren. Wir haben vorhin gehört „Prodigal son“ – Der Verlorene Sohn. Sie haben vertont das Gleichnis vom Verlorenen Sohn, das Gegenstück eigentlich zur Teufelsgeschichte. Die Geschichte von einem, der auszog, das Leben zu suchen, es im Bösen verlor. Und der umkehrt. Und empfangen wird vom Vater, der ihn liebt. Trotz allem. Der ihn hält. So dass er weiß, der Sohn, wohin er gehört. Und wieder frei wird, sein Leben zu leben.

 „Der Christenmensch ist ein freier Herr und niemand untertan; der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan“. Dieser zentrale Satz Martin Luthers ist der Ruf gegen das Werben des Teufel in vielfältiger Gestalt.

Das ist Kernsatz der Reformation! Das ist der Kern der Reformation: Freiheit zu leben von Zwängen kirchlicher oder weltlicher Obrigkeit; wieder atmen können als Mensch mit eigener Würde und Größe vor Gott und in der Welt: frei, angenommen, wertgeschätzt, geliebt, freundlich angesehen. Nicht abgestraft, mit Höllenqualen bedroht. Nicht hilflos ausgesetzt dem Bösen.

In seiner Flugschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ fasst Martin Luther 1520 die Reformation zusammen: der Mensch lebt aus der Gnade, aus der Liebe Gottes, weil er Geschöpf Gottes ist: sehr gut gemacht. So spricht Gott, nachdem er den Menschen geschaffen hatte und sein Werk betrachtet hatte: „siehe, es war sehr gut!“

Der Mensch ist nicht wertvoll, wenn und so viel er Gutes tut, schon gar nicht, wenn und solange er freundlich ist und zurückhaltend; sondern weil Gott ihn so ansieht und gut von ihm spricht! Das macht frei von allen Zwängen, mich beweisen zu müssen! Das ist kein Widerspruch, keine Einschränkung. Das ist das ursprüngliche und einzige Freiheitsverständnis, das den Namen verdient. Und das ist ein anderes als das, was wir heute so oft wahrnehmen. Heute ist der Freiheitsbegriff degeneriert, verkommen: „ich bin so frei; mir kann keiner; ich tue, was ich will; bin mein eigener Herr; ich komme oder bleibe weg; ich muss mich nicht kümmern…“

But you can’t always get what you want…, singen die Stones auch.

Dieses heutige Freiheitsverständnis ist für so Vieles in dieser Gesellschaft der Grund: für Populismus, Egoismus, falsch verstandenen Individualismus; für Rücksichtslosigkeit aller Art, die in  weißem Kragen daherkommt und um freundliche Nachsicht bittet.

Der Christenmensch gewinnt Freiheit, weil er gebunden ist an Gottes Wort. Er übernimmt Verantwortung, indem er in dieser Bindung sein Leben gestaltet – und andere dabei mitnimmt. „…und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt‘ uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns wohl gelingen…“

VII

Zum Schluss noch einmal der Anfang: Ende 1961- Mick Jagger und Keith Richards begegnen sich auf dem Bahnsteig in Dartford in der Grafschaft Kent.

So fing die Geschichte der Rolling Stones an… Mit einer Suche – glaube ich. Sie machten sich auf den Weg, weg von falschen Zwängen, hin zu einer Freiheit, die sie wirklich trägt. Das – so denke ich – haben sie mit Martin Luther gemeinsam: diese Suche nach Freiheit, die einen zugleich trägt. Ihre Antworten sind sicher unterschiedlich. Und das ist gut so. Denn Freiheit atmet nicht ohne Vielfalt, ohne Unterschiede, die gelebt und akzeptiert werden, um die gerungen und gestritten wird: friedlich.

„Sympathy for the devil“ bietet keine Antwort auf das Böse. Aber der Song beschreibt die Struktur des Bösen in der Welt. Es ist nicht einfach auszumachen. Es ist auch nicht einfach woanders. Es ist, wo ich auch bin. Und die Freundlichkeit, die der Teufel in dem Song einklagt, ist nicht die Freundlichkeit dem Bösen gegenüber, sondern die dem Menschen geltende Freundlichkeit.

Zwar verschmelzen Gut und Böse in dieser Welt tatsächlich, werden, das ist das Teuflische, nicht einfach identifizierbar. Nicht klar zu trennen in Täter und Opfer. So bleibt der Song das, was Blues und Rock immer sind, was Choräle immer zum Ausdruck bringen: Ruf nach Befreiung – oder, wie wir theologisch sagen, Ruf nach Erlösung. Dass nichts bleiben muss wie es ist.

Weil da einer ist, der dem Bösen in die Parade fährt, dem Bösen begegnet mit Gutem, es ausspielt: Jesus Christus, dessen Freundlichkeit nicht dem Bösen gilt, aber dem Menschen, der oft genug Träger des Bösen ist. Mit ihm sind wir einen Schritt weiter, als der Song gehen will. Wir kennen, was frei macht.

Selig sind die Barmherzigen, denn ihnen gehört das Himmelreich.

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