9. April 2017 | Dom zu Lübeck

Wir erinnern die Erinnerung

09. April 2017 von Kirsten Fehrs

Sonntag Palmarum, Goldene Konfirmation, Gedenken an die Notkonfirmation 1937 in Mölln und die Bombardierung Lübecks Palmarum 1942, Predigt zu Joh 12, 12-19

Gnade und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

 

Liebe Gemeinde,

Feststimmung liegt in der Luft. Die Menschen jubeln, als Jesus in Jerusalem einzieht. Kleider und Palmwedel breiten sie aus, und so hat dieser Sonntag seinen Namen bekommen: Palmarum - Palmsonntag. „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn“ – Gesang erfüllt die Straßen Jerusalems, so wie hier heute diesen Dom.

So viele Menschen haben sich auch heute hierher auf den Weg gemacht. Eine große Menge. Angelockt von ihm, der da kommt, dem König auf dem Eselsfüllen. Viele Männer, Frauen und Kinder, mit ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten und Erfahrungen. So wie damals. Et voilá, schauen wir, wer gerade jetzt am Wegesrand steht.

Ich begrüße zunächst ganz herzlich Sie, liebe Goldkonfirmandinnen. Vor unglaublichen 50 Jahren standen Sie schon einmal am Altar und empfingen den Konfirmationssegen. Was mag Sie damals, 1967, alles beschäftigt haben? Wer und was war Ihnen damals wichtig? Die Rückschau lässt sicher viele Bilder und Emotionen wach werden. Denn Erinnerung rührt ja tatsächlich „ans Innerste“. Berührend deshalb auch, wie Sie eben erneut gesegnet wurden. Mögen Sie behütet bleiben und voller Zuversicht, auch wenn es schwere Zeiten zu bestehen gibt, das alles wünsche ich Ihnen von Herzen!

Palmsonntag – traditionell der Tag der Konfirmation. Auch 1942. Und keinerlei Feststimmung lag in der Luft. Damals erlebte die Stadt wohl den bittersten Palmsonntag ihrer Geschichte. 75 Jahre ist es her, als Tausende von Brandbomben auf die Stadt fielen und Lübeck in ein flammendes Inferno verwandelte. Zeitzeugen haben uns ihre erschütternden Erinnerungen anvertraut - es sind Etliche heute unter uns, willkommen Ihnen! Danke, dass Sie Ihre Erinnerungen mit uns teilen. Mir ist beim Lesen immer wieder durch den Sinn gegangen, wie sich Erinnerung buchstäblich ins Gedächtnis „einbrennen“ kann  – Bilder, die man nie vergisst. 

So auch die vom Palmsonntag 1937. Pastor Klatt hat eben die Geschichte der beeindruckenden „Möllner Notkonfirmation“  erzählt. 1000 Lübecker bekennen sich zu Jesus Christus, dem wahren König. Dem wahren Herrscher, der mit Sanftmut einzieht und nicht mit Fanfaren. Und dies nicht nur in die Stadt. Sondern auch in die Kirche. Damit sie von Barmherzigkeit geleitet werde und nicht mit bischöflicher Repression und Gewalt.  Wir er-innern mit dieser faszinierenden Geschichte nichts weniger als unser Bekenntnis, eine mutige bekennende Kirche. Und ich freue mich sehr, dass Sie, liebe Frau Freier, tatsächlich heute gekommen sind, um mit uns den besonderen 80. Jahrestag Ihrer Konfirmation zu begehen.

So ist es nun ein ganz besonderer Sonntag heute, der geprägt ist von unterschiedlichen Gefühlen: Einerseits Jubel und Freude, Feierlichkeit. Andererseits der Beginn der traurigsten Woche des Jahres, der Karwoche. Und gerade in Lübeck erfüllt mit vielen, auch vielen bitteren Erinnerungen.

Es ist so gut, hier unter diesem bergenden Dach des Domes, dass wir die Erinnerungen teilen können. Die Erinnerung gehört ja zu den wertvollsten Gaben, die Gott uns Menschen geschenkt hat. Wir leben aus dem heraus, was wir in früheren Momenten als Sinneseindruck gesammelt und in unserem Gedächtnis aufbewahrt haben. Ich erinnere spontan zum Thema Konfirmation…: die erste Zigarre, die mein Bruder auf seiner Konfirmation zu probieren sich allseits ermuntert sah. (Das hätte er lassen sollen). Oder der beeindruckende Geschenkeberg für meine Schwester mit diesem tollen rosa Frisierumhang aus Polyester. Heiß habe ich sie beneidet! Und wollte unbedingt auch sofort konfirmiert werden. Dann – viel früher – die Erinnerung an das abendliche Wiegenlied meines Vaters, innig und schräg zugleich, oder das Lachen meiner Mutter, ich habe all dies immer noch im Ohr.

Erinnerungen – einerseits – sind Festigung des Guten. Tragenden. Das, was einen stabil macht und sicher. Konfirmation selbst ist ja stärkende Erinnerung, dass ich getauft bin und gesegnet, ein Leben lang, und „in Christus eingesenkt“ (wie es im Lied eben hieß).

Andererseits enthält Erinnerung auch immer wieder Erschütterndes. Innere Bilder des Schreckens. Sie werden manchmal erst nach Jahrzehnten hochgerissen. Lassen einen nicht los. Auch solch traurige und angstmachende, gar traumatischen Erinnerungen trägt jeder Mensch mit sich herum: als dunkles Erbe durchlittener Zeit und als Narben auf der Seele.

Das gilt ganz besonders für die Erlebnisse im Krieg. Mit großer Anteilnahme höre und lese ich die Erlebnisse der Zeitzeugen, als am 28. März 1942 um kurz vor Mitternacht 25.000 Bomben auf Lübeck fielen. Als die Häuser brannten wie Zunder und die Menschen während der Löscharbeiten von Sprengbomben zerrissen wurden. Über 300 Leute starben allein in dieser Nacht.  Am Palmsonntag dann, ausgerechnet, wankten die brennenden Domtürme und stürzten ein. Vor aller Augen. Das schützende Dach der Kirche – ein Trümmerhaufen. Kyrie eleison, Herr erbarme dich! Ich denke, wer das gesehen und erlebt hat, der vergisst es nie.

So schmerzhaft diese Erinnerung ist, liebe Gemeinde, sie ist zugleich lebenswichtig für unsere Gesellschaft. Weil sie in uns den Abscheu gegen den Krieg wachhält. Jeden Krieg auch in heutiger Zeit. Krieg, wie er seit Jahren schon tobt in Syrien. Mit Bomben, auch mitten hinein geworfen in dicht besiedelte Gebiete. Giftgas, das Kinder unter den Händen wegsterben lässt! Das erschüttert uns doch alle! Was da passiert - auch in der Ukraine. Im Südsudan. In Afghanistan. Die Liste ist lang. Kyrie eleison, Friedenshoffnung dort auf dem Esel, erbarme dich!

Und wir? Wir erinnern die Erinnerung – mit all ihrer Wahrheit und all ihrem Schmerz. Das ist unsere Friedenspflicht. Gerade in unserem Land. Denn wir wissen ja auch, allzumal in Lübeck, vom Missbrauch der Erinnerung – als jahrelang Neonazis den Schrecken von 1942 umdeuteten als „alliierten Bombenterror“. Nein: Wehret den Anfängen - dazu braucht es die Deutung der Erinnerung. Schließlich war es das NS-Regime, das die gezielte Bombardierung von Wohngebieten erfunden hatte, in Guernica zuerst, und später dann in Coventry, in Rotterdam und an so vielen anderen Orten.

Wir erinnern die Erinnerung. An diesem Palmsonntag besonders. Und dann geschieht es, dass mit ihr die Vergangenheit eintritt in unser Heute. Manchmal tut sie es ohne anzuklopfen, sie überfällt uns wie eine alte Bekannte, die wir lange nicht gesehen haben. Und dann lässt man die Erinnerung irgendwann hinein ins Hier und Jetzt, fängt an mit ihr ins Gespräch zu kommen. Genauso, wie wir auch die alten Geschichten aus der Bibel in unsere Gegenwart hineinholen und sie lebendig werden lassen. Ich glaube fest, dass uns das hilft, unser Leben zu ordnen, zu deuten, in einen größeren Sinnzusammenhang zu stellen, kurz: es heil werden zu lassen.

Etwa mit dem Evangelium heute. Denn dieser Jesus, der da einziehen will in unser Leben, der weiß so viel von uns. Von unserer Sehnsucht nach Frieden und klarem Wort. Von unserer Kraftlosigkeit in so vielen Momenten. Er weiß von unserer Suche nach dem Guten und den bitteren Momenten der Einsamkeit. Er weiß um unsere Liebe und dass der größte Feind des Lebens manchmal in uns selbst sitzt.

Ihm geht es nicht um Sieg. Triumph. Hohe Einschaltquoten. Auch nicht ums Rechthaben, damals schon eine Geißel der Menschheit. Es geht ihm um die Wahrheit: Dass es nämlich Grund gibt, jeden Tag, der Friedenshoffnung den Weg zu bahnen. Dass es Grund gibt, jeden Morgen, aufzustehen und aufrichtig zu sein. Dass es Grund gibt, jeden Tag, jemanden seine Liebe zu zeigen, um den Hass in der Welt zu bannen. 

Wenn wir also heute Jesus zujubeln, dem König dort auf dem Esel, dann wissen wir zugleich: Ihm allein kommt diese Ehre zu. Solch bedingungslosen Jubel haben die Mächte dieser Welt gerade nicht verdient. Kein Hosianna für die Selbstverliebten und Diktatoren! Deshalb, liebe Gemeinde, ist es so wichtig, dass wir das Evangelium erinnern. Dass wir es an die Kinder und Jugendlichen weitertragen – auch damit es sie stärkt, dem Bösen zu widerstehen!

Wie damals 1937. Denn im Sonderzug nach Mölln waren unter den 1000 Menschen ja  169 junge Konfirmanden, die widerstanden und sich bekannt haben zu ihrem wahren König. Und zwar erfolgreich. Denn die Gestapo war offenkundig so verunsichert, dass sie aus Sorge vor weiterer Unruhe den Hausarrest aufgehoben hatte. So konnten die Konfirmierten mit ihren Pastoren das Abendmahl nachholen. Und ich höre unser Evangelium: „Fürchte dich nicht, du Tochter Zion!“

Fünf Jahre später dann brannte die Stadt. Doch auch hier weiß unsere Erinnerung von Pastor Stellbrink, der am Palmsonntag in der Lutherkirche predigte, ebenfalls bei einer Konfirmation. „„Gott hat mit mächtiger Sprache geredet – die Lübecker werden wieder lernen zu beten“. Diese Worte wurden später sein Todesurteil.  Man konnte ihn töten, aber vergessen wurde er nie. Jedes Jahr gedenken wir seiner und der drei katholischen Kapläne, die gemeinsam als die Lübecker Märtyrer bekannt geworden sind. Diese Erinnerung besiegt letztlich alle Gegner von damals. Denn die vier hielten im Widerspruch zu allem, was sie an Unheil erlebten, an der Erwartung fest, dass es ein Heil gibt, das über sie und das Jetzt  hinausweist: Jesus Christus. Wahrer König. Und ich höre unser Evangelium, wie Jesu Gegner resigniert seufzen: „Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach“.

So wird die Erinnerung weitergegeben, von Generation zu Generation. Sie, die Konfirmandinnen des Jahrgangs 1967, sie haben die Bombardierung Lübecks nicht selbst erlebt. Aber Sie haben die Trümmer erlebt, auch der Dom war noch nicht wiederhergestellt, damals vor 50 Jahren. Ihre Kinder, Ihre Enkel wachsen in wieder ganz anderen Zeiten und Verhältnissen auf. In einem Europa, das nun über 70 Jahre für Frieden und Demokratie steht und es verdient, dass man es stärkt!

Schließlich – auch das gehört zur Erinnerung des Evangeliums: Bei den Menschen dort an den Toren Jerusalems schlug wenig später die Stimmung um. Aus dem Hosianna wurde ein „Kreuzige ihn!“  Mit Palmenzweigen bejubelten sie – Palmsonntag! – den allzu wahren König der Dornenkrone entgegen.

Und so liegt in der Feststimmung heute auch schon die Ahnung kommender Traurigkeit.  Diesen Widerspruch können wir nicht auflösen. Nur aushalten – inmitten dieser Welt voller Widersprüche. In sie hinein gilt es den Trost und Friedensmut des Gottessohnes hineinzutragen. Denn er hat mit seinem ganzen Leben, seinem Sterben und seinem Auferstehen der Erinnerung eine Schwester gegeben: Die Hoffnung. Sie ziehe ein in unser Herz, in der stillen Woche und in den lauten Tagen unserer Zeit.

Und mit ihr der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

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