3. Dezember 2017 | Dom zu Lübeck

Wissen und Würde gehören zusammen

03. Dezember 2017 von Gerhard Ulrich

Predigt zum 1. Advent über die Offenbarung 5, 1-5

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Liebe Gemeinde!

I

„Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!“ – Mit diesem Wallfahrtslied ist die Christengemeinde in aller Welt unterwegs auf das Kommen des Herrn hin. Und mit dem dazu gehörigen Choral auf den Lippen auch: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit! Es kommt der Herr der Herrlichkeit!“ – Mit diesem Lied beginnt für mich die Adventszeit; dieser Freudengesang voller gewisser Erwartung begrüßt das neue Kirchenjahr! Und in dieser Vorfreude schmücken wir Wohnungen und Häuser, Straßen und Märkte. Wollen spüren, wie helles Licht das Dunkle der Jahreszeit verdrängt, wie in einem großen Sprung wir vom Ewigkeitssonntag kommend direkt in die vorweihnachtliche Festzeit geraten: es werde Licht! – Wie am Anfang allen Lebens soll neu werden die Welt!

Die Adventszeit ist vom Ursprung her nicht einfach eine plötzlich helle Zeit – wie die Welt keine Drehbühne ist – sondern eine Zeit, in der bewusst erlebt und ausgehalten wird das Dunkle; in der bewusst ins Auge gefasst wird das Ende. Fastenzeit. Bußzeit. In der Erwartung und Gewissheit, dass diese Welt auf Abbruch hin lebt, von Gott noch gehalten, dass sie dem Ende zutreibt, wenn er nicht eingreift.

In diesem Wissen wächst die Sehnsucht nach einem, der ein Ende macht und neuen Anfang setzt: „Oh Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf, reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für.“ Das ist eine absolut nicht banale Hoffnung, die sich in diesem Adventslied Ausdruck verschafft. In diesen Worten vereinen sich Schmerz über die unerlöste Welt, Klage über erfahrenes Leid und Dunkelheit zu einem Hilferuf, der sich an den richtet, der Anfang und Ende ist. Ein Ende muss kommen, damit Neues wachsen kann! Ein machtvolles Ende, das nichts lässt, wie es war. Und das den Himmel öffnet, um uns aus der Bedrängnis der Welt herauszureißen.

Die Offenbarung des Johannes, dieses Buch voller Visionen und Bilder, nimmt solche Gefühle auf. Der Seher Johannes weiß - und mit ihm viele in den verfolgten Christengemeinden:  Wer sich nicht fügt, wird ausgegrenzt. Das ist das Gesetz der Mächtigen dieser Welt. Doch hält er dagegen: Ein anderer hat alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Was Johannes sieht, hören wir zum 1. Advent. Ich lese aus dem 5. Kapitel, die Verse 1 bis 4:

„Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln.
Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?
Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun noch es sehen.
Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.“

II

In seiner rechten Hand also hält der, der auf dem Thron sitzt, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. Die sieben Siegel weisen das Buch aus als eine Urkunde, deren Inhalt nach alter Vorstellung der göttliche Plan von der letzten entscheidenden Phase der Menschheitsgeschichte ist. Dieses Buch: das Schicksalsbuch des Kosmos. Wer es öffnet, hat die Macht, auszuführen, was in ihm steht. Der Seher ahnt: Wer den Inhalt des Buches kennt, der weiß, was die Welt im Innersten zusammenhält. Noch hält Gott selbst das Buch in seiner Rechten, noch hält er verschlossen seine Geheimnisse, seinen Plan mit der Welt.

„Ein Buch mit sieben Siegeln“ – stehende Redensart für alles, was nicht zu fassen ist mit unserem Verstand: das Rätselhafte und Geheimnisvolle des Lebens. Unser Leben – wie ein Buch mit sieben Siegeln ist es uns, wenn wir nicht verstehen, was uns widerfährt und was wir sehen an Elend und Tod, auch an Freude und Glück. Wenn unser Fragen nach dem „Warum?“ und dem „Wieso?“ unbeantwortet bleiben. Versiegelt und verschlossen sind manche Geheimnisse des Lebens in jeder und jedem von uns. Und es macht uns unruhig und hilflos, wenn angesichts unserer Defizite des Verstehens Phantasien groß werden und Ängste wachsen.

„Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?“ – Dieser Ruf des Engels erschallt mit großer Stimme in aller Welt. Wir leben in einer Welt, in der immer mehr Menschen das Gefühl beherrscht, alles triebe dem Ende, dem Chaos, der Katastrophe entgegen. Die Bilder dazu sind in unseren Köpfen: Kriege, Terror, Verfolgung, Unterdrückung von Minderheiten; eine Reise zu unseren Partnern im Nordirak mussten wir absagen, weil Armee und Milizen nach dem Unabhängigkeitsreferendum der Kurden dort Jesiden, Christen in die Flucht schlagen und niemand mehr seines Lebens sicher ist. Wir sehen, wie ganze Dörfer vor einem Vulkan fliehen, der auszubrechen droht: die Welt ist in so vieler Hinsicht aus den Fugen geraten, scheint es. So ist dieser Advents-Ruf der Ruf aller, die sich nach Erlösung sehnen und nach Rettung. „Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?“

In diesem Ruf wird laut der Schrei der Leidenden dieser Welt. Der Hungernden, der Wohnungslosen und Heimatlosen, der Kriegsopfer und der Fliehenden. Es ist auch der Schrei derer, die sich in unserer bunten Gesellschaft mit ihren vielfältigen Lebensentwürfen nicht mehr zu Hause fühlen und zurücksehnen nach der alten einfach-einheitlichen Welt.  Es ist der Ruf derer, die um Gerechtigkeit kämpfen und gegen mörderische Diktatoren und Milizen, in deren Händen Herrschaft in die Katastrophe führt, in Blut gebadet ist. Wer ist würdig, hier Einhalt zu gebieten?

Gott fragt nicht: Wer hat Lust oder Zeit, das Buch zu öffnen? Wer traut sich? Nein, darum geht es – Gott sei Dank – nicht. Sondern: „Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?“ Wer ist ausgestattet mit Kraft und Geist, dass man ihm anvertraut die Geheimnisse der Welt, das Leid und die Freude, die Sehnsucht und die Hoffnung? Wer ist des Glaubens würdig – glaubwürdig so, dass wir unsere Lasten ihm auflegen und ihm anvertrauen unser Kreuz?

„Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und noch es sehen.“ So mancher will es wohl, aber niemand kann die Siegel lösen. Wir haben es unter Schrecken lernen müssen, dass es nicht ein erlösendes, sondern vielmehr ein geradezu lebensgefährliches Spiel sein kann, sich am Lesen auch nur des Buches der Natur und dem Brechen seiner Siegel vor den Geheimnissen der Welt zu versuchen. Wir sind mit unserer Klugheit in der Lage, hinter so manches Geheimnis der Welt zu kommen. Und manches von dem, was wir entdecken, ist hilfreich.

Aber es gibt auch ganz andere Erfahrungen: wir lüften das Geheimnis der Kernenergie, doch sehen mit Schrecken, dass das Wissen sich der Kontrolle im Letzten entzieht, und stehen hilflos vor der Gefahr, die dieses Wissen bedeutet in den Köpfen und Händen von Menschen, die dieses Geheimnisses nicht würdig sind. Wir kommen genetisch dem Geheimnis des Schöpfers allen Lebens auf die Spur und suchen erschreckt nach Wegen, das freigesetzte Wissen hinter dem zerbrochenen Siegel wieder unter Kontrolle zu bekommen. Wo das Siegel zerbrochen ist, da nehmen die Dinge ihren Lauf. Wer hinter die Geheimnisse Gottes schaut, ohne würdig, ohne von ihm beauftragt zu sein, und ohne auf seine Gebote zu achten, der tut das nicht zum Segen.

III

„Und niemand, weder im Himmel noch auf der Erde noch unter der Erde, konnte das Buch auftun noch es sehen. Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.“  

Es ist ein doppelter Schmerz, den der Seher mit seinen Tränen ausdrückt, der uns bestimmt, wenn wir die unerlöste Welt betrachten. Hier und da ist ja das Ende angekündigt und sichtbar: Unsere Umwelt, die krank ist von alldem, was wir ihr zumuten und abverlangen; all das Leid, das Menschen einander zufügen in den Kriegsgebieten der Welt; der Hunger… Oft haben wir das Gefühl, die Welt bleibe sich selbst überlassen, unaufhaltsam immer neuen Katastrophen entgegentreibend.

Und ich kenne auch den anderen Schmerz, der mich befällt, wenn ich selber ein Siegel löse und damit Entwicklungen in meinem Leben in Gang setze, die nicht mehr kontrollierbar, nicht mehr aufzuhalten sind. Wie meine Entscheidungen hier hilfreich, dort als Hohn verstanden werden: das schmerzt. Und manchmal reicht ein Wort, ein aufgekündigtes Versprechen. Daher: Das Unheimliche unseres Lebens und der Welt muss unter Verschluss bleiben, solange der Würdige nicht gefunden ist! Es ist lebensgefährlich und nicht auszuhalten, wenn einer uns vor die Abgründe unseres Lebens und der Welt stellt, ohne uns zugleich festzuhalten, zu führen darüber hinweg!

Ich möchte nicht das Geschick dieser Regionen oder gar der ganzen Welt in den Händen selbst ernannter „Analysten“, „Meisterdenker“ und „Retter“ wissen! So mancher, der Hand anlegte an die Siegel, lehrte uns das Grauen! So mancher erwies sich nicht als würdig!

Neun Tage bin ich jetzt in Israel und Palästina gewesen. Die Gesellschaft dort: wie ein von Menschen erschaffenes Buch mit sieben Siegeln erschien sie mir, Siegel, die immer wieder mit Gewalt, mit Hybris, aus egoistischen Interessen heraus zu brechen versucht werden, und Menschen dabei gebrochen werden.

In diesem Heiligen Land wird der Ruf nach Erlösung umso lauter, je gnadenloser die Spirale der Gewalt sich weiterdreht; in diesem Land, das gezeichnet ist beiderseits von 50 Jahren Okkupation, die viele Seelen deformiert durch Hass, Wut, Angst, die gleichermaßen Terror gebären. Da wird der Ruf laut z. B. in Jerusalem, wenn Glocken und Muezzin gleichzeitig zum Gebet rufen, während fromme Juden an der Klagemauer Gottes Nähe suchen, und der Tempelberg bewacht ist von schwerbewaffneten Soldatinnen und Soldaten. Checkpoints und eine riesige Mauer, die immer weiter wächst, sind Versuche, Angst zu bändigen.

Der Preis ist ein zum Teil entwürdigendes Leben, das nicht frei sich entfalten kann unter dem vielfältigen Siegel der Gewalt. Jesus hat geweint über Jerusalem. Palästinenser und Juden weinen. Oder verlassen ihre Heimat. Einer muss kommen, das Siegel der Gewalt zu durchbrechen. Und einer kommt. Dorthin – und hierher; in jedes Dorf, in jede Stadt, in jedes Haus und unter jede Brücke.

IV

Liebe Gemeinde!
Die Offenbarung des Johannes bezeugt Jesus Christus als den einen treuen Zeugen, „der Erstgeborene von den Toten und Fürst der Könige auf Erden“. Gleich zu Beginn des Buches, im 1. Kapitel im 5. Vers steht das: Er allein ist der wahre Herr über die Herren der Welt. Damit sind die Machtverhältnisse geklärt, ein für alle Mal – und heilsam! Das Evangelium – die subversive Kraft. In unserem Predigttext geht es darum weiter so:

„Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel!“ – Hier wendet sich die Geschichte, Trost wird angesagt für Schmerz und Sehnsucht: Weine nicht! Verzweifle nicht! Gib nicht auf! Es ist doch schon längst einer da, der tut, worauf du so sehnsüchtig wartest! Da kommt einer herab und reißt die Himmel auf, entfernt Schloss und Riegel.

Die Gefühle der Ratlosigkeit und Trauer zuzulassen, das Innere zu zeigen, es heraus zu schreien, es heraus schwemmen zu lassen unter Tränen: das ist die Voraussetzung dafür, dass die Geschichte sich wendet und neu – anders – weitergeht. Voraussetzung für den Trost der Welt ist, dass die Welt selbst sich erschüttern lässt zuvor. Das gehört zum Advent Gottes dazu!

Weine nicht! – so fangen Rettungsgeschichten an. Weine nicht: Gott selbst antwortet in diesem Löwen mit Namen Jesus Christus für seine schweigende Welt, die den Advents-Ruf nach dem Würdigen zwar hört, aber ihm nicht aus sich selbst antworten kann. Da muss ein ganz anderer kommen, der Vollmacht hat zu entsiegeln das Buch. Und dieser andere wird uns lehren zu lesen in Gottes Geheimnissen so, dass diese Welt mit allem Elend und aller Klage zu einem Zuhause werden kann für unser Leben in Schmerz und Sehnsucht, in Hoffnung und Erfüllung.

Christus bricht auf, was versiegelt ist. Zeigt uns, wie Gott kommt: Zart – als das Kind in der Krippe. Ja, der, der da im Advent neu uns entgegenkommen will, ist der, der schon immer da war: Es hat überwunden die Welt der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids. Der, der da kommt, kommt in sein Eigentum. Alles, was geschieht, hält er in seinen Händen. Auch der Welt Ende. Unsere Zukunft ist nicht die Verlängerung der Gegenwart. Das Ende der Geschichte ist erst der Anfang vom Advent: Gottes Kommen. In sein Reich. Zu uns. Und wir gehen darauf zu: Mache dich auf, werde Licht. Denn dein Licht kommt! Nichts muss bleiben wie es ist. So gewiss ein Siegel nach dem anderen aufgetan wird, so gewiss kommt Er. Hinter dem letzten Siegel erwartet uns nicht der Abgrund. Sondern Gott selbst: liebevoll und mächtig, sanft und stark.

Amen

Datum
03.12.2017
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Gerhard Ulrich
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