18. März 2018 | Sonntag Judika | VELKD Bischofskonferenz Nürnberg

Wo Wüste ist, da sind auch Zeichen der Heilung

21. März 2018 von Gerhard Ulrich

Predigt über 4. Mose 21,4-9 (Reihe IV) am Sonntag Judika in Nürnberg St. Lorenz anlässlich der Klausurtagung der Bischofskonferenz der VELKD

Gnade sei mit euch, und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Schwestern und Brüder,

der Predigttext für diesen Sonntag steht im 4. Buch Mose im 21. Kapitel:

Die Israeliten brachen auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das Land der Edomiter zu umgehen.Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege und redete wider Gott und wider Mose: Warum habt ihr uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot noch Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise. Da sandte der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider den HERRN und wider dich geredet haben. Bitte den HERRN, dass er die Schlangen von uns nehme. Und Mose bat für das Volk. Da sprach der HERR zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.

Liebe Gemeinde, irgendwo ist immer Wüste.

Wenn der Weg lang wird. Oder wenn das Ziel, das eben noch erreichbar schien, wieder weg in die Ferne rückt. Die versprochene Heimat. Die ersehnte Heimat. Die Verheißung guten, vollen Lebens. Die Freiheit. Ein auskömmliches Leben. Arbeit, die mehr ist als Last. Ein Umfeld, das nicht von dem scheelen Blick auf das geprägt ist, was mein Nachbar hat oder was der Staat an Unterstützung gibt für die, die aus eigener Kraft nicht für das sorgen können, was sie zum Leben brauchen.

Die geistliche Heimat, die uns versprochen ist: dass keine Angst mehr herrscht und kein Tod. Dass Gott gewiss ist. Dass sein Geist uns Menschen verbindet, in Empathie und Barmherzigkeit. Dass sein Frieden herrscht. Dass wir in den Bildern, die Gottes Geist uns zwischen Himmel und Erde malt, den Sinn unseres Daseins erkennen und einen Sinn bekommen für das Unendliche, das unserem Leben Weite gibt und Kraft, und uns heil macht.

Irgendwo, irgendwann ist immer Wüste.

Wenn die Angst, zu kurz zu kommen, immer größer ist als die Erfahrung, dass genug für alle da ist;

wenn das, was wir einmal verstanden haben von unserem Glauben, so blass geworden ist und so dünn, dass wir es mit unserem Leben und dem, was uns Tag für Tag beschäftigt hält, nicht mehr zusammenbringen können;

wenn die Menge der Möglichkeiten immer weiter wächst, aber die Wege, die wir wählen, sich immer öfter als Umwege erweisen und die Welt in ihren Konsequenzen mit jeder Option noch wieder ein Stück unüberschaubarer wird,

dann ist das die Wüste. Soweit du blicken kannst, nichts, woran das Auge sich festmachen kann. Soweit du hören kannst, Stille – oder das Gegenteil: unendliches Gerede.

Und dann kommt das Murren. Und das Gift. Der Kleinmut, der wider Gott redet und wider die Menschen, in denen Gott zu uns kommt. Warum habt ihr uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste?

Ach ja: das Volk hatte immer wieder gemurrt, war Mose unerträglich auf die Nerven gegangen. So, dass der vor Gott trat: nimm dieses verrückte Volk zurück. Lass mich damit zufrieden. Diese ewigen Nörgler, Weicheier. Ich will das nicht mehr! Und Gott hatte ihn immer wieder überredet, aufgerichtet. Das wird schon. Irgendwo und irgendwann ist immer Wüste.

Das ist es doch, was wir meinen, wenn wir „Wüste“ sagen oder hören: kein Ort des Lebens jedenfalls. Einer, der Leben in Frage stellt. Wüst und leer – wie vor allem Anfang. Dass Gott vor das verheißene Land Wüste anlegt: eine Zumutung. Hätte er mal gleich sagen sollen. Merkwürdige Freiheit. Und merkwürdiger Gott, der angesichts des Murrens gleich den Tod schickt.

Ägypten, das ist die Welt da draußen, außerhalb der Gemeinschaft der Heiligen. Bei denen, die nicht auf diesem Weg sind. Die die versprochene Heimat nicht umtreibt. Die Jagd nach Geld, Schönheit, Sieg: natürlich ist das eine Lüge. Aber wenigstens eine schöne Lüge. Wenigstens eine Lüge, in der wir das Leben genießen, eine Zeit lang.

Und hier? Wüstengruppe! Kein Brot und kein Wasser, und uns ekelt vor dieser mageren Speise: fades, labbriges Manna. Womit speist ihr uns ab? In Norddeutschland würden wir sagen: tut das not, Gott, dass du uns hier durch die Öde schleppst und abspeist?

Und ihr, was habt ihr zu sagen, ihr Theologen? Das Versprechen der Heimat, das Wort Gottes – es wird gelesen, zitiert und ausgelegt. In immer neuen Varianten und Verlautbarungen. Aber wenn es mich nicht erlöst, befreit und hinführt, wenn es mich im Ungewissen lässt – ist es dann Gottes Wort? Die wohlfeile, allsonntägliche Rede von der Gnade eines Gottes, dessen Gericht ich gar nicht verstehe.

Wer wollte den Menschen da auf der Wanderung das Murren verdenken, weil ihnen der Mut sank, der Glaube abhanden kam? Sie wurden kurzatmig, ihre Lebenskraft schwand, einfach am Ende mit Leib und Seele.  Und eine menschliche Möglichkeit, auf solche Lebens-Not zu reagieren, ist es, sich aggressiv Luft zu machen. Mehrmals auf der Wanderung geschah das. Immer wieder ist das nötig, das Jammern, das Klagen. Ventile für die Emotionen. Signale: da stimmt was nicht. Schau hin.

Und dann kommen die Schlangen.

Seelsorge geht anders. Mitgefühl geht anders, Empathie. Und ich denke an Jesus, der sagt: „Wo bittet unter euch ein Sohn den Vater um einen Fisch und der gibt ihm statt des Fisches eine Schlange? Oder gibt ihm, wenn er um ein Ei bittet, einen Skorpion…“ Das ist doch ein anderes Format, eine andere Zuwendung.

Hier aber: Gott scheint ferne. Schlangen. Bisse. Die Wüstendämonen.

Im Grunde waren sie schon vorher immer da. Gott hat sie nur in Schach gehalten. Jetzt überlässt er das Volk seiner eigenen Wahrheit. Er zeigt ihnen und uns die Welt ohne Gott. Die Schlangen, das sind die Spitzen der Einsamkeit, in denen Gott sich wirklich entzogen hat. Die Schlange, das ist die Gottesferne, die uns tödlich wach macht. Die Einsamkeit, die letzte Gottverlassenheit im Angesicht des Todes. Wenn die Sinnlosigkeit endgültig wird. Die Unmöglichkeit einer Heimat. Die Verzweiflung, dass Gott verschwunden ist. Bis hin zum Glaubenstod. Exitus. Weg zu Ende, mitten in der Wüste.

Irgendwo ist immer Wüste.

Aber dass Gott die Schlangen sendet, heißt auch, dass es sich wenden kann. So wie die Schlange in den Mythen der Völker zum Symbol, zum Urbild aller Daseinsgefährdung geworden ist, so gibt es eine gemeinsame Erfahrung, dass Leid sich in ein Mittel des Heils verwandeln kann, in ein „heilendes Mitleid mit allem, was lebt“

Es ist nicht Mose; es ist nicht der, der von der Kanzel zu dir redet – du selbst bist verantwortlich für die Wahrheit deines Lebens. Du bist mit deiner Kirche aufgebrochen aus Ägypten. Dir ist das Wort gesagt. Du musst es selbst verstehen. Und du musst dich selbst verstehen. Spring in den Brunnen deiner Seele. Dort begegnest du dem Gift der Schlange. Dort kannst du lernen, es als einen Teil deiner Seele zu verstehen. Nur wenn du die Wahrheit über Dich annimmst, wirst du den Weg zur Verwandlung, zur Heilung finden.

Brunnen unserer Seele?

Brunnen: ein Gegenbild zu dem der Wüste. Und doch unergründlich wie diese. Ein Lehrer der Weisheit sagte zu seinen Schülern: „Ich will mit euch zusammen einen merkwürdigen Ort aufsuchen.“ „Wohin willst du uns denn führen“, fragten die Schüler. „Ich will euch dahin führen, wo ihr die Wahrheit über euch selbst erfahren sollt.“

Sie gingen lange. Noch am selben Tag kamen sie zu einem Brunnen. Der Lehrer sagte: „Ich will euch der Reihe nach hinablassen.“ Die Schüler bekamen es mit der Angst zu tun. „Warum willst du uns in den dunklen Brunnen hinablassen?“ fragten sie. „Weil es der Weg in die Wahrheit ist“, sagte der Lehrer.

Der Reihe nach wurden die Schüler an einem Seil in den Brunnen hinabgelassen. Der erste schrie und wurde gleich wieder hochgezogen. Der zweite jammerte und bat, auch ihn wieder ans Licht zu ziehen. Der dritte aber war still. Nach einer Weile bekamen es die anderen Schüler mit der Angst und zogen ihn hoch. Er aber beschwerte sich, sie hätten ihn abgehalten, verwandelt zu werden.

Der Brunnen der menschlichen Seele ist tief. Wenig ist unbekannter und erschreckender als das, was dort verborgen liegt. Aber nur dort, am Grund der Seele, finden wir uns selbst. Und gerade dort – wohnt Gott. Auf dem Weg dorthin und von dort zurück ins Leben werden wir verwandelt.

Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider den HERRN und wider dich geredet haben. Bitte den HERRN, dass er die Schlangen von uns nehme.

Irgendwo ist immer Wüste.

Aber mitten in der Wüste, mitten im Zweifel, mitten in der Gottlosigkeit wird gebetet. Vor dreitausend Jahren am Sinai und heute hier in Nürnberg.

Wüste ist, wenn Christinnen und Christen sich mit Unverständnis oder gar Argwohn gegenüberstehen. Wüste ist, wenn Schwestern und Brüder am gemeinsamen Familientisch getrennt sind und nicht gemeinsam essen. Aber wo Wüste ist, da sind auch Zeichen der Heilung. Die alt-katholische Kirche in Deutschland hat sich seit ihren Anfängen in den 1870er Jahren dem ökumenischen Dialog verpflichtet gefühlt. Im Gespräch zwischen Lutheranern und Alt-Katholiken wurde gemeinsam Sprachlosigkeit überwunden. Und seit 1985 feiern wir gemeinsam als Schwestern und Brüder am Tisch des Herrn.

Wir stehen nicht sprachlos vor Gott. Das Wort, durch das der Geist wirkt, wie er will, wird heute noch gepredigt. Welches Wort? Eben dieses: dass Gott uns ein Zeichen gegeben hat. Ein Zeichen des Heilwerdens. Ein Wort der Versöhnung. „Händereichung“ heißt das Papier, das den Dialog zwischen Altkatholiken und Lutheranern zusammenfasst.

Für das Volk Israel war dieses Zeichen die eherne Schlange aus der Überlieferung im 4. Buch Mose. Schon damals teilte man das Wissen um die Weisheit der Schlange und um ihre heilende Kraft mit den Völkern und Kulturen ringsum. In der Tradition der griechischen Götterwelt ist es Äskulap, der Gott der Heilkunst, der zusammen mit dem Bild einer sich um einen Stab windenden Schlange gezeigt wird. Kaum eine Apotheke oder eine Arztpraxis, in der die Schlange fehlt. Sie ist zum Symbol für Heilung geworden.

Imagination, die den Schrecken nicht aufhebt, aber in einen anderen Zusammenhang stellt. Den Kopf heben, nicht der Anziehungskraft des Bösen, des Giftigen erliegen – das wäre der Tod. Aufsehen zum Heil. Mitten in der Gefahr das Rettende, mitten in der Wüste das Leben erkennen.

Für uns Christen ist es der Mensch am Kreuz, das Zeichen des Todes, mit dem Gott den rettet, der es ansieht. Das Kreuz: es führt über alles Leiden hinaus, durch es hindurch. Die erwachsene Gestalt des Glaubens erwartet ja nicht das Verschwinden des Leidens, wohl aber vertraut sie auf seine mögliche Transformation, auf eine lebensfördernde Einbildungskraft, die das Destruktive nicht vertreibt, aber wandelt und bricht. „Kaum merklich“, schreibt Christian Lehnert vom Liturgiewissenschaftlichen Institut, „kaum merklich die Veränderungen der Seele, wenn ich morgens bete – wie der Eiszapfen vor dem Küchenfenster ganz allmählich schrumpft, Tropfen um Tropfen.“

Gott will verwandeln. Aus der Tiefe lässt er aufrichten das Zeichen des Leidens. So, dass unsere Häupter sich heben und Blicke sich lösen vom Abgrund. Gott richtet das Leiden des Einen auf, damit wir es sehen, verstehen.

Seht das Kreuz des Einen. Und in ihm das Kreuz dieser Welt: das Leiden, Krieg, Hass Gewalt, Flucht, Missbrauch, Hunger, Armut… Und mit den Leiden ist aufgerichtet das, was überwindet – der, der überwindet. Aufgerichtet unter uns Liebe, die sich zuwendet denen, die sich verlaufen und in ihren Wüsten versinken und ersaufen; Barmherzigkeit, die denen gilt, die den Weg allein nicht mehr finden; Gnade mit denen, die fehl treten, deren Füße ins Gleiten geraten; Hoffnung denen, die resignieren. Und Aufstandskraft denen, die nach Neuanfang fragen.

Ja: hinsehen auf das Leiden des einen lässt zugleich offenbar werden den Weg der Überwindung, des Überwinders – der nämlich führt zu uns. Lässt den sehen, der aufsucht die Sünder und Betrüger; der aufrichtet die Schwachen. Der hinhört, wenn die Frau aus der ganz fremden Kultur, die Samariterin, spricht. Sehen auf das Kreuz ist Sehen auf das Überwindende. Auf das Leben.

Im Johannesevangelium lese ich (Kap. 3, V. 14): Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.

Irgendwo ist immer Wüste. Aber dort, wo Wüste ist, da sind auch Zeichen der Heilung.   

Das Kreuz ist aufgerichtet. Auf dem Weg dorthin und von dort zurück ins Leben werden wir verwandelt. Es ist der Weg von Passion über Karfreitag nach Ostern. Sein Weg zu uns. Und ein Stück unseres Menschenweges. Deinen Tod, o Herr, verkünden wir. Und deine Auferstehung preisen wir. Bis du kommst in Herrlichkeit.

Amen.

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