Er kann nicht hören, was er spielt
29. September 2014
List. Wenn er Gottesdienste an der Orgel begleitet, hören die Besucher Hans Borstelmann gern zu. Niemand merkt, dass der 80-Jährige mit einer Schwierigkeit zu kämpfen hat: Er ist taub und hört die Musik nur in Gedanken.
Die Liebe zur Musik wurde Hans Borstelmann vom Vater weitergegeben. Der Banjo-Spieler lebte als junger Mann zeitweise in Lateinamerika. Er kehrte nach Sylt zurück, gründete eine Familie. Seinen Söhnen Willi und Hans sagte er: „In der Musik könnt Ihr überall auf der Welt zuhause sein“. Ein Satz, der prägte. Beide Jungen wurden Organisten, zunächst in ihrer Heimatgemeinde Sankt Severin in Keitum. Später kam Hans Borstelmann nach List, wo er mittlerweile seit 30 Jahren Orgel in der Gemeinde St. Jürgen spielt.
Über die Musik lernte Hans Borstelmann auch seine Frau Elsa (80) kennen: „Wir haben uns im Chor kennengelernt. Die Musik hat uns unser ganzes Leben lang verbunden“, erinnert sie sich. In Klanxbüll habe ihr Mann georgelt, später in Deezbüll auf dem Festland. Zwischendurch war er für sein Kirchenmusik-Studium nach Lübeck gegangen. Danach ließ sich der junge Uhrmacher-Geselle in Hamburg zum Meister ausbilden. Seitdem lebt er in Westerland auf Sylt.
Töne sind für ihn nur diffuse Geräusche
Früher begleitete er den Gesang seiner Frau auf der Orgel. Heute begleitet sie ihn, wenn er spielt. Beim sonntäglichen Gottesdienst, bei jeder Beerdigung und Hochzeit in der Lister Gemeinde sitzt sie mit ihm auf der Orgel-Empore. Ab und zu gibt sie ihm ein Zeichen mit der Hand. Etwa, wenn er zu laut spielt. Denn das kann Hans Borstelmann nicht hören. Er ist taub, seitdem er vor drei Jahren an einer Hirnhautentzündung litt. Durch die Medikamente verlor er sein Gehör. Dass ihr Mann trotzdem so ausgeglichen sei, das bewundere Elsa an ihm.
Mithilfe eines Implantats kann er gesprochene Worte mittlerweile wieder hören. Aber Töne nimmt er nur als diffuses Geräusch wahr. „Ich höre die Akkorde, die Harmonien und Melodien zwar akustisch nicht, aber in Gedanken“, erklärt Hans Borstelmann. „Durch mein langes Vorleben als Musiker habe ich sie im Kopf“.
Für sein Noten-Pult hat er sich einen kleinen Rückspiegel gebaut, damit er Pastorin Petra Hansen sehen kann. Sie gibt ihm während des Gottesdienstes Signale, damit er zum richtigen Zeitpunkt einsetzt. „Ich bin sehr froh darüber, dass wir Herrn Borstelmann haben“, sagt sie. Der Musiker ist auf der ganzen Insel hoch angesehen. Mit den Orgelvespern in St. Martin in Morsum hat er in den 1970er Jahren mit dem damaligen Pastor Hartung eine Sylter Tradition begründet. Heute spielt sein Sohn in Morsum. Der 51-jährige Jürgen Borstelmann ist ebenfalls Kirchenmusiker und Organist.
Gottesdienst zum Orgel-Jubiläum
Am vergangenen Sonnabend widmeten Pastorin Hansen und die Gemeinde List ihrem Organisten einen besonderen Erntedank-Gottesdienst. Dabei saß er ausnahmsweise nicht selbst an der Orgel. Zur Feier des Tages spielt Sohn Jürgen für ihn.