Kirchlicher Widerstand im Norden gegen EKD-Versöhnungspolitik
22. Februar 2016
Kiel. Als der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im Oktober 1965 in seiner Ostdenkschrift die Anerkennung der deutsch-polnischen Oder-Neiße-Grenze und den Verzicht auf die einstigen deutschen Ostgebiete forderte, gab es heftigen Gegenwind aus dem Norden. Den Streit um die Ostpolitik hat der Historiker Stephan Linck in seinem Buch "Neue Anfänge?" zur Kirchengeschichte im Norden von 1965 bis 1985 aufgearbeitet.
Das Buch wird am Donnerstag (25. Februar) auf der Landessynode in Lübeck-Travemünde vorgestellt.
Bereits Ende 1961 hatten prominente Persönlichkeiten eine Schrift an evangelische Politiker verfasst, in der sie sich für eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze aussprachen. "Wir belasten unser nationales Anliegen der Wiedervereinigung, wenn wir es mit der Forderung der Grenzen von 1937 verknüpfen", heißt es in dem Text, den unter anderem der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker, Nobelpreisträger Werner Heisenberg und WDR-Intendant Klaus von Bismarck unterzeichnet hatten.
"Lübecker Thesen": Vertreibung aus der Heimat "vom Evangelium her verboten"
Der Ostkirchenausschuss der EKD, die Vertretung der ehemaligen Landeskirchen Ostdeutschlands, distanzierte sich umgehend und betonte die Unrechtmäßigkeit der Vertreibung. Zwei Jahre später erschienen 1964 die "Lübecker Thesen", verfasst unter anderem vom Vorsitzenden des Ostkirchenausschusses, dem Lübecker Pastor Gerhard Gülzow, und seinem Stellvertreter, dem Kieler Oberlandeskirchenrat Carl Brummack. Die Frage der Kriegsschuld lasse sich nicht mit dem Verlust der Heimat verbinden, heißt es dort. Die Vertreibung aus der Heimat sei "vom Evangelium her verboten".
Vertriebene Ost-Flüchtlinge forderten Rückkehrrecht
Schleswig-Holstein hatte seinerzeit mehr Ost-Flüchtlinge aufgenommen als andere Bundesländer. Viele Vertriebene forderten ein Rückkehrrecht in ihre alte Heimat.
"Flüchtlingsbischof" Wester versuchte zu vermitteln, ohne selbst eine eindeutige Position zu beziehen. Folge sei gewesen, dass der Rat der EKD die Ostdenkschrift ohne Wester und den Ostkirchenausschuss in Auftrag gab, schreibt Linck. Dies wiederum war für Wester Anlass, am 19. Oktober 1965 vom Amt des "Flüchtlingsbischofs" zurückzutreten. "Die Brüder sind einer Schwärmerei verfallen", schrieb er kurz nach seinem Rücktritt.
Rat der EKD plädierte für die Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze
Mit der Ostdenkschrift plädierte der Rat der EKD für die Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze und stellte sich damit gegen alle im Bundestag vertretenen Parteien. "Vom Unrecht der Vertreibung kann aber nicht gesprochen werden, ohne dass die Frage nach der Schuld gestellt wird", heißt es dort. Beklagt wurde zudem die schwierige soziale Situation vieler Flüchtlinge und die mangelnde Integrationsbereitschaft der westdeutschen Gesellschaft.
Der Schleswiger Bischof Wester kritisierte im November 1965 vor der Schleswig-Holsteinischen Landessynode, man hätte die Betroffenen mit einbeziehen sollen. Schließlich könne eine solche Denkschrift "nicht nur Erregung, sondern auch Schaden" anrichten. Während der Lutherischen Konferenz im Februar 1966 wurde der Kieler Bischof Friedrich Hübner noch deutlicher und nannte die Denkschrift eine "ausgesprochen fragwürdige Leistung", die ihn "zu schwersten Besorgnissen und Sorgen" veranlasse. Hübner: "Degradiert sich die Kirche damit nicht zur Magd von politischen Interessengruppen?"
Synode entschied sich gegen ein ablehnendes Votum der Denkschrift
Zu einem ablehnenden Votum der Synode kam es am Ende aber doch nicht. Auch prominente Lutheraner wie der Flensburger Propst Wilhelm Knuth mochten sich der Kritik nicht anschließen. Die eigenständige Landeskirche Eutin übte zwar noch heftige Kritik, die Lübecker und die Hamburgische Kirche dagegen verzichteten auf ein ablehnendes Votum.
Damit stellte sich keine große Landeskirche der EKD noch gegen die Ostdenkschrift, so Linck. Im März 1966 gab es dann auf der Synode der EKD breite Zustimmung zur Ostdenkschrift. Es war der Auftakt einer gesellschaftlichen Debatte, die in die Entspannungspolitik unter Willy Brandt mündete.