19. Februar 2012 - Predigt zu Joh 11, 17-27
19. Februar 2012
Liebe Gemeinde!
Das Wasser geht mit mir bis zum Hals, zitierte eben Erzbischof Dr. Thissen den Psalm 69. Gott hilf mir, heißt es dort weiter, die Flut reißt mich fort und ich versinke in tiefem Schlamm. So alt sind diese Worte, und doch treffen sie den Nerv. Wie viele haben vor 50 Jahren ganz Ähnliches geschrien, gefleht, geflüstert, gebetet! Hier in Hamburg - in Neuenfelde, Alten-, Finkenwerder, an so vielen Orten und in Wilhelmsburg ganz besonders, und natürlich an den Küsten. Auch in Dithmarschen, woher ich stamme, sind die Deiche gebrochen. Ich war gerade ein halbes Jahr alt, als meine Mutter mit meinen drei Geschwistern und mit mir auf dem Arm Schutz suchte in der Kirche. Höher gelegen auf der Warft war sie ein´ feste Burg über dem bedrohlichen Meerestoben. Tausende saßen dort, zitternd vor Kälte, nur das Nötigste in den schnell gepackten Taschen. Aus ihnen holte man irgendwann Stuten und Mettwurst und was man beim Aufbruch in der Schnelle greifen konnte. Man teilte miteinander das Brot. Im wahrsten Sinne. So anrührend waren die Szenen, dass meine Mutter sie erinnert, als wäre es gestern gewesen. Genau so, wie Sie es, liebe Zeitzeuginnen, es beschrieben haben. In Ihren so bewegenden Zeitzeugen-Geschichten. Geschichten etwa von dieser Kirche hier, die zum zentralen Ort tatkräftiger Hilfe wurde. Oder Geschichten davon, dass die Mutter noch schnell einen Kuchen gebacken hat, bevor das Wasser die Küche überflutete. Davon, dass Eltern drei ihrer Kinder haben ertrinken sehen. Davon, dass Rettungskräfte nach tage- und nächtelangem Einsatz erschöpft zusammen brachen. Solche Bilder im Kopf fühlen wir, die wir in Deichnähe aufgewachsen sind, Ehrfurcht vor der Naturgewalt des Wassers. Denn wir kennen nicht nur gemächliche Tide, sondern auch Sturm und Flut und den grimmigen blanken Hans. Und wenn dann der Deich bricht, ist die Not groß und der Mensch so unsagbar klein. Wie ein Urchaos bricht das Wasser alles verschlingend in die kleine, geordnete Welt der Menschen. „Een grote Mandränke“ hat man dazu früher an der Küste gesagt. Und hat es verstanden als Menetekel, dass der Mensch eben nicht das Maß aller Dinge ist. Dass er angewiesen bleibt auf einen Höheren. Einen Höheren, den der Mensch allzu oft nicht versteht.
Auch Maria und Martha verstehen ihn nicht. Verstehen nicht, was da passiert ist. Vor wenigen Tagen noch war der Bruder lebendig und lachend unter ihnen, und nun, sie können es einfach nicht fassen, liegt er tot im kalten Grab. Der Schreck sitzt tief wie die Trauer: Von tief unten steigt immer wieder ihr Schmerz die Seele herauf und überschwemmt sie geradezu. Was hat Lazarus getan, dass Gott ihn so jung hat sterben lassen, klagen sie. Warum, Christus, warst du nicht da, um ihn zu retten? Wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben“.
Mit diesen Worten geht Martha Jesus entgegen, als der endlich ins Dorf kommt. Traurig klingen diese Worte, aber auch vorwurfsvoll. So wie zu jeder Trauer, liebe Gemeinde, Wut gehört. Wut, weil man einfach nicht fassen kann und verstehen mag, dass man einen Menschen verloren hat, den man so geliebt. Dass einem entrissen wurde, was einem Halt und Heimat gegeben hat. Trauer ist schwere Arbeit der Seele. Ist tosender Sturm und unerträgliche Stille zugleich, ist aufgewühltes Chaosmeer und innere Leere in einem.
Die Menschen hier in Hamburg, eine ganze Stadt hat getrauert. Um die umgekommenen 318 Menschen, über 200 allein hier in Wilhelmsburg. Um Haus und Hof und Vieh, um ganze Stadtteile hat man getrauert. Und mit all den beeindruckenden Zeitzeugenberichten und Erinnerungen in den letzten Tagen und Wochen scheint auch diese Fassungslosigkeit der Trauer wieder hoch zu kommen. Es ist, als spürten die Menschen - wieder oder noch immer - hautnah die klamme Kälte und die Angst vor der schlammigen Flut. Es ist, als hörten sie noch die Hilfeschreie und Rettungshubschrauber, aber auch das „Gott sei Dank!“, wenn auf einmal eine warme Decke den eiskalten Körper umhüllt.
Diese wach gewordenen Erinnerungen und Empfindungen verbinden uns. Lassen uns aufmerksam einander zuhören. So unterschiedlich wir sonst leben und weben, alle sind wir eingebunden in diese Erinnerung mit ihrem Schreck und ihrer Traurigkeit.
Und dies zu verarbeiten, dauert seine Zeit, manchmal gar ist´s nie zu Ende. Trauer ist harte Arbeit der Seele. Sie braucht das wütende Warum?, um langsam wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. Jesus weiß das. Deshalb bleibt er ganz ruhig und macht nur eines, als Martha ihn anspricht: Er hält sie fest. Und zwar mit seiner Unbeirrbarkeit. „Dein Bruder wird auferstehen“, sagt er. Und als er merkt, dass Martha auch diesen Trost nicht fassen kann, wird er noch klarer: Ich bin´s doch, sagt er. Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt.“ –
Wir wissen, Jesus weckt Lazarus tatsächlich auf. Doch dieses Wunder ist hier nicht das Entscheidende. Entscheidend in unserem Evangelium ist das, was Martha antwortet. Ja, sagt sie. Ja Herr, ich glaube, dass du der Sohn Gottes bist, der in die Welt gekommen ist.
In diesem Ja steckt alles. In ihm und dem kurzen Dialog zwischen Jesus und Martha ist verdichtet, was sonst manchmal Jahre braucht: nämlich der Weg durch die Trauer ins Leben zurück. Nachdem Martha gehadert hat und alles nicht verstanden - Gott schon gar nicht! -, nachdem sie ihre Traurigkeit hat im wahrsten Sinne „abfließen“ lassen, erst danach findet sie Abstand zu sich und gleichzeitig inneren Halt. Ja sagt sie zu „ihrem“ Gott, den sie so vermisst hat und der ihr just in diesem Moment begegnet in Jesu Mitmenschlichkeit. Ja sagt sie zu Christus und bekennt damit, dass sie wieder aufstehen will und leben und lieben.
Ja. Das haben dann auch die gesagt, die vor 50 Jahren so viel Leid und Trauer zu verarbeiten hatten. Ja, wir werden wieder aufstehen. Aufbauen. Eine ganze Stadt hat sich innerlich gesammelt und sich wieder aufgerichtet. Verändert natürlich, aber siehe, so lebendig.
Und so sind wir, liebe Gemeinde, auch verbunden durch die Dankbarkeit. Darüber, dass man damals so viel Solidarität erfahren hat und menschliche Nähe; Dankbarkeit, dass man damals anderen helfen, sie gar retten konnte; Dankbarkeit, dass man geliebte Menschen noch immer neben sich sitzen hat und dass wir in den letzten Jahrzehnten von Deichbruch verschont wurden, kurz: Dankbarkeit dafür, dass es so vieles gibt, wofür es sich lohnt aufzustehen, jeden Morgen neu.
Und so ist die Erinnerung an dies beides, die Trauer und die Dankbarkeit, wie ein Boot, in dem wir gemeinsam sitzen. Ein Boot, das uns trägt über die Wasser der Zukunft. Ein Boot, das uns aber auch wachsam sein lässt für die Stürme, die drohen. Für die persönlichen ebenso wie für die Erderschütterungen und Tsunamis. Wir wissen, dass unsere Natur aus dem Lot ist. Wissen, dass die Erde immer wärmer und die Wasser immer höher steigen – einen Meter in den nächsten hundert Jahren, so viel wie zuvor in tausend! Wir wissen es, aber wir wollen es nicht glauben. Im Namen Christi, des Auferstandenen, müssen wir das aber. Wir müssen lernen Ja zu sagen zu Klima- und Küstenschutz und uns nicht ausruhen dabei. Und wir müssen lernen Nein zu sagen zu denen, die in Selbstüberhebung und blinder Wachstumsgläubigkeit meinen, die Natur bezwingen zu können.
Im Gegenteil. Umgekehrt ist´s. Wir sind Teil der Schöpfung, nicht ihr Machthaber. Und so möchte uns Ehrfurcht erfüllen, wie kostbar und letztlich unverfügbar das Leben ist. Im Angesicht der großen Flut vor 50 Jahren, aber auch im Angesicht persönlicher Katastrophen, die einen an die Grenze bringen von Tod und Leben – wir sind und bleiben angewiesen auf einen, der uns gnädig ist und segnet. Einen, der uns liebt, gleich wie es in uns stürmt und wütet. Und diese Liebe meint nicht, dass Gott ständig eingreift und alles verhindert, was uns ängstigt. Dennoch: er leidet darunter, dass Menschen Fehler machen und Krisen durchleben, dass Katastrophen passieren und der Deich bricht. Deshalb hält er mit aus. Und nimmt damit der Angst die Allmacht. So schaut er eben nicht von oben auf uns herunter – wie lieblos wäre dieser Gott! - sondern sitzt mit uns im Boot, das uns durchs Leben trägt. Und wir? Wir können ihm glauben. Können glauben wie Martha, dass er die Auferstehung ist und das Leben. Dass er Kraft hat, Wunder zu tun und dass er aufsteht, um den Elementen Einhalt zu gebieten. Wir dürfen glauben: Er, der dort mit uns im Boot sitzt, immer schon, er stand einst auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig und verstumme! Und der Wind legte sich und es entstand eine große, wunderbare Stille.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahrt unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen