30. Juni 2013 - Dom zu Lübeck

30. Juni 2013 - 5. Sonntag nach Trinitatis

30. Juni 2013 von Kirsten Fehrs

1. Mose 12, 1-4

Liebe Gemeinde!

 

„Der Weg ist ein Symbol! Versteht ihr? Es gibt den geraden Weg, den krummen, den Umweg, den Irrweg. Versteht ihr: Der Weg ist ein Symbol für das Leben?!?“ Wieder einmal viel zu laut redet er. Und seine drei Weggefährten können ihn kaum noch aushalten. Worte, Worte, Worte. Die braucht im Moment niemand. Nicht umsonst sind sie auf dem Jakobsweg in Spanien unterwegs. Was sie brauchen, ist Ruhe. Urlaub. Pause vom bisherigen Leben.

Nur er, der so viele Worte macht, kritzelt dauernd betriebsam in sein Notizheft. Doch es sind sinnleere Worte. Er als Schriftsteller weiß es genau. Was ihn quält, ist eine Schreibblockade. Sie ist der Grund dafür, dass er auf dem Pilgerweg ist.

So wie für den Holländer der Wunsch abzunehmen, damit ihn seine Frau wieder berühren mag.

So wie für die Kanadierin die Hoffnung, vom Rauchen loszukommen - nein: von dem Mann loszukommen, der sie schlägt.

Und für den Ältesten von ihnen ist der Grund die Asche seines Sohnes, die er bei sich trägt.

 

Wir befinden uns, liebe Gemeinde, in einem Kinofilm mit dem Titel: „Es ist dein Weg“. Und wir befinden uns damit mitten im Leben. Mag sein, im Urlaubsleben. Vielleicht sind ja einige unter uns just das erste Mal im Dom zu Lübeck. Um Neues zu schauen. Auch eine innere Reise zu unternehmen. Oder um der gehetzten Seele Gelegenheit zu geben, Platz zu nehmen.

 

Und es mag im Urlaub das passieren, was auf Pilgerwegen allerorten auch passiert. Man erholt sich, holt sich gewissermaßen wieder selbst ein. Und wird sich dabei womöglich bewusst, was einen immer wieder an Grenzen bringt. Wie eine Art lästiges inneres Wiederholungsprogramm. Und so ist es im Film geradezu gnädig zu schauen, wie sich mit jeder Wegstation Seelenlast löst. Mal mit Geplauder, mal beim guten Essen, mal mit Wut, mal in erlösenden Tränen. So erlebt es schließlich der alte Mann. Sein Sohn wurde vom Blitz getroffen, just am Anfang des Jakobswegs. Er hatte seinen Vater eingeladen, mit ihm den Weg zu gehen. Es war ein letzter Versuch, mit dem Vater wieder ins Gespräch zu kommen.

Doch er, der Vater, hat das nicht verstanden. Und es hat in dann so unendlich traurig gemacht. Irgendwann hat er beschlossen: Ich gehe diesen Weg. Mit seiner Asche im Rucksack. Wir gehen diesen Weg doch noch gemeinsam.

 

Was als Pilgerweg begann, wird auf einmal Aufbruch. Viele heutzutage tun das. Viele brechen auf, um neu das Leben zu finden. Religiös. Kulturell. Politisch. Sie machen sich auf, weil Sehnsucht sie zieht. Hin zu mehr Klarheit. Wahrhaftigkeit. Liebestraum und Himmelszelt. Sie wollen zum Eigentlichen kommen. Weg von dem Wortschwall der Zutexter hin zur Konzentration. Hin zu dem, was einem wirklich etwas sagt.

 

Doch, verrückt!, da finden viele gar nichts mehr in sich. Kein Sommerlied, das man gelernt. Kein Liebesgedicht, das einen liebt. Keine Kraft, die einen hochzieht. Und so steht man mit diesem Ziehen und Sehnen da und bleibt so eigentümlich unbehaust. Ohne Worte, die einem einen Raum eröffnen. Ohne ein gelobtes Land, das zum Fenster mit Aussicht wird. Ohne Dach aus Segensnähe und Engelschutz. Und diese religiöse Obdachlosigkeit, wie ich sie ja öfter nenne, macht etwas mit dem modernen Menschen. Er fängt an zu suchen. Sucht Heimat für die existentiellen Fragen nach den ersten und den letzten Dingen. Er sucht - und sehnt sich. Gut so. Denn wer sich sehnt, bleibt nicht wo er, wo sie ist. Wer sich sehnt, will sich nicht mehr abfinden. Mit eigener Wut und Trauer und mit dem Wüten und Traurigkeiten der Welt. Wer sich sehnt, geht.

 

1Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will. 2Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. 3Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet sein alle Geschlechter auf Erden.

Und unser Predigttext aus dem 1. Buch Mose endet so unfassbar erwartungsgemäß:

4Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog.

 

75 Jahre! Dazu muss man sagen: Angesichts seiner Ahnen mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 330 Jahren war Abraham geradezu im besten Mannesalter. Ein junger Alter sozusagen. Er vertraut, dass Gott für sein Leben noch etwas bereithält. Deshalb geht er tatsächlich! Zusammen mit seiner Frau, die auch noch schwanger wird, „obwohl es ihr nicht mehr ging nach der Frauen Weise“. Abgesehen von der Schwangerschaft, liebe Gemeinde - beschreibt diese alte Geschichte nicht letztlich auch die Moderne des Altwerdens? Heißt zunächst: Dass auch das älter werdende Leben vor allem Bewegung ist – wenn auch manchmal langsamer - und nach vorn gelebt werden will. Dass uns die Geburt von etwas Neuem zu allen Lebzeiten zutiefst bewegen, ja rühren kann vor Hoffnung. Kennen wir das nicht, dass da noch etwas Unerkanntes vor uns liegt, etwas Unberührtes, Neugeborenes, das von uns in die Arme genommen werden will, so runzlig die Arme auch sind? Das gerade geborene Enkelkind etwa mit den noch so hinreißend unabgelaufenen Füßen. Oder das herausfordernde Projekt. Oder zarte neue Liebe und Frühlingserwachen im selbstbewusst faltigen Gesicht. Apropos: Tina Turner ging mit 70 Jahren auch, und zwar auf Welttournee - rockendes Beinwunder ohne Venencreme.

 

Die biblische Geschichte spiegelt aufregend aktuell demographische Realität: Ganz anders als die 75-Jährigen vor vierzig Jahren sind sie heute allerorten im Aufbruch. Auf Reisen. Auch inneren Reisen. Ohne sie keine ehrenamtliche Hospizbewegung, keine Obdachlosenarbeit, keine Stiftungsvorstände hier in Lübeck, keine Kirchengremien und kein Sportverein, ohne sie keine Lesehilfe für Migrantenkinder und keine Essensversorgung der 300 libyschen Flüchtlinge in Hamburg. Gerade die Hilfe von ihnen, die selbst Flucht erlebt haben, ist absolut bewegend. Ihrer aller Erfahrung und Lebensfreude und ja, auch ihre Sinnsuche sind elementar für das soziale Gesicht unseres Landes. Kein gelobtes Land also ohne die 75-(70-, 65-)Jährigen!

 

Ob man das allerdings auch in Berlin so sieht, bin ich mir nicht so sicher. Denn unter dem Motto „Wut altert nicht“ mischen die Plus-Minus-75-Jährigen seit über einem Jahr die Stadt auf. In der Stillen Straße 10 in Berlin Pankow machen sie ausgesprochen laut darauf aufmerksam, dass sie gerade nicht gehen. Sie ziehen nicht aus dem Haus aus. Im Gegenteil: sie besetzen es. Die Begegnungsstätte nämlich, die ihnen schon lange Gemeinschaft ermöglicht, Sinn und Lebensfreude. Und die geschlossen werden soll. Indem sie samt Campingliegen dort bleiben, brechen sie auf. Klischees zum Beispiel. Etwa, dass ein alter Mensch stets einsam sei und hinfällig und unselbstständig. Ein Betreuungsfall. Von wegen. Die grauhaarige Canasta-Gruppe als neue Hausbesetzerszene – sie zeigt uns, was eine „demographische Harke“ ist!

 

Wie unerhört real ist also die alte Geschichte des Abraham! Zugleich ist sie nicht allein von dieser Welt: Denn Abraham geht nicht, weil er es genauso will. Sondern weil Gott ihn berührt. Nicht er selbst, Gottes Wort bricht auf, was bannt. Denn auch das gehört ja zum Leben, dem alten wie dem jungen: Das Gefühl, auf einmal nicht mehr leistungsstark zu sein, nicht mehr mithalten zu können in der Welt der Sieger. Oder die Angst zu fallen. Da bannen uns alle doch äußere und innere Barrieren: Schreiblockaden. Liebeskummer. Fest gewordener Trauerstein. Geh da heraus, sagt Gott. Und nimm in dich hinein: Du bist gesegnet. In jedem Moment deines Lebens. Auch wenn du an der Grenze bist.

 

Gerade dort, an der Grenze, liegt Erkenntnis. Und Segenskraft, sagt die Geschichte. Gott zeigt dies in vielerlei Gestalt: in der Stille des Gebetes, in dem eingeflochtenen Thema einer Bachfuge, mit den Rosen im Garten. In den unscheinbaren Momenten von Gottesnähe also, in denen das Glück ebenso wie das Unglück geborgen sind. Wo sie ein Dach bekommen. Geh, mach dich auf, sagt Gott. So kommst du heim.

 

Dazu meine Schlussgeschichte von Annemiete. Annemiete liebte wie ich Kohlrouladen, und so lernten wir beiden Dithmarscherinnen uns beim Mittagstisch im Pflegeheim kennen. Sie war eine einzige Geschichte. Sie würde wohl langsam alt, meinte sie, sie erzähle so viel von früher. „Nun ja“, sagte ich, „93 kann man noch nicht wirklich als alt bezeichnen.“ Und dann kicherte sie. Das Feine an Annemiete war ihr Humor. Wenn der Sensenmann zu ihr käme, sagte sie manchmal, müsse er eine gute Portion Humor mitbringen, sonst überlebe der das nicht.

 

Eines Tages ist sie ganz durcheinander. Zaghaft erzählt sie: Sie hatte „ihn“ gesehen. Dort an der Tür. Er hat sie ganz lange angeschaut und ist wieder gegangen.

„Wer glaubst du, war es?“ frage ich. „Der Sensenmann?“

„Nein“, sagt sie. Zögert. „Vielleicht der Engel.“ Sie hat Angst, das spüre ich. Und behutsam reden wir über diesen, über ihren Engel. „Er kommt, um mich zu tragen“, sagt sie schließlich. Und es ist fast so, als wäre sie erleichtert. „Findest du das nicht ziemlich spökenkiekerig?“ fragt sie. „Nein“, sage ich. „Das finde ich überhaupt nicht.“

 

Einige Wochen später erzählt sie ganz aufgeregt, dass er wieder da war. Er stand am Bett, viel freundlicher. Sie ahnt, dass sie nach Hause kommt. Zu ihrem Heinz. Endlich.

Wenige Tage darauf stirbt sie.

 

Ich habe das öfter erlebt: An der Grenze steht ein Mittler zwischen diesem und jenem Land und sagt: Du darfst jetzt gehen. Wie der Engel spricht er ein „Fürchte dich nicht“, ohne zu leugnen, dass es Schmerz gibt und Angst. Dahinein spricht Gott: Du bist gesegnet und dein Leben wird ein Segen sein. Und das heißt: Der Segen bleibt. Vom ersten Schrei bis zum letzten Atemzug. Er trägt hindurch. Der Segen bleibt, wenn der Mensch wird, wächst und vergeht. Der Segen bleibt, wenn der Mensch träumt, zweifelt und denkt, wenn er liebt und begehrt, wenn er rennt und hinfällt, wenn ihm Hören und Sehen vergeht – und wenn er die Asche eines geliebten Menschen trägt. Der Segen bleibt.

 

Deshalb: Geh. Getrost. Deinen Weg. Denn wer aufbricht, kommt an. Mag sein, noch einmal neu bei sich selbst. Ganz bestimmt aber bei Gott. Amen

Datum
30.06.2013
Quelle
Stabstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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