20. Januar 2013 | Keitrum/Sylt, St. Severin-Kirchengemeinde

Alle sind wir auf der Durchreise

20. Januar 2013 von Gothart Magaard

Predigt am letzten Sonntag nach Epiphanias

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus , die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch!

Liebe Schwestern und Brüder,

Kennen Sie die wunderbare Anekdote von dem Touristen, der – wohl nicht in einer Sylter Ferienwohnung, sondern irgendwo in Spanien – eine Nacht in einem Kloster verbringen darf? Er ist äußerst erstaunt über die spartanische Einrichtung der Klosterzellen und fragt am nächsten Morgen die Mönche: "Sagen Sie, wo haben Sie eigentlich Ihre Möbel?" Schlagfertig fragen die Mönche zurück: "Ja, wo haben Sie denn Ihre?" "Ich?", erwidert der Tourist verblüfft. "Ich bin doch nur auf Durchreise hier." "Eben", geben die Mönche lächelnd zurück, "das sind wir doch auch."

Auch wenn wir es oft nicht wahr haben wollen: Wir sind alle nur auf der Durchreise hier, und ich meine damit nicht nur die Urlauber auf dieser Insel! Wir alle sind es hier auf Erden.  Im Drang der Geschäfte und aller Alltagsfragen und Aufgaben vergisst sich das leicht. Und kommt manchmal wie ein Schock urplötzlich doch zu Bewusstsein, wenn der Tod uns näher kommt und wir von einem vertrauten Menschen Abschied nehmen müssen. Wie vor einem Jahr (23. Januar 2012), als aus heiterem Himmels die Schreckensbotschaft kam und wir hier in St. Severin Abschied nehmen mussten. Erschüttert. Nach Worten ringend. Abschied von unserer Schwester im Glauben, Ihrer Pastorin Heike Reimann.

Lasst uns deshalb einen Moment innehalten und in der Stille an Sie und Ihre Familie denken.

(Stille)

Liebe Schwestern und Brüder,

was sollen wir nun heute sagen, ein Jahr danach?

Ja, wir sind Gäste hier auf Erden. Zerbrechlich und vorläufig. Durchreisende eben.  Die Losung für das begonnene Jahr 2013 schärft es uns ausdrücklich ein: "Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir".

Also kein „Hier ist es gut sein. Hier lasst uns Hütten bauen“. Nein. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“

Ähnlich sagt es auch der Predigttext für heute. Ich lese uns aus dem Johannes-Evangelium, Kapitel 12. Ein kurzes Gespräch in Jerusalem – nach dem triumphalen Einzug unter den Hosianna-Rufen des Volkes, und vor dem Beginn des Leidensweges, der am Kreuz von Golgatha enden wird.

Das Volk sprach zu Jesus: Wir haben aus dem Gesetz gehört, dass der Christus in Ewigkeit bleibt; wieso sagst du dann: Der Menschensohn muss erhöht werden? Wer ist dieser Menschensohn?

Da sprach Jesus zu ihnen: Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht.

Glaubt an das Licht, solange ihr's habt, damit ihr Kinder des Lichtes werdet. Das redete Jesus und ging weg und verbarg sich vor ihnen.

Die Menschen können  oder wollen nicht verstehen. Wieso, jetzt ist er doch da, der Friedenskönig. Mit eigenen Augen haben wir ihn gesehen:  Jauchze laut, Jerusalem, Tochter Zion, freue dich! Jetzt gründet er sein ewiges Reich, und nichts und niemand kann uns davon trennen.

Was soll da dieses merkwürdige Reden von dem Licht, dass nur eine „kleine Zeit“ bleibt? Von seiner noch kommenden „Erhöhung“? Ist er auch nur auf der Durchreise hier? Und was bleibt uns, wenn er weggeht und auf Nimmer-wiedersehn verschwindet?

„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir." Um nicht missverstanden zu werden:  Natürlich brauchen wir Tisch und Bett und ein Dach über dem Kopf. Anders geht es nicht. Aber genauso gilt auch das andere: jedes Haus, in dem wir wohnen, ist immer Zuhause auf Zeit. Zwischenstation, ein Rastplatz, befristet. Immer war da ein Vorher, und es wird immer auch ein Danach geben. Unser Leben ist diese Reise durch Räume und Zeiten. Keiner hält uns endgültig fest, ist abschließend, absolut, und ewig. Sie sind und bleiben Durchgangsstationen, ein Zuhause auf Zeit, und wir selbst sind und bleiben auf dem Weg. Das erleben wir sicher unterschiedlich intensiv: Derjenige, der seit Jahrzehnten auf der Insel lebt und diejenige, die alle paar Jahre der Arbeit hinterherzieht von Ort zu Ort.

Ich glaube, es ist wichtig, sich diese Vorläufigkeit  immer wieder bewusst  zu machen. Denn das schafft ein Stück Distanz, gibt Freiheit im Umgang mit der Umgebung und rückt die Maßstäbe zurecht.

„Die Herren dieser Welt kommen und gehen", hat Gustav Heinemann einmal gesagt, "aber unser Herr kommt“. Und dieses Wissen hilft. Denn was zunächst so mächtig und einschüchternd daherkommt, das schrumpft jetzt auf sein reales Maß zusammen. Entpuppt sich nicht als Letztes, sondern als Vorletztes.  Ich kann die Dinge an den Ort stellen, wo sie auch hingehören; kann das ansprechen und ändern, was anzusprechen und zu ändern ist, kann das annehmen und ertragen, was im Moment nun einmal nicht zu ändern ist, und kann in Ruhe und Gelassenheit auch zwischen dem Einen und dem Anderen unterscheiden.

Aber können wir so auf Dauer leben? Immer nur „auf der Durchreise“? Gibt es nicht auch eine Kehrseite? Den Raubbau mit unseren Kräften, ein Gefühl von Heimatlosigkeit und die Gefahr einer gnadenlosen Selbst-Überforderung in einer Beanspruchung an 7 Tagen über 24 Stunden? Können wir Menschen wirklich dauermobil sein, immer flexibel, immer dynamisch, ständig in Bewegung, immer schneller, immer höher, immer weiter? Unsereins muss auch einmal schlafen dürfen! Wirkliche Ruhezeiten erleben, Unterbrechungen des Alltags – auf dieser Insel suchen viele Menschen genau das. Die Seele baumeln lassen.

Fachleute sagen: Noch nie war so viel in einem solchen Tempo an so unterschiedlichen Orten gleichzeitig in Bewegung. Die Stichworte kennen wir alle. Globalisierung, Individualisierung, Beschleunigung der Lebenswelten und Vernetzung. Fusionen und ihre Nachwirkungen- auch in der Kirche. Die Wellen der Schuldenkrise in Europa mit zahllosen Jugendlichen in Südeuropa ohne Perspektiven, - der  steckengebliebene arabische Frühling, - die aufstrebenden neuen Großmächte.

Kaum ein Stein scheint auf dem anderen zu bleiben – nicht nur im alten Haus Europa, nein, im ganzen Weltgefüge und ebenso in den Weltbildern in unserem Kopf. Sicher, im Wandel liegt immer beides:  Es eröffnen sich ganz enorme, noch nie dagewesene Chancen – aber genauso auch ganz enorme, noch nie dagewesene Risiken und Gefahren.

Wie können wir diese Zeit bestehen?  Wo finden wir Halt und festen Boden unter den Füssen?

Glaubt an das Licht, solange ihr's habt, -  sagt Jesus  - damit ihr Kinder des Lichtes werdet.

Das ist ein wunderbares Versprechen. Wie wohltuend das Licht ist, erleben wir doch gerade in diesem trüben Wintermonaten. Wenn da tatsächlich das Licht der Sonne uns erreicht, dann leben wir auf! Aber Jesus meint offenbar noch mehr, ein anderes Licht. Aber wo leuchtet dieses Licht und wo leuchtet es uns so sehr ein, dass wir erleuchtete Kinder des Lichtes werden?

Der Schlüssel liegt für mich im dem Wort „Erhöhung“. In diesem winzigen Satz,  den Jesus ihnen hingeworfen hat und den die Jerusalemer so schwer nur begreifen können:

Der Menschensohn muss erhöht werden.

Was meint das?

Vordergründig geht es um die Kreuzigung auf Golgatha. Christus wird im Wortsinn ganz buchstäblich am Kreuz über die Köpfe der Menge „erhöht“.

Aber hintergründig zielt das Wort auf den Doppelsinn des Kreuzestodes. Das ist ähnlich wie die bekannten doppeldeutigen Zeichnungen in den Lehrbüchern der Psychologen. Das gleiche Bild kann uns dabei eine alte Frau zeigen oder ein junges Mädchen, je nachdem, wie unser inneres Auge die Linien auf dem Papier auffasst. Ob es eher das Dunkle, Schwarze fixiert oder ob unser geistiger Blick auf das Helle, Leuchtende anspringt.

Im Blick auf Golgatha liegt das Dunkel auf der Hand. Wir sehen, was herauskommt, wenn ein Mensch in die Hände von Menschen fällt.

Welche Scheußlichkeiten da begangen werden, von Menschen an anderen Menschen. Die Macht des Bösen, wie sie Menschen unzählige Male durchlebt und durchlitten haben und es täglich noch tun. Syrien, Mali, Afghanistan, aber auch in unserem eigenen Land: Wenn Kinder vernachlässigt werden und Menschen Opfer von blindem Hass werden.

Das Kreuz von Golgatha hält jedem von uns den Spiegel vor. Es bündelt und  bildet ab, zu welchen Taten und Untaten  wir Menschen fähig sind.  Das ist der Preis unserer Freiheit, ihre dunkle, abgründige, schreckliche Kehrseite.

Aber die Gestalt des Kreuzes ist ebenso auch das Wahrzeichen des wahren, klaren, geradlinigen Menschen. Der nichts zu verbergen hat. Der aufrecht, mit erhobenem Haupt durchs Leben geht und der uns offen, mit ausgebreiteten Armen und offenen Händen entgegenkommt.

Der aus einem großen „Ja“ heraus lebt und mich das auch spüren lässt. "Ja, hier bin ich. Komm in meine Arme. Lass dich drücken. Gut, dass du da bist."

Und genau diesen Doppelsinn– das in, mit und unter dem „Nein“ verborgene „Ja“ – meint der winzige Satz:  Der Menschensohn muss erhöht werden.

Im Klartext: Man will Christus erniedrigen – und erhöht ihn im gleichen Atemzug, ohne es zu wollen.  Man meint, Christus wie einen Gewaltverbrecher in Schimpf und Schande zu tun - und erweist ihm ungewollt und ohne es zu wissen gerade dadurch die allerhöchste Ehre. Denn am Kreuz wird er buchstäblich auf die Haltung "festgenagelt", die er als einzige für sich beansprucht hat. Schutzlos, wehrlos, mit weit offenen Armen, voller Hingabe und Liebe.  Und so wird er „erhöht“.

Also: Kommt an die Stelle, wo tatsächlich sein Platz ist: in den Zwischenraum, in die Mitte zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch. Christus ist diese Mitte in Person, und er ist der Mittler, der exakt die Schnittstelle bezeichnet, wo beide sich verbinden und kein Abstand mehr klafft zwischen Mensch und Gott und Gott und Mensch. Diese innerste Mitte der Welt bekommt durch das Kreuz auf Golgatha ein Gesicht. Und sie hat seitdem auch einen Namen. Er lautet:  Gottesliebe und Menschenliebe - wie Christus sie verkörpert hat und bis an das Kreuz durchgehalten hat.

Liebe Schwestern und Brüder,

„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“. Noch leuchtet hier in St. Severin der Stern der Gotteshuld, der mit uns mitgegangen ist seit dem Advent. In den nächsten Tagen wird der Küster ihn abnehmen und verstauen. Dann kommen die anderen Themen auf uns zu: Passionszeit, Sieben Wochen ohne oder anders, Tod und Auferstehung. Wir sind und bleiben Durchreisende. Gäste auf dieser Erde. Aber wir können und wir dürfen das nüchtern und realistisch sagen und annehmen. Ohne übertriebene Ängste, ohne überzogene Zukunftserwartungen.

Denn eines unterscheidet unsere christliche Lebenshaltung. Bei Christus haben wir gelernt:  Zukunft ist nicht an Golgatha vorbei zu gewinnen. Der Menschensohn muss erhöht werden. Der Weg führt nicht um Schmerz und Tränen herum, sondern durch sie hindurch. Aber es ist und bleibt ein Weg unter einem guten Stern. Und wir dürfen gewiss sein: dieser Weg wird sich nicht irgendwo im Nichts verlieren. Er kommt zum Ziel in der schattenlosen, endgültigen Klarheit, die am Ostermorgen anbrach, als Christus nicht im Grab blieb.

Unser Suchen ist darum kein zielloses Umherirren. Wir sind nicht die Retter der Welt. Aber wir dürfen  auf den Retter vertrauen, der uns an Weihnachten in der Krippe begegnet ist, der Mensch wurde und der am Kreuz unter Schmerzen und Tränen an unserer Seite geblieben ist. Zu diesem Gott sind wir unterwegs. Wir haben hier keine bleibende  Stadt. Lasst uns deshalb einzeln und gemeinsam aufbrechen und nach den Konturen der zukünftigen Stadt suchen, nach den Plätzen, Häusern und Straßen der Stadt Gottes, die jetzt in, mit und unter den Häusern und Straßen unserer Welt heranwächst. Und lasst uns dabei als Gemeinden gute Gastgeber sein für alle Menschen, die unterwegs sind. Ob sie Urlauber sind oder Insulaner: Gute Gastgeber gegenseitig in guten und in schweren Zeiten.

Amen.

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