„Deutschland braucht kein Punktesystem“
28. April 2015
Berlin. Einmal im Jahr nehmen Wissenschaftler im Auftrag von Stiftungen die deutsche Migrationspolitik unter die Lupe. Ihr Fazit ist in diesem Jahr ein großes Lob bei der Arbeitsmigration. Doch beim Thema Asyl vermissen sie etwas Entscheidendes: Mut und Verantwortung.
Deutschland ist beim Thema Einwanderung nach Ansicht von Wissenschaftlern zum Vorreiter geworden. In seinem Jahresgutachten bescheinigt der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration der Bundesrepublik ein "fortschrittliches migrationspolitisches Instrumentarium". Forderungen, kanadische oder US-amerikanische Regelungen zu übernehmen, seien von wenig Sachkenntnis geprägt, sagte die Vorsitzende des Rates, Christine Langenfeld, in Berlin. Deutschland brauche kein Punktesystem, betonte sie. Reformwillen fordern die Experten aber beim Thema Asyl – und schlagen freie Wohnortwahl für Flüchtlinge vor.
Langenfeld lobte die deutschen Regelungen zur Anwerbung der Zahl von Akademikern und Fachkräften in Ausbildungsberufen. Änderungsbedarf sieht sie allerdings bei der nach wie vor teils stockend verlaufenden Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Zudem bemängeln die Experten im Gutachten, dass die deutschen Zuwanderungsregeln zu wenig bekannt seien, und fordern einen konsequenten "roten Faden" der Politik. Das Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland müsse noch gefestigt werden.
Einwanderungsgesetz gefordert
Bei ihrem Plädoyer für mehr Einwanderer sehen sich die Wissenschaftler auch von den aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes bestätigt, nach denen Zuwanderung in der Lage ist, den Bevölkerungsrückgang in Deutschland zu bremsen. Der Bildungsforscher Wilfried Bos betonte, angesichts der demografischen Entwicklung sei Zuwanderung notwendig: "Ihre Renten werden von Zuwanderern bezahlt."
Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), forderte vor dem Hintergrund des Gutachtens erneut ein Einwanderungsgesetz. "Deutschland ist als Einwanderungsland zwar besser als sein Ruf, aber es fehlt noch immer an einer stimmigen Einwanderungspolitik aus einem Guss, die von unserer Bevölkerung nachvollzogen werden kann", sagte sie in Berlin. Dabei sehen die Wissenschaftler in diesem Bereich selbst keine Notwendigkeit neuer Gesetze.
Anders ist dies beim Thema Asyl: In kaum einem anderen Feld bestehe so offensichtlicher Handlungsbedarf, heißt es im Jahresgutachten mit Blick auf die Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer.
Plädoyer für umstrittenes Dublin-System
Die Sachverständigen plädieren dabei für den Erhalt des umstrittenen Dublin-Systems, nach dem der Ersteinreisestaat für Asylverfahren, Unterbringung und gegebenenfalls Abschiebung von Flüchtlingen zuständig ist. Die betroffenen EU-Grenzstaaten sollen aber finanzielle und logistische Hilfe dafür erhalten, dass sie einen großen Teil dieser gesamteuropäischen Aufgabe übernehmen, fordert der Rat.
Kombiniert werden soll das Dublin-System nach ihrem Vorschlag durch das Prinzip freier Wohnortwahl nach erfolgreichem Abschluss eines Asylverfahrens. Die Staaten in Südeuropa bekämen Gewissheit, dass anerkannte Flüchtlinge in den Westen und Norden Europas weiterwandern, argumentieren die Wissenschaftler. Die Länder im Norden bekämen im Gegenzug mehr Flüchtlinge, aber weniger Asylbewerber. Daneben fordert der Rat mehr gemeinsame Aufnahmeprogramme der EU für Bürgerkriegsflüchtlinge.
Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl reagierte skeptisch auf den Vorschlag der Wissenschaftler. Die Ersteinreisestaaten in Europa müssten dadurch unterstützt werden, dass Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan nach Deutschland durchreisen dürfen, sagte Geschäftsführer Günter Burkhardt dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Denn hier wollen sie berechtigterweise hin, weil hier oft ihre Angehörigen leben", sagte er. In Bulgarien, Griechenland oder Ungarn sei es indes nicht möglich, kurzfristig in menschenrechtskonformer Weise Aufnahme und Asylverfahren zu organisieren.