Im Schmerz zeigt sich die Menschlichkeit
07. April 2015
Karfreitag, Kantatenpredigt zu Bachs „Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem“
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
„Sehet! Seht hin!" Das ist der Ruf dieser Stunde. Wo man am liebsten wegschauen würde, sollen wir hinsehen. „Seht hin, er ist allein im Garten", haben wir eben gesungen und uns damit einiger Stationen der Passion Jesu erinnert. Und auch die Bachkantate, die wir im Anschluss hören werden, nimmt uns mit auf diesen inneren Weg, der bei Jesus sein will.
„Sehet!", ist denn auch das erste Wort der Kantate. „Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem." Doch schon in diesen ersten Satz mischt sich die Stimme der Vorbehalte, des Widerstands, die Stimme, die das Leiden am liebsten fliehen würde. „Ach, gehe nicht!", singt der Alt. Diese Stimme weiß, welch harter Gang es für Jesus sein wird. Aber es ist nicht nur Mitgefühl, das am liebsten diesen schweren Weg vermeiden möchte – es ist auch das Wissen um die eigene Verwicklung in dieses Geschehen:
„O harter Gang! hinauf?
O ungeheurer Berg, den meine Sünden zeigen!"
Ja, wer wollte das schon gern wahrhaben, dass Jesu schmerzensreicher Weg etwas mit mir selbst zu tun haben könnte!? Das ist ja dieses echte Ärgernis, dass da einer sein Leben hingibt – ob ich will oder nicht, sich hingibt auch für mich! Und ich kann es nicht verhindern, sondern nur annehmen – oder wegschauen. Für mich ist es kein Wunder, dass manche Menschen davor zurückscheuen, Christen zu werden. Denn das Christentum ist keine ‚Wohlfühl'-Religion, sondern hält uns den Spiegel vor; und was wir darin von uns erkennen, ist ernüchternd, wenn nicht erschütternd.
„Sehet!", um diese Zumutung kommen wir heute, am Karfreitag nicht herum. Aber in diesem Sehen liegt auch Mut-Fassen. Denn auch dies wird im ersten Kantatensatz schon deutlich: Dieser Weg Jesu hinauf nach Jerusalem, hinauf ans Kreuz wird uns zum Heil. Folgerichtig eröffnet der zweite Satz mit den Wort: „Ich folge dir nach." Und der Chor antwortet: „Ich will bei dir stehen." Den Weg Jesu mitgehen, zu Jesus stehen, als es nicht mehr weitergeht – was kann es für uns bedeuten?
Es ist ein inneres Geschehen, und es ist eine Art zu leben. Unser Glaube lebt davon, dass wir der göttlichen Zuneigung innewerden, die uns in Jesus begegnet. Aus Liebe wurde Gott Mensch und ließ sich auf diese zerrissene Welt ein. Aus Liebe zeigte Gott in Jesus, dem Christus, was Menschsein heißen kann. Aus Liebe ging Gott seinen Weg der Hingabe bis ans Kreuz.
Wer könnte solche Zuneigung in ihrer Tiefe ermessen? Und doch ist es gut, dies immer wieder neu zu meditieren, sich das zu Herzen gehen zu lassen und durch den Kopf. Denn wenn wir eintauchen in dieses unerschöpfliche Meer der Liebe, können wir auftauchen als Menschen, die in Gottes Sinn leben. Wir können zu Menschen werden, die bei Gott stehen in seinem Leiden – heute, in dieser Zeit.
Spüren wir, wie Gott leidet? Wenn seine Menschenkinder geschändet und geschlachtet werden, wenn eigentlich genug für alle da ist, aber der Reichtum der einen das Elend der anderen gebiert, wenn seine Schöpfung ausgeweidet wird und verbraucht – dann schaut nicht weg, sondern tut, was in eurer Kraft steht! Und sei es an einer einzigen Stelle!
Gott erwartet nicht, dass wir die Welt retten. Aber dass wir nach unseren Möglichkeiten Verantwortung übernehmen – im Gebet, mit unserer Arbeit, mit unserem Füreinander-Einstehen – das kann schon von uns erwartet werden.
Christus zu folgen, zu Gott zu stehen in seinem Leiden – es ist ein inneres Geschehen, und es ist eine Art zu leben. Das Eine kann nicht ohne das Andere sein.
Der dritte Schritt auf dem Kantaten-Weg ist der Schritt des Trauerns: Jesus ist gestorben, dieser wunderbare Mensch getötet. Und mit ihm so viele andere: Mahatma Gandhi, Janusz Korczak, Martin Luther King, Elisabeth Käsemann, Yizchak Rabin, Frere Rogér und die vielen, deren Namen wir nicht kennen – Menschen, die getötet wurden, weil sie für Gerechtigkeit eintraten und Frieden, oder einfach weil sie Juden waren oder Christen oder Muslime und anderen als gottlos galten. Immer wieder wird versucht, die Hoffnung zu töten. Die Trauer um diese Menschen ist wichtig. Wer seinen Schmerz nicht zulässt, verliert ein Stück seiner Menschlichkeit. Die Trauer um Jesus ist wichtig. Denn wer über Karfreitag hinweggeht, kann Ostern nicht ermessen.
Aber dann der vierte Kantatensatz:
„Es ist vollbracht,
Das Leid ist alle,
Wir sind von unserm Sündenfalle
In Gott gerecht gemacht.
Nun will ich eilen
Und meinem Jesu Dank erteilen,
Welt, gute Nacht!
Es ist vollbracht!"
Der große Umschwung – nicht nur emotional: Das Werk ist vollbracht. Das Leiden ist nicht ohne Sinn und ist nicht das Ende. Aus ihm geht Neues hervor: Wir Menschen – „in Gott gerecht gemacht". Das heißt nichts anderes als: Wir können bestehen – vor uns selbst und vor Gott –, weil unsere Beziehung zu Gott geheilt ist. Das, was uns getrennt hat von Gott, ist überbrückt. Unsere Sünde ist überwunden. Die Liebe hat es geschafft. „Es ist vollbracht." Und das im Perfekt! Vollendete Gegenwart! Erstaunlicherweise.
Auch wenn wir als Menschen immer wieder zurückfallen in alte Muster, uns von Gott wieder und wieder abwenden – es hat nicht mehr diese verhängnisvolle Macht. Wir können umkehren und neu leben. Wir sind nicht festgenagelt auf unser Versagen. Christus am Kreuz hat es ermöglicht, dass wir in der entscheidenden Beziehung unseres Lebens versöhnt leben können. Versöhnt mit uns selbst, versöhnt mit Gott.
Dankbarkeit steht am Ende. Der letzte Choral der Kantate beginnt denn auch mit den Worten:
„Jesu, deine Passion
Ist mir lauter Freude,
Deine Wunden, Kron und Hohn
Meines Herzens Weide;“
Man muss einen Weg gegangen sein, um diese Worte zu verstehen.
Wer nicht wegschaut, sondern sieht auf den Weg Jesu,
wer ihm folgt und bei ihm steht in seinem Leiden,
wer die eigene Trauer nicht überspielt, sondern ihr Raum gibt,
der wird erleichtert und dankbar erkennen:
In der Hingabe Jesu ist überwunden, was uns von Gott trennen kann.
Es ist vollbracht.
Geschenkt sind uns Hoffnung und Mut, neu zu leben.
Amen.