Predigt über 2. Mose 33,17b-23
16. Januar 2011
Liebe Schwestern und Brüder! Ich glaube nur, was ich sehe. Wir Menschen sind Augentiere. Wir brauchen Helligkeit, Licht, Klarheit. Glasnost hieß das einmal, am Ende des Kalten Krieges - Transparenz, Durchblick, damit Perestroika möglich wird, Umgestaltung, und die Welt wieder klar wird, überschaubar - ohne Abgründe, in denen die Dämonen hausen, die uns Angst machen und den Schlaf rauben. Mose will Glasnost. „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ Mose will sehen mit eigenen Augen, von Angesicht zu Angesicht. Dafür war er auf den Berg gestiegen, Gott entgegen. Er will Gewissheit: Sind wir und bin ich auf dem richtigen Weg, dem Weg Gottes und seiner Wahrheit? Oder war sie nur ein schöner Traum, diese Hoffnung auf Freiheit und Würde, jenseits der Plackerei und Schufterei im Sklavenhaus Ägypten? „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ Zerstreue die Zweifel, die untergründige Angst, auf dem Holzweg zu sein.
Zu verstehen ist das schon. Das Sklavenhaus im Rücken, das verheißene Land in weiter Ferne - und rings herum Wüste. Tot, steinig, lebensfeindlich. Und dann, später, wieder ein großes Durcheinander, dieser Hexentanz um das Goldene Kalb, nach Moses Rückkehr vom Berg, wo er ja eine Ahnung der Gegenwart Gottes erhalten hatte, die Gebote, die Leben schützen und erhalten in aller Gefahr. Da wäre Mose ja fast verzweifelt, als er das Volk sah, wie es tanzte um den selbst gemachten Gott, um die selbst gefertigte Herrlichkeit!
Wir wollen sehen, spüren, erleben - so hatte das Volk immer wieder gemurrt und geschrien. Wir wollen auch etwas davon haben, heute, hier und jetzt - und nicht erst morgen und in weiter Ferne.Und flugs war das Götzenbild da. Das Gold, dieser imposante Stier: Inbegriff von Macht. Potenz. Reichtum. Wachstum.
Ist das heute anders?
So definieren wir Menschen „Herrlichkeit“: Glanz, von uns gemacht; Macht, von uns erkämpft und verliehen; Stärke, blendend in jeder Hinsicht. Das ideal Schöne, das wir sehen und anfassen können, das unseren Augen und Sinnen gut tut und das das Elend der Welt und das Abgerissene ausblendet.Wohin aber geht die Reise unserer Welt?
Da ist alles andere als Herrlichkeit und Glanz: Armut vieler wächst wie der Reichtum weniger. Das Klima dieser Erde reagiert auf die Ausbeutung der Schöpfung zugunsten herrlichen Lebens und macht zunehmend Teile der Erde unbewohnbar. Die steigenden Fluten z. B. in Brasilien, die hunderte Menschen in den Tod rissen, seien eine vorhersehbare Tragödie, sagt der dortige Gouverneur!
Und dann: Menschen werden verfolgt, getötet wegen ihres Glaubens oder terrorisiert wegen ihres politischen Engagements. Die Schutzschirme für Banken und Konzerne und für ganze Länder: das Ende unbegrenzten Wachstums und sorgloser Herrlichkeit. Und was wir mit Lebensmitteln schlucken, schmeckt oft zwar herrlich, ist es aber nicht immer!
Wenn wir also auf dem Holzweg sind:
Lass mich deine Herrlichkeit sehen, sagt Mose. Zeige dich in deinem Glanz, deiner Macht, deiner Wahrheit.
II
Lass sehen! Gott entzieht sich nicht. Er spricht. Sein Wort ist das Bild, das wir von ihm bekommen – herrliches, befreiendes, ermutigendes Wort.
"Gott sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will vor dir kundtun den Namen des Herrn: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst Du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht."
Mose hatte nach "Herrlichkeit" gefragt, er suchte und sehnte sich nach dem imposanten Gott, stark und mächtig. Jetzt antwortet Gott ihm und sagt nicht "Herrlichkeit", sondern: "Güte". Er sagt nicht "Macht", sondern sagt "Gnade". Er sagt nicht "Strafe" sondern sagt "Erbarmen".
"Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich." Diese Visitenkarte gibt Gott Mose. Güte, Gnade, Erbarmen. Das sind die Worte, auf die ich höre.
Sprich, damit ich dich sehe. Was Mose auf dem Gottesberg erlebt - das wird später ähnlich von einem anderen Gottesmann erzählt. Von Elia, als er vor der Königin Isebel und ihrem Anhang zum Gottesberg Horeb flieht und Gott begegnet. Auch dort kein mächtiger Sturm, kein verzehrendes Feuer, kein Beben, das die Welt in ihren Grundfesten erschüttert. Im ersten Buch der Könige steht es:
"Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem Herrn her; der HERR aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der HERR war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging hinaus und trat in den Eingang der Höhle. Und siehe, da kam eine Stimme zu ihm und sprach."
Genauso erlebt es Mose. Keine imposante Machtdemonstration - nur eine stille Stimme. Die stillsten Worte sind es, die den Sturm bringen, sagt Nietzsche.
Damit könnte die Geschichte zu Ende sein. Gottes Herrlichkeit heißen Güte, Gnade, Erbarmen. Fertig!Aber Gott "…sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht... Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen."
Statt „Audienz“ sagt man heute gerne neudeutsch "Face-Time". Face-Time mit dem Chef. Und so intim der Einblick ist, der Mose gewährt wird - die Face-Time, die Augenhöhe und direkte Konfrontation von Angesicht zu Angesicht, bleibt ihm verwehrt. Stattdessen wird zweimal sehr deutlich von seinem Standort gesprochen, wo er geerdet ist und bleibt: "Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen", "Ich will dich in die Felskluft stellen und meine Hand über Dir halten". Ich höre das wie eine Standortbestimmung, eine Platzanweisung für unser Leben und unseren Glauben: Gott schenkt Mose seine Nähe, holt ihn zu sich hinauf auf den Gipfel des Berges, wo ihm die Welt zu Füssen liegt, gibt ihm Raum bei sich und festen Boden. Fels, auf dem er sicher stehen kann. Gott und Mensch kommen sich nahe - aber sie fließen nicht ineinander. Sie bleiben unterschieden, es bleibt der Abstand. Distanz und Nähe, wie sie jede Beziehung braucht, die aus Liebe sich speist. Mose braucht die Erde, die Tiefe der Felskluft, die ihn birgt, damit er nicht verbrennt; und er braucht den Schatten der Hand, der seine Augen bedeckt, damit er nicht erblindet. Kein Mensch wird leben, sagt Gott, der mich sieht. Also keine Face-Time mit dem Chef, und deshalb auch, und das ist höchst wichtig: keine mystische Verschmelzung und kein Fanatismus aus Glauben: keine Verblendung in der Nähe Gottes!
III
Die Nähe und Intimität zu Gott befreit. Sie schafft Klarheit, Überblick - sie gibt festen Boden unter die Füße und schafft eine gelassene Distanz zur Welt und zu allen innerweltlichen Bindungen. Das ist Freiheit der Kinder Gottes. Aber genau darin liegt auch eine Gefahr: Die ganz große Verführung, sich in dieser Nähe mit Gott zu identifizieren und dann etwa gegen das Reich des Bösen oder den großen Satan, wer immer das dann gerade sein mag, als auserwählter Vollstrecker seines Willens aufzutreten und ins Feld zu ziehen. Gegen Feinde – vermutete und wirkliche; gegen Andersglaubende, gegen Fremde. Der Weg vom begeisterten, gotterfüllten Mystiker zum fanatischen Gotteskrieger ist nicht sehr weit. Mose kommt auf dem Gottesberg Gott ganz nahe - aber, und das ist für mich der entscheidende Punkt in der biblischen Erzählung: je mehr er sich dem Gipfel nähert, desto klarer wird er in die Tiefe geschickt: „Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen“. Der Mensch ist eben nicht Gott und es tut ihm auch nicht gut, wenn er Gott festhalten, ihn besitzen oder gar sich selbst zum Gott dieser Welt machen will. Unübertroffen hat Martin Luther diese paradoxe Doppelbewegung des Glaubens sowohl in die Höhe, hinauf zu Gott, als auch in die Tiefe, hin zu Demut und Liebe beschrieben: "Wer mag nun ausdenken die Ehre und Höhe eines Christenmenschen?" sagt er in seiner Schrift von der Freiheit eines Christenmenschen, "Durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe."
Gott kommt nahe, mir nahe. Er hält seine Hand über mir. Er gibt Schutz und Schirm. Aber Gott bleibt nicht einfach, wird nicht eins mit mir. Er geht vorüber. Und nimmt seine Hand von mir: er hält mich und - er sendet mich. Freiheit gibt er und Kraft für Verantwortung. Lässt die Höhe sehen und mutet doch die Tiefe zu. So geht das Leben: wir erreichen wunderbare Höhen. Und wir finden uns wieder in leidvollen, erschreckenden Tiefen. Wir sind stark und wir sind schwach. Wir wissen genau, wie es weiter geht – und wir kennen unseres Lateins Ende.
Lass mich deine Herrlichkeit sehen. Der absolute Gipfel, das unmittelbar Vis-a-Vis bleibt Mose verschlossen. Aber wird ihm nicht viel, viel mehr geschenkt? Nicht nur die Offenbarung des Namens, des inneren Wesens Gottes - sondern auch der Ausblick und das Versprechen, mit dem unsere Erzählung schließt?
„Ich will meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen.“ Hinterher-Sehen - das können wir nur einem, der vor uns auf dem Weg ist und dem wir folgen. Eben das verspricht Gott Mose: Du und das Volk - ihr seid nicht auf dem Holzweg! Ich bin der Gott vor Euch, ihr geht euren Weg nicht allein. Ich bin eure Zukunft, euer Weg und euer Ziel. Sucht meine Spuren, folgt ihnen aufmerksam nach - und ihr werdet finden aus der Wüste in das gelobt Land der Freiheit und Würde für alle Menschen. Gott vor uns: Wir gehen den Weg unseres Lebens oft ohne Gott. Und wenn wir ihn suchen oder allein nicht weiter wissen, dann erwarten wir, dass er uns folgt, da ist, wo wir sind, uns zu bewahren vor dem Bösen, uns nach-sieht. Er aber ist uns voraus auf dem Weg des Lebens bis in den Tod und über den Tod hinaus – auf dem Weg, den wir vor uns haben, haben wir auch Gott vor uns! So ist die Herrlichkeit Gottes zu sehen, dass er sich selbst hingibt, selbst in die Tiefe steigt des Lebens, wie er es in Jesus Christus tut.
Als Mose zurückkehrt vom Berg in die Ebene, heißt es: "Als nun Mose vom Berge Sinai herabstieg, hatte er die zwei Tafeln der Tora in seiner Hand und wusste nicht, dass die Haut seines Angesichts glänzte, weil er mit Gott geredet hatte."
Wenn wir Gott hinterher sehen, weil wir hören sein Wort, dann fällt sein Glanz auf uns. Dann kann man uns ansehen, wes Geistes Kinder wir sind: Kinder des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit für alle Menschen. Abglanz Gottes – weil er uns auf Höhen und durch Tiefen führt, seine Hand über uns hält und uns sendet: Gehet hin!
Da ist Gottesherrlichkeit – Güte, Erbarmen, Gnade – wo die Schwachen Besuch bekommen, wo die Kranken gepflegt und Traurige getröstet werden. Gottes Herrlichkeit zeigt sich, wo weitergesagt wird sein Wort, wo wir teilen, was wir zum Leben haben. Gottes Herrlichkeit zeigt sich, wo Menschen mutig in seinem Namen Frieden stiften. Seine Herrlichkeit auf Höhen und in Tiefen, wo wir einander lieben, nicht gnadenlos kritisieren, sondern gütig verstehen; wo wir Erbarmen haben für Opfer und Täter. Wo wir Einspruch erheben für die Sprachlosen. Wie Jesus es tut, der andere, der Gott nahe ist. Von dem Gott sagt: Das ist mein lieber Sohn, den sollt ihr hören! Dann seht ihr mich. In ihm ist erschienen meine Herrlichkeit: Güte, Erbarmen, Gnade! Wer dem hinterher sieht, wird nicht das Nachsehen haben, sondern allezeit wissen, wo es langt geht.
Amen.