„Ein Brief Christi“

Predigt zu 2 Kor 3, 2-6

04. Mai 2003 von Hans-Jürgen Abromeit

Der Apostel Paulus schreibt an die Gemeinde zu Korinth: „Ihr seid unser Brief, in unser Herz geschrieben, erkannt und gelesen von allen Menschen! Ist doch offenbar geworden, daß ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herzen. Solches Vertrauen aber haben wir durch Christus zu Gott. Nicht dass wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von uns selber; sondern daß wir tüchtig sind, ist von Gott, der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ (2 Kor 3,2-6)

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Liebe Gemeinde,
das ist ein gewaltiges Wort - und wenn wir es auf den Auftrag in diakonischen Einrichtungen und in unseren Gemeinden beziehen, so läßt es uns vielleicht erschrecken. Sind hier etwa alle Christen angeredet, wenn Paulus die christliche Gemeinde einen Brief Christi nennt? Ist die ganze Gemeinde ein Brief Christi, dann doch auch alle, die gegenwärtig als Schwestern ihre Aufgabe an den unterschiedlichsten Stellen wahrnehmen. Das heißt dann: Christus will durch uns eine Botschaft, seine Botschaft, herüberbringen, egal, ob sie nun mit der EKU oder der UEK wahrgenommen werden. Fühlen wir uns da nicht überfordert? Fragen wir uns nicht, ob Paulus uns damit zuviel zumutet? Ich möchte anhand dieses Textes an den Horizont des christlichen Auftrages erinnern, sodann fragen, was denn der Inhalt dieses Auftrages ist, und schließlich andeuten, wie diese große Aufgabe bewältigt werden kann.

1. Eine Entscheidung auf Leben und Tod

Der Horizont, vor dem Paulus seine Aussagen macht, ist ganz umfassend. Es geht um eine Entscheidung auf Leben und Tod. Wenige Verse vorher reißt er diesen Horizont auf, wenn er sich und seinen Auftrag, das Evangelium zu verkündigen, als „Wohlgeruch Christi“ bezeichnet: „…diesen ein Geruch des Todes zum Tode, jenen aber ein Geruch des Lebens zum Leben. Wer aber ist dazu tüchtig?“ (2 Kor 2,15-16)
Wir machen uns ja gar nicht klar, wie nahe Leben und Tod einander sind und welche Kluft sie dennoch trennt. Es geht dabei nicht nur um die Alternative „ewiges Leben - ewiger Tod“. (Allerdings geht es auch um diese Alternative.) Aber gerade weil ewiges Leben und ewiger Tod auf dem Spiel stehen, sind zeitliches Leben und zeitlicher Tod nicht gleichgültig, sondern erscheinen erst recht in der ihnen eigenen Wichtigkeit und auch Begrenzung.
Da uns der Zusammenhang zwischen ewigem und zeitlichem Leben verlorengegangen ist, schwanken wir hin und her zwischen Vitalismus und Lebensverachtung. Die Haltung: „Ich will Genuß sofort!“ liegt nicht fern von der anderen: „Leben - nein danke!“ Wenn die als besonders intensiv erwartete Erfüllung des Lebens ausbleibt, ist der Schritt zur Selbsttötung schnell getan. [Erich Fromm hat diese - heute vielerorts anzutreffende - Tendenz, daß absolute Lebensbejahung in Lebensverachtung umschlägt, „Nekrophilie“ genannt, Liebe zum Tod.] Übersteigerte Erwartung nach erfülltem Leben endet oft in selbstzerstörerischem Verhalten2. Wer alles von einem Leben diesseits der Todesgrenze erwartet, überfordert sich und räumt dem Tod eine Stellung ein, die diesem nicht gebührt. Deswegen spricht Dietrich Bonhoeffer von dieser Lebenseinstellung als „Todesvergötzung“ 3. Der Mensch, der Gott verloren hat, vergöttert den Tod.
Die stetig steigenden Selbstmordquoten zeichnen in dieser Beziehung ein entsprechendes Bild vom Zustand unserer Gesellschaft. Was mich dabei am stärksten bewegt, ist die große Zahl der Selbstmorde bei Kindern und Jugendlichen. Es ist für die nachfolgende Generation offensichtlich heute oft nur schwer möglich, das Leben als lebenswert zu erfahren. Wie anders könnten Kinder und Jugendliche es häufig einfach wegwerfen?
Vor Jahren hatte ich in einer Jugendgruppe ein damals fünfzehnjähriges Mädchen. Als einzige war sie immer da. Sie war hilfsbereit. Aber sie hatte ein großes Problem. Sie lebte als Pflegekind bei ihren Pflegeeltern. Bei Konflikten drohten die Eltern: „Du kommst zurück ins Heim!“ Einmal begegnete sie mir auf dem Mofa. Mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit fuhr sie einen steilen Berg herunter. Als ich ihr später sagte, daß das doch lebensgefährlich sei, antwortete sie: „Das ist aber ein so schönes Gefühl. Und auf mein Leben kommt es gar nicht an. Es würde mich ja doch keiner vermissen.“
Doch auch Erfolg oder Reichtum können das Leben ersticken. Hier liegt in unserer Gesellschaft gewiß die größte Anfechtung. Die Werte, die zählen, sind materielle Werte und eine Technik auf der Höhe der Zeit. „In“ ist immer noch der neueste Autotyp, der MP3-Player und das DVD-Gerät. Nur in „Esprit“, „Benetton“ oder „H u. M“ gekleidet, findet der Junge oder das Mädchen Zugang zu manchen Schülercliquen. Wobei einige dieser Textilketten bereits alle sechs Wochen ihre Kollektion erneuern. Wer „in“ bleiben will, gerät in Konsumstreß. Der Gott des Konsumismus frißt seine Kinder. Konsum macht einsam, denn er richtet den Blick auf Sachen und lenkt ihn weg vom Menschen neben mir. Konsumismus fördert die Oberflächlichkeit.

Hier bei uns in Vorpommern spielt beides eine große Rolle, der Wunsch durch materiellen Konsum oder durch den besonderen „Kick“ im Höchstgeschwindigkeitsrasen durch unsere Alleen das Leben zu steigern. Aber überzogene Lebenssteigerung bricht um in Lebensverneinung. Es gibt ein Sterben vor dem Tod. Wir stehen in unserem ganzen Leben vor der Entscheidung, ob wir jetzt das Leben oder den Tod wählen.

2. Ein Brief Christi

Wenn man vor diesem Horizont einer umfassenden Entscheidung von Paulus hört: „Ihr seid ein Brief Christi!“, so fragt man sich: Wird dann die Verantwortung, die auf uns liegt, nicht so groß, daß wir sie nicht mehr tragen können? Aber andererseits: Müssen wir uns den Schuh, den Paulus uns hinhält, überhaupt anziehen? „Ja – müssen wir!“ Denn was für die Gemeinde in Korinth galt, gilt durchaus auch für uns heute, wenn wir von der Verkündigung der guten Botschaft Gottes getroffen und in die Nachfolge Jesu gestellt sind. Durch die Taufe und mannigfach beim Lesen der Bibel und in Gottesdiensten beschenkt Jesus uns mit seinem Geist. Wir haben eine Geschichte mit Gott, in der er uns sanft und sacht auf seinen Weg gebracht hat und immer wieder dorthin zurückbringen will. Gott hat an uns gewirkt und uns zu dem gemacht, was wir sind. Wir wären doch das, was wir sind, nicht ohne Gottes Führung!
Weil nicht wir die eigentlichen Autoren unserer Lebensgeschichte sind, nennt Paulus uns einen Brief. Christus hat unsere Lebensgeschichte geschrieben, nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes. Darum sind wir ein Brief Christi, ein Brief, nicht auf Ton- oder Steintafeln, nicht auf Pergament oder Papier, sondern in die Herzen geschrieben. Wir müssen nicht die perfekten Glaubenshelden sein! Mit unserer Unvollkommenheit, mit unserem Scheitern dürfen wir ein Brief Christi sein. „Meine Kraft ist in dem Schwachen mächtig!“, sagt Paulus über unser Bemühen (2. Kor.12, 3). Das ist ein ganz kühnes Bild, wenn Paulus die Gemeinde, uns, einen Brief von Christus für alle Menschen nennt. Sie kennen vielleicht das Bonmot: „Wir sind die einzige Bibel, die heute noch gelesen wird. Aber leider - so scheint's - ist das eine schlechte Übersetzung.“
Ich habe mich oft gefragt, warum Jesus, als er auf Erden lebte, nicht einen einzigen Satz aufgeschrieben hat, um ihn der Nachwelt zu überliefern. Das hätten wir doch gewiß ganz anders gemacht. Wir hätten doch alles, was wir den Menschen mitteilen wollten, ganz genau aufgeschrieben, damit auch nichts vergessen wird und jeder in allen Zweifelsfällen Bescheid weiß. So aber ist uns alles, was Gott uns durch Christus mitteilen wollte, nur durch das Zeugnis der Gemeinde bekannt. Deswegen kommen Mißverständnisse auf, und über die Interpretation wird gestritten. Von diesen Aussagen des Paulus fällt aber noch einmal ein anderes Licht auf den merkwürdigen Tatbestand, daß wir die Botschaft Christi nur durch die Gemeinde kennen.
Es gibt eben nicht nur Briefe der Apostel, sondern es gibt einen Brief Christi. Christus hat der Welt einen Brief geschrieben - und das sind wir, das ist die Gemeinde. Das umwerfend Neue ist: Dieser Brief ist aus Fleisch und Blut (vgl. Hes 36,26). Es ist ein Herzensbrief. Er ist uns in die Herzen geschrieben (vgl. Jer 31,33). Diese direkte Art der Mitteilung ist der indirekten durch das Wort überlegen - im Hinblick auf die Intensität, nicht im Blick auf die Deutlichkeit. Gott teilt mit, indem er uns das Herz abgewinnt. Die Kommunikation von Herz zu Herz geht tiefer, als das bloße Wort zu dringen vermag.
Wir haben uns nicht selbst gemacht, sondern wir werden gebildet - von Gott, aber mit Hilfe anderer Menschen. Paulus sagt: „Ihr seid ein Brief Christi - durch unseren Dienst zubereitet -, geschrieben mit dem Geist des lebendigen Gottes“ (V.3) Nur als solche, die wir Gott und andere Menschen an uns wirken lassen, werden wir zu einem Brief Christi, zu einer Mitteilung Christi an alle Menschen.

Die Veränderung der Herzen übersteigt menschliche Möglichkeiten, ohne auf menschliche Mitwirkung zu verzichten. Diese Einsicht hilft, den Eindruck der Überforderung zu überwinden. Sie wirkt der Resignation entgegen. Wenn ich mich dem Geist des lebendigen Gottes öffne, bin ich ein „Brief Christi“. Ich bin es auch gerade mit meinem Unvermögen. Wenn ich auch hinter meinen selbstgesteckten Zielen zurückbleibe, dort, wo ich „Vertrauen durch Christus zu Gott“ (V.4) habe, bin ich ein Brief Christi.
Ich bin es allerdings nie allein, sondern immer nur als Glied der Gemeinde Jesu Christi. Weil rechts und links Schwestern und Brüder neben mir stehen - mit dem gleichen Auftrag, im gleichen Geist, mit denselben Anfechtungen -, darf ich die Zuversicht haben, an meinem Ort ein Brief Christi zu sein. Das ist für Sie als Schwesternschaft eine große Chance: Gemeinsam können Sie sein, was Sie allein nie sein könnten – ein Brief Christi. Christus teilt sich mit, indem er von ihm geprägte Menschen mitten in diese Welt schickt. Mit ihrem Leben und ihrem Reden sind sie Überbringer der Christusbotschaft. Durch sie wird der Wille Christi öffentlich. Denn dieser Brief Christi wird „gelesen von allen Menschen“ (V.2). Trotzdem bleibt die Bekundung des göttlichen Willens unsichtbar und nicht beweisbar, denn sie ist „geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes“ (V.3). Dieser Brief Christi ist keine Mitteilung über semantische Zeichen, sondern eine personale Kommunikation, die den ganzen Menschen mit einbezieht, aber innen, am Herzen (vgl. V.3) einsetzt. Die Befähigung zu solchem Dienst erlangt man nicht durch Lehrgänge und Schulungen, nicht durch Zeugnisse und Dokumente, überhaupt nicht aus seinen eigenen Möglichkeiten, sondern nur durch Gott.

3. Gott schenkt Fähigkeiten

Die Antwort auf die Ausgangsfrage, wer denn zu einem solchen auf Tod und Leben entscheidenden Dienst fähig sei (2 Kor 2,16), kann nur lauten: Nur die, die der Geist Gottes dazu befähigt hat. „Nicht daß wir fähig sind von uns selber, sondern daß wir fähig sind, ist von Gott“ (2 Kor 3,5). Wenn Christus in diesen Tiefenschichten des Menschen ansetzt, die mit dem Stichwort des Herzens bezeichnet sind, dann hat er unbegrenzte Möglichkeiten, am Menschen zu wirken. Er kann Gaben und Fähigkeiten schenken, auf die Menschen keinen Einfluß haben.
Gerade angesichts der schier unendlichen Herausforderung durch die Situation in Kirche und Gesellschaft dürfen wir darauf vertrauen, daß Gottes guter Geist die Befähigung zum Dienst schenkt. „Solches Vertrauen aber haben wir durch Christus zu Gott“ (V.4). Dieses Vertrauen ist kein Selbstvertrauen, sondern Gottvertrauen. Es ist ein Vertrauen auf das Wirken des Geistes Gottes in uns. Als Christen leben wir in einer Spannung: Wenn wir auf uns und unsere Möglichkeiten schauen, dann sehen wir unsere Schwächen und Grenzen und trauen uns kaum etwas zu. Wenn wir aber auf Gott schauen, dann sehen wir die Möglichkeiten Gottes und dürfen uns deswegen auch Großes zutrauen. - Im Jahre 1980 lernte ich die damals neunzigjährige Kaiserswerther Diakonisse Schwester Bertha Harz4 in Jerusalem kennen. Das Gespräch mit der alten Dame war immer anregend und zugleich eine anschauliche Darstellung der Geschichte des Nahen Ostens vom Osmanischen Reich bis heute. Seit 1910 (!) lebte Sr. Bertha - mit kleineren Unterbrechungen - im Orient und leitete jahrzehntelang die Evangelische Mädchenschule Talita Kumi - durch fünf Kriege hindurch und in sogenannten Friedenszeiten, die allemal schwer waren. Als ich sie einmal fragte, woher sie die Kraft und die Motivation gewonnen habe, dreimal mit ihrer Schule wieder am Nullpunkt anzufangen, antwortete sie: „Es gab für mich nichts, was ich nicht konnte.“ Ich ertappte mich bei dem Gedanken, ob wohl Senilität bei ihr zum Realitätsverlust geführt habe. Aber sie fuhr fort: „Denn Gott kann ja alles.“ Und ich verstand, daß sie mir nicht von ihrer Selbstsicherheit, sondern von ihrer Gottesgewißheit erzählen wollte.
Dagegen sind wir doch oft feige und mutlose Leute. Angesichts der festgefahrenen Situation, angesichts der manchmal hoffnungslosen Isolierung von Christen fehlt uns so ein überzeugtes: „Gott kann ja alles!“ Er kann in der Tat aus jeder Sackgasse herausführen und uns Fähigkeiten zuwachsen lassen, die wir uns selbst niemals zugetraut hätten. Aber wir haben diese Kraft nicht aus uns selbst (vgl. V.5). Nur als die in gemeinsamer Schwachheit Stehenden bleiben wir vor Mißtrauen bewahrt und vor Menschen glaubwürdig.
Entscheidend ist darum, daß Sie nicht als perfekter Mensch erscheinen wollen, sondern als einer, der zu seiner Schwachheit steht, sie vor Gott bringt und von ihm neue Kraft schöpft. Diese Ermutigung will Gott durch seinen Geist gern geben. Der Geist Gottes macht lebendig. Jesus Christus ist von den Toten auferstanden und hat damit eine völlig neue Qualität von Leben ermöglicht. Die zarten Anfänge dürfen wir hier schon erleben - auch Sie in Ihrem Dienst – jeden Tag. So sind Sie ein Brief Christi.
Amen.

 

 

1 Gehalten am Sonntag Misericordias Domini (4. 5. 2003) während der Gesamtschwesterntagung der Schwesternschaft der Ev. Frauenhilfe im Bonhoefferhaus Stralsund.
2 Vgl. E. Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, Stuttgart 1974, S. 299-334. 3 Vgl. D. Bonhoeffer, Ethik, hg. v. E. Bethge, München 81975, S. 83ff.
4 Sie starb am 17.10.82 in Talita Kumi bei Bethlehem. Zu Sr. Bertha vgl. S. Hanselmann, Deutsche Evangelische Palästinamission. Handbuch ihrer Motive, Geschichte und Ergebnisse, Erlangen 1971, S. 144, und Evangelische Gemeinde Jerusalem, Gemeindebrief 11/12(1982)-1(1983), S. 24-29.

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