Predigt zu Jes 9 und Lk 2
24. Dezember 2011
Liebe Festgemeinde!
Es begab sich aber zu der Zeit… Als ich im letzten Jahr eben jene ersten Worte des Lukasevangeliums vorlas, stöhnte neben mir ein Junge auf und sagte laut: „Och Mann, die Geschichte kenn´ ich doch schon!“ „Tja“, hätte ich am liebsten scherzhaft geantwortet, „damit sollte man am Heiligabend rechnen…“. Gleichzeitig machte mich sein Ausruf nachdenklich. „Aber vielleicht hast du sie früher ganz anders gehört als heute?“ hätte ich ihn gern gefragt. „Heute, wo wir mit dem Licht aus Bethlehem hautnah spüren, dass die Welt wärmer werden muss und friedvoller. Und dass es junge Menschen wie dich dazu braucht, dass Friede werde auf Erden. Bedenke doch einmal“, hätte ich dem Jungen gern gesagt, „was sich im letzten Jahr alles verändert hat, bei dir persönlich und in der Welt!“ Und ich schaue uns alle an – und denke: in der Tat. Ständig gibt es neue, interessante Herausforderungen(, ich weiß wovon ich rede). Wir haben freudige und schreckliche Erschütterungen erlebt. Wir haben gesehen, wie die Welt brennt, in Fukushima, Irak, im Sudan und in der arabischen Welt. Und wir wissen, es braucht brennende Herzen, damit sich weiter etwas zum Guten verändert. Und so sitzen wir doch dieses Jahr anders hier als im Jahr zuvor: Auch persönlich verändert, mag sein durch eine neue Liebe, die nun an deiner Seite sitzt. Oder tieftraurig, weil man Abschied nehmen musste von einem Menschen, der einem Licht war auf dem Wege. So vieles bewegt uns, verändert uns, täglich, stündlich – doch sie, die alte Weihnachtsgeschichte, sie bleibt. Es begab sich aber zu der Zeit. Immer wieder. Über 2000 Jahre schon hält sie uns die Treue. Mit all ihren Verheißungen. Und all ihren Widersprüchen und Gegensätzen. So erzählt sie vom lachenden Kind, das eigentlich vor Kälte zittern müsste. Von dem Gloriagesang der Engel, der das Klagelied der Hirten übertönt. Von Gott, dem Allmächtigen, geboren nicht etwa in einem Palast, sondern in einem Stall. Die alten prophetischen Namen Wunderrat und Friedefürst – sie bekommen einen neuen Klang: Armenkind heißt der kleine Herr nun auch, Flüchtling heißt er und vom Tode Bedrohter. Die alte Geschichte ist eine, die etwas weiß von den Widersprüchen und Spannungen im Leben. Und das bedeutet: Wir, so modern wir sind, wir kommen in dieser Geschichte vor. Sie nimmt uns auf, mit allem was uns verändert hat und verändern wird. Denn sie kennt auch unser Leuchten und ebenso unsere Angst. Sie weiß von unserem Glanz ebenso wie von unserer Armut. Und sie schaut unsere Unruhe an und sagt: Fürchte dich nicht.
Denn es begibt sich auch zu unserer Zeit – da wird etwas Neues kommen, da wird ein Kind geboren, das dich rettet. Die Geburt einer Neuigkeit, die deine alte Welt aus den Angeln hebt. Das Wunder des kleinen Kindes, das uns hilft zu leben – es schreibt auch heute seine Geschichten.
Die Briefe von Peter Härtling an seinen Enkel gehören für mich dazu. Sie rühren mich in ihrer zärtlichen Innigkeit, wenn der Großvater schreibt: „Liebster Samuel, mein kleiner Herr. Bald kommst du zu Besuch. …Warum ich dich liebe? Das kann ich schwer für mich selber begründen. Mir fällt dazu ein pathetischer, beinahe biblischer Satz ein: Ich habe dich als meinen Anfang erkannt. Du wiederholst auf wunderbare Weise, was ich im Laufe vieler Jahre vergaß. Du findest und erfindest Wörter und mir gehen sie verloren. …Heute ging ich ums Haus spazieren, meine Beine schmerzten, und ich dachte an dich, wie du durchs Zimmer hüpfst und rufst. Hoppse, poppse, hoppse, poppse. Das flüsterte ich vor mich hin – hätte mich jemand humpeln sehen und mein Gemurmel gehört, der hätte mich für verrückt gehalten, Du bestimmt nicht.“
Ich habe dich als meinen Anfang erkannt, kleiner Herr. Schöner kann man die Weihnachtsbotschaft nicht auf den Punkt bringen. Es begibt sich zu dieser Zeit, da ist ein kleines Kind die Rettung, weil es das Leben mit seinem Strahlen so klar und sinnvoll macht und würdig. Und es findet nichts verrückt an dir. Denn um die Verrückung der Welt, darum geht es ihm ja. Nicht um kosmetische Veränderung, sondern um das ganz Andere, die umstürzende Aussicht, die dich mutig macht und hoffnungsfroh. Wir sollen verrückt vor Hoffnung sein, davon reden die alten Verheißungen. Und davon redet die Weihnachtsgeschichte. Denn so wie jedes Kind mit dem Kopf zuerst verkehrt herum ins Lebenshaus geboren wird und die Welt der Eltern gehörig auf den Kopf stellt, so verrückt das göttliche Kind die ganze Welt. Der Allmächtige selbst wird ein verletzliches Kind, so entblößt, in Windeln gewickelt, menschlicher geht´s doch kaum. Und das bedeutet: Da kommt der Ewige in unsere Zeit, da wird das unterste zuoberst gekehrt, da wird das Alte jung, das Kind zum Lehrer, das Verrückte positiv und das Friedensgebet zweifelsfrei.Deshalb sind die alten Verheißungen immer wieder neu zu hören. Denn sie sind in den Verkehrtheiten der Welt ein einziges: Fürchtet euch nicht! Denn siehe, fährt der Engel fort, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren!
Heute. Angesichts von Eurokrise und Finanzkrise und einer nach (der wenig erfolgreichen Weltklimakonferenz in) Durban noch bedrohlicheren Klimakrise beschäftigt mich: Wie kann dieses „Fürchtet euch nicht!“ in jetzigen Zeiten glaubwürdig werden? Wie verkommt dieses Engelwort nicht zu einem banalen Durchhalteslogan? Wie kann es vielmehr wahr werden und das Herz erreichen, wie innere Stürme stillen und aufgescheuchte Seele befrieden?
Indem es die Furcht anschaut. Siehe! Gott ist deshalb auf die Erde gekommen. Herunter gekommen, im wahrsten Sinne. Und das heißt doch, dass Gott nicht nur ein Gedanke ist, der unseren Alltag begleitet, bei den einen mehr, bei den anderen sicher weniger. Vielmehr ist die eigentliche Sensation des Weihnachtsfestes, dass Gott aufhört, nur ein Gedanke zu sein. Er wird mit dem altertümlichen Wort ausgedrückt „Fleisch“, Mensch. Er weiß, was es bedeutet, als Mensch zu fühlen, zu denken, zu begehren und angewiesen zu sein. Er weiß, was uns Furcht einflösst, denn er kennt unsere Tristesse, die Enttäuschung und den Liebeskummer; er weiß von dem leeren Bett neben dir und der Hungersnot, auch der inneren. Er weiß von deinem Zorn und deiner Angst vor der nächsten Lebenshürde. Die eigentliche Stärke Gottes ist, dass er unsretwegen schwach vor lauter Liebe wird. Aus einer Wurzel zart – zärtlich liebt sich Gott in diese Welt hinein. Und zwar auch in den ganzen Irrsinn der tobenden Welt, in die Ohnmacht der arabischen Friedensstifter, in die Verzweiflung der Hunger Leidenden, in die Hoffnungen der Flüchtlinge vor den europäischen Grenzen, in unsere Furcht nach einer Fukushima-Katastrophe, dahinein kommt Gott zu uns. Mit unbeirrbarer Liebe. Und verrückter Hoffnung.
Und so macht die Geschichte dieses verletzlichen Gotteskindes aufmerksam dafür, was nicht stimmt. Wo gelogen wird oder mit Worten geklaubt. Und es macht uns achtsam dafür, wie wir dennoch neue Anfänge finden können. Soll beispielsweise Terror und Piraterie uns nicht noch mehr in Furcht bringen – (fragen Sie einmal die Seeleute hier nebenan!) – müssten doch endlich auch für die Ärmsten der Armen Rettungspakete geschnürt werden. Und dies wären Rettungspakete, liebe Gemeinde, mit vergleichsweise bescheidenen Summen für Entwicklungshilfe, Bildung und Gesundheitsversorgung, in Ostafrika und vielen anderen Orten der Erde.
Es braucht manchmal ein Kind, es muss gar nicht unser eigenes sein, das uns die gute alte Wahrheit neu zu verstehen gibt. Das unverhofft in unser Lebensspiel eingreift und uns aufrüttelt. Liebesbedürftig, provozierend, manchmal mit ungeputzten Schuhen – hoppse poppse - und störend hartnäckig. Ein Kind, das wir als unseren Anfang erkennen, weil es wie der Engel sagt: Fürchte dich nicht.
Mag sein, sie war ihrem Engel besonders nah, doch Hanna, 3 Jahre, fürchtete sich nicht. Überhaupt nicht. Sie wollte bei dem Krippenspiel, das ich in meiner Vikariatsgemeinde in Waabs einübte, unbedingt die Maria spielen. Das schien mir ehrlich gestanden keine so gute Idee, war doch die Rolle mit Text versehen. Doch mit einer so entwaffnenden Hartnäckigkeit, wie nur Kinder sie aufbringen können, um die Ordnung der Großen zu durchbrechen, setzte sie sich schließlich durch. So kam es, dass es in diesem Jahr ein besonderes Schauspiel gab im Dorf: Die Kleinste von allen, noch selbst fast in den Windeln, führte die Gruppe mit vielen großen Engeln und noch längeren Hirten und einem relativ gesehen betagten 12-jährigen Josef an. Und als sie da einzog in den Gottesdienst am Heiligen Abend, angetan mit einem großen Tuch mit roten Rosen, das hinter ihr herschleifte, das riesige Jesuskind innig an der Schulter, als sie so einzog, wurde es auf einmal ganz still in der Kirche. Die Würde der Kleinen. Würde, die man nicht erklären muss, die einen wortlos gefangen nimmt in ihrer Feierlichkeit. Aus diesem kleinen Menschen strahlte eine einzige Furchtlosigkeit: Fürchte dich nicht, sagte sie, ohne es zu sagen, weil Jesus dich in Armen hält!
Fürchtet euch nicht. In den Unfrieden kommt er nun mit seiner Stille. In unsere Verstörtheiten mit seiner Zärtlichkeit. In unsere Fragen mit seinem Ja! Es begibt sich auch zu unserer Zeit. Wir haben allen Grund, guter Hoffnung zu sein. Ich wünsche Ihnen von Herzen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in ihm, Christus Jesus, Gottes Sohn. Amen