4. September 2012 - Vortrag im Übersee-Club Hamburg

„Soviel du brauchst“ (2. Mose 16, 18) - Eine Herausforderung für unsere Zeit

04. September 2012 von Kirsten Fehrs

Sehr geehrter Herr Präsident,

Sehr geehrte Festversammlung,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

herzlichen Dank für die freundliche Einführung, lieber Herr Behrendt und für die Einladung in den hochberühmten Überseeclub, just im 90. Jahr seines Bestehens. Angesichts der höchst eindrucksvollen Ahnenreihe von Vortragenden seit 1922  fühle ich mich geehrt, zu Ihnen sprechen zu dürfen und freue mich auf die Begegnung mit Ihnen.

Ich danke Ihnen nicht zuletzt deshalb, weil Sie mit der Einladung einer evangelischen Bischöfin unterstreichen, dass die Religion ein wichtiges Thema repräsentiert – neben Wirtschaft, Politik und Kultur ist es eben gerade die Religion, die für den Einzelnen wie für die Gesellschaft ein unverzichtbares Lebenselement darstellt. Steht sie doch dafür, dass grundlegende Werte in Beziehung zu den aktuellen Herausforderungen der Zeit nicht nur zur Sprache gebracht, sondern auch gelebt werden. Diesem Anliegen fühlt sich von jeher auch der Kirchentag verpflichtet, und voilà, bin ich bei meinem Vortragsthema heute Abend, das in Entfaltung des Mottos vom Kirchentages 2013 heißt: Soviel du brauchst – Eine Herausforderung für unsere Zeit.

1. Soviel du brauchst - Einführendes zur Losung des Deutschen Evangelischen Kirchentags 2013 in Hamburg

Am 1.-5 Mai 2013 steht in Hamburg zum dritten Mal nach 1981 und 1995 der Kirchentag ins Haus. Genauer: nicht nur ins Haus, sondern in die Stadt, in die Hallen, Kirchen, auf die Plätze. Er wird die U-Bahnen wieder mit Gesang plus furchtbar guter Laune am frühen Morgen füllen, wird Tausende Menschen, sehr viele junge Menschen!, vor den Hallen Schlange stehen lassen, um Bibelarbeiten, Podien, Opern und Gottesdienste zu erleben, er wird ethische, interreligiöse, inklusive und ganz bestimmt auch kontroverse Debatten führen und nicht zuletzt auch den einen oder anderen politischen Impuls setzen.

Evangelischer Kirchentag ist Protestantismus von unten. Und das spiegelt sich auch in seiner Grundidee: Immer verbindet der Kirchentag die Wahrnehmung der Wirklichkeit mit der Suche nach Lebens-Sinn. Glauben auf dem Boden der Tatsachen. Sorgfältig, kritisch, scharfsinnig, mitunter gar prophetisch wird hingeschaut, hingehört, diskutiert, protestiert, und es wird Fürbitte gehalten. Und dies immer mit dem Blick, selbst als Christin oder Christ Verantwortung für die Polis zu übernehmen und zugleich für eine lebensnahe, vielseitige – ja tatsächlich überzeugt plurale! –  Kirche, die alles andere als beliebig ist. Vielmehr ist sie eine Kirche, deren „Kerngeschäft“ Gerechtigkeit heißt. 150.000 Menschen erwarten wir. Sie brauchen Obdach. In Schulen und Gruppenquartieren. Und da ab einem gewissen Alter die Isomatte nicht mehr schmerzfrei zu überstehen ist, bitten wir herzlich um Gastfreundschaft auch in Gestalt von Privatquartieren. Vielleicht ja bei Ihnen? Das wäre wunderbar…Denn wir brauchen sie/ Sie.

 

„Soviel Du brauchst“ – die Losung für das Glaubensfest entstammt einer biblischen Geschichte im Hebräischen Testament. In ihr geht es um das rechte Maß. Es wird erzählt, wie den Kindern Israels auf ihrer Wanderung quer durch die Wüste langsam aber sicher die Geduld ausgeht. Sie wollen ins gelobte Land, das Land, das Gott ihnen verheißen hat. Doch die Wüste will und will kein Ende nehmen. Der Hunger übermannt sie, und die Hoffnung wird schmal. Die knurrenden Mägen verursachen ein ebensolches Gemüt. Und so fängt sich an, ihre Erinnerung zu trüben: die Befreiung vom äpyptischen Pharao wird Mose angelastet und aus den kargen Sklavenrationen werden die sprichwörtlichen „Fleischtöpfe Ägyptens“, die man bedauert verlassen zu haben. Und so greinen und murren sie. Nicht zum Aushalten für Mose. Und für Gott. Er lässt Wachteln vom Himmel fallen und eine Art Morgentau, der sich als wunderbare Nahrung enthüllt. Davon sollen sie sich nehmen soviel sie brauchen, sagt Gott zu ihnen, und so war es fortan jeden Morgen.

Soviel du brauchst. Doch den Israeliten geht ihnen wie den meisten – das, was der Mensch wirklich braucht, weiß er gar nicht so genau. Geschweige denn, was der oder die Andere wirklich braucht. Und so nehmen die einen viel, die anderen wenig. Folge: das, was zu viel ist, verdirbt. Den Charakter übrigens auch. Quintessenz: Das, was du wirklich brauchst, gibt Gott überreichlich und täglich neu – im biblischen Text steht dafür die Metapher: Himmelsbrot. Himmelsbrot steht für das Materielle wie das Immaterielle. Für Brot und Himmel, Geld und Segen, Wasser und Liebe - alles Lebens-Mittel, die nicht haltbar, nicht zu halten sind. Festhalten verdirbt. Bringt aus der Balance. Körperlich, seelisch, sozial, global.

Soviel du brauchst – der Charme der Losung liegt für mich darin, dass sie eine produktive Unvollständigkeit hat. Denn es ist zu vermuten, dass die meisten Menschen diese biblische Geschichte nicht kennen. Deshalb fragt man. Und kommt auf die relevanten Fragen in Hamburg und in der Gesellschaft überhaupt. Dabei ist die soziale Spannung zwischen Arm und Reich sicher eines der nahe liegenden. Gerade in Hamburg herrscht eine große Diskrepanz zwischen großem Wohlstand auf der einen und bitterer Armut auf der anderen Seite. Auch wenn beispielsweise die Kinderarmut leicht zurückgegangen ist, bleibt der Wert doch skandalös hoch. 2010 befand sich laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung jedes vierte Kind unter drei Jahren (24 Prozent) in armen Verhältnissen. Und 2012 lebte von den Kindern unter 15 Jahren ebenfalls fast jedes vierte (22,8 Prozent) in Armut.

Soviel du brauchst – diese Losung soll nun gerade nicht in moralischen Appellen münden. Sondern sie will zuvorderst, dass wir genauer hinschauen. Uns ein differenziertes Bild machen. Es geht  darum „für wahr zu nehmen“, was sich hinter diesen Zahlen verbirgt. Welche Menschen, welche Schicksale, welche Auswirkungen, kurz: wie es tatsächlich aussieht, das Gesicht der Armut.

Und so gewinnt die Losung nach und nach Tiefgang. Sie fragt nämlich auch: Was macht die einen reich, die anderen arm – und zwar nicht nur materiell? Und dies mit der Zielrichtung: Wie gerechter teilhaben an Bildung, Kultur, Gesundheit - Wohnen? Und das, mit Verlaub, ist doch eine gemeinsame Aufgabe, insbesondere in Hamburg, für die Wirtschaft, Politik und Kirchen. Es muss uns gemeinsam gelingen, dass möglichst wenig auf der Strecke bleiben. Dass eigentlich jeder und jede in unserer Stadt mit dem Gefühl am Morgen aufsteht, bis zum Lebensabend gebraucht und gewollt zu sein.

Das ist eine Herausforderung. Und wir sitzen dabei in einem Boot. Ein Boot, das nicht nur Hamburg, sondern Erde heißt. Und das bedeutet für mich ganz eindeutig, dass die Kirche nicht nur die Rolle der Wächterin übernimmt. Jene Rolle also, die sicherlich gebraucht wird, wenn die Würde mit Nagelstiefeln getreten und Zäune errichtet werden, wenn ethisch fragwürdig argumentiert und etwa aus Sterbebegleitung Sterbehilfe wird. Hier einzuschreiten ist wesentlich und, letztlich erwarten Sie dies von der Kirche, respektive von mir auch.

Doch wir sind darüber hinaus als Kirche doch auch Partnerin. Im Gespräch mit dem Du, das etwas von uns braucht. Als Mitgestalterin in der Gesellschaft. Als Gesprächspartnerin von Wirtschaft, Politik, Kultur. Und ich möchte an dieser Stelle betonen, wie engagiert ich aus diesen Bereichen Menschen erlebe, nicht zuletzt aus dem Motiv der Nächstenliebe heraus, gerade zum Kirchentag aus dem Bereich der Kultur und Wirtschaft. Es gibt viele, sicher auch unter uns, die das Gute, was sie erlebt haben, zurück geben wollen. Und das ist  viel mehr als „Sponsoring“ .Es ist die Haltung, etwas Sinnhaftes tun zu wollen, indem das Wachstum von anderen gelingt. Es ist die Haltung, sozial eingebunden zu leben. Nicht: Reich, aber einsam. Sondern vermögend in jeder Hinsicht.

Soviel Du brauchst eben.– Auch der sorgsame Umgang mit Ressourcen, Klimaentwicklung gehört dazu – gern in Verbindung mit Stadtentwicklung. Das passt gerade in Hamburg zu zwei anderen großen Ereignissen im nächsten Jahr, präsentiert unsere Stadt doch just 2013 die Bauausstellung wie auch die Internationale Gartenschau mit einem Garten der Religionen. Bei über hundert christlichen Denominationen hier wird es um den interkonfessionellen, viel mehr aber noch um den interreligiösen Dialog gehen – unter der Fragestellung: Was brauchen wir auf dem Weg zu mehr Toleranz und Weitherzigkeit?

Eine Fragestellung, die auch das Thema Ost und West betrifft. Es ist das Besondere dieses Kirchentages, dass sich nicht allein Hamburg, sondern auch die gerade zu Pfingsten gegründete „Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland“ als Gastgeberin präsentiert. Sie beschäftigt sich zentral mit der unterschiedlichen Geschichte und zugleich gemeinsamen Vision von Ost und West. Und so mag hier in Hamburg das weiter wirken, was in Dresden 2011 begann: Eine Aufbruchsstimmung des Religiösen, die die Neugierde auch bei kirchenferneren Menschen geweckt hat. Darauf bereitet sich der Kirchentag nun vor, und wir freuen uns viel anzubieten – soviel du brauchst.

Ich habe nun, meine sehr geehrten Damen und Herren, in einem ersten Kapitel die Themen kurz anklingen lassen, die auf dem Kirchentag eine Rolle spielen werden – gewissermaßen wie in einer Ouvertüre. Wertekanon, die Spaltungen in unserer Gesellschaft, Armut und Reichtum- auch in religiöser Hinsicht,  Bildungsgerechtigkeit. Im Folgenden möchte ich diese Themen in 3 Kapiteln unter den unterschiedlichsten Aspekten durchdeklinieren. Denn sie gehören m. E. zu den größten Herausforderungen unserer Zeit.

2. Wie viel Religion braucht die Gesellschaft?

Religion – vorzugsweise in Gestalt der Kirchen – hat man in den letzten Jahren vor allem als die Instanz gefordert, die für die Vermittlung und den Erhalt menschlicher und gesellschaftlicher Werte zuständig sei. Basieren doch die abrahamitischen Religionen (Judentum, Islam, Christentum) auf dem generell anerkannten und ältesten Wertekanon: den 10 Geboten. Unantastbar sind hier das Leben, die Liebe, die Achtung, die Würde, das zur Ruhe kommen – auch und gerade am Sonntag. Unantastbar ist das Eigentum, besonders das des anderen, versteht sich.

Interessant an der lang geführten Wertdebatte der letzten Jahre finde ich nun, dass sie eigentümlich diffus, ja fleischlos geblieben ist. Das mag daran liegen, dass der Wertebegriff kein klassisch christlicher, sondern letztlich ein ökonomischer Begriff ist. Werte verstanden als Handelsgegenstände, die man herstellt und eintauscht, sind etwas Schwankendes. Also gerade nicht prinzipiell oder grundlegend ethisch. Anders wird es, wenn man nach dem Eigentlichen fragt. Wenn Menschen darüber ins Gespräch kommen, was sie wirklich brauchen, um zu leben. Was ihnen persönlich wert ist. Oder, um es in religiöser Sprache zu formulieren, was ihnen heilig ist. Dann wird es lebendig. Was ist uns heilig, so wertvoll, dass wir es schützen würden um jeden Preis?

Diese Frage ist für unser Thema zielführend. Denn erst mit der Rückbindung an das Eigentliche – der Re-ligio – erreicht man den tieferen Ernst, mit dem der Mensch sich einsetzt für das Leben und die Würde im Alltag. Werte, das ist meine These, sind etwas höchst Persönliches. Sie bestehen eben nicht allein aus einem normativen Wertekanon, der von außen an einen herangetragen wird. Werte und damit verbunden wirkliche Lebensqualität hängen vor allem davon ab, dass jeder Mensch hier sich selbst ein Herz fasst und sich entscheidet. Sich einsetzt. Weil etwas oder jemand unbedingte Priorität hat. Und also: Was ist Ihnen, was ist uns heilig?

Ich vermute: Ihnen kommt zunächst und spontan die Familie in den Sinn, das gerade geborene (Enkel)Kind, die Partnerschaft, die Sinnhaftigkeit im Beruf, Vertrauen, Freundschaft. Ganz wichtig auch die Dankbarkeit. Und dann mögen Sie auf den Mittagsschlaf oder die erste Tasse Kaffee am Morgen gekommen sein und zugleich gedacht haben: „Nein, also das ist mir wichtig, aber heilig? Ist das nicht zu profan?“ Mitnichten – denn es sind alles Dinge und Ereignisse, die die Kraft haben, selig zu machen. Ruhe zu geben. Und sei es nur für einen Moment. Glücksmomente eben, die man nicht bestellen, die man nur empfangen kann.

Davon zu reden, was uns heilig ist, halte ich für eine lebenswichtige Übung für eine humane Gesellschaft. Und deshalb brauchen wir Religion. So viel wie möglich. Denn durch sie stellen wir eine Verbindung her zu unserem Innersten und damit zurück zu dem, was oft nur verschüttet da ist: dem Vertrauen, dass es gut ausgeht. Dem Vertrauen also, dass es eine Macht gibt, außerhalb von mir selbst, die mich schützt - auch vor meinem eigenen Misstrauen. Eine Macht, in deren Wirksamkeit ich eingebunden bin. Auch hier wieder die Rück-bindung,  re-ligio: nämlich zu Gott hin, der Glück schenkt, das nicht von dieser Welt ist. Der es mit aushält, dass es gerade in den kritischen Situationen unseres Lebens keine leichten Lösungen gibt.

Szenenwechsel:

Was mir heilig ist?“, philosophiert mein Tischnachbar muslimischen Glaubens. „Heilig ist die Liebe“. Liebe ist von Gott und also viel größer, als der Mensch denken kann. Deshalb liebt der Mensch, wenn er wirklich liebt, immer über sich selbst hinaus. Und so ereignet sich Allah in der Mitmenschlichkeit.“ Viele solcher wunderbaren Gedanken fliegen an diesem Mittag über den Tisch. An ihm sitzen Frauen und Männer muslimischen, syrisch-orthodoxen, alevitischen, katholischen, gar keines Glaubens. Geschäftsleute meistenteils, Imame darunter, viele aus der Türkei – und eine Evangelische, ich. Eingeladen vom Hamburger Senat waren wir auf den Weg geschickt, europäische Politik in direkter Anschauung kennen zu lernen. Heraus kam eine Weggemeinschaft, die viel mehr teilte als eine Strecke: wir erzählten von uns. Davon, was wir glauben. Was wir nicht glauben. Was uns trägt und was uns verzweifeln lässt. Was uns wert, heilig ist.

Und mir wird bewusst, wie selten solch (inter)religiöse Gespräche gelingen. Denn unglücklicherweise fehlen nicht nur uns Christen zunächst die Worte. Wir wissen gar nicht mehr, was wir sagen können. Das hat zum einen mit dem Traditionsabbruch zu tun – dazu komme ich gleich noch. Doch ich glaube, es geht noch darüber hinaus. Letztlich spüren wir in unserem Innersten, dass das Heilige mehr ist als die Formulierung von Werten; es ist etwas Unfassbares, Unverfügbares, Vollkommenes, dem man sich rational wie sprachlich nur unvollkommen nähern kann. Dennoch: Seit diesem Mittagslunch in Berlin habe ich Menschen begonnen zu fragen, was ihnen heilig ist. Und ich bin beeindruckt, was sie mir nach anfänglichem Zögern erzählen. Ich höre, dass wir wieder Mitgefühl einüben, mit Schuld offen umgehen sollten. Ich höre, dass Nächstenliebe das wichtigste ist und dass wir etwas tun sollten gegen Armut und Bildungsnot. Ich höre von der Suche nach Gemeinschaft und Wahrhaftigkeit. Ich höre die bange Frage danach, wie es denn ist beim und nach dem Sterben. Und ich höre ganz oft, gerade von manch erfolgreichem Manager und Geschäftsmann die pragmatische Ansage: Was brauchen Sie? Welche Arbeit in Ihrer Kirche kann ich unterstützen?

Ich als Christin höre in all dem die Sprache des Evangeliums – und damit die Wertschätzung des Lebens schlechthin. Und ich höre Jesus, der die Menschen erreicht hat - nicht mit heiligen Zeremonien, sondern mit der Sprache des Herzens, die berührt., weil sie versteht Deshalb braucht die Gesellschaft heute Religion: Dass wir berührbar bleiben für das wirklich Wertvolle. Dass wir die Sprache des Herzens wieder üben. Eine Sprache, die uns deuten kann, was wir erleben, mitunter erleben müssen, und allzu oft nicht verstehen. Eine Spräche auch, die markiert, was nicht mit der christlichen Botschaft vereinbar ist. Diese allerorten zu beobachtende Abwertung von Werten etwa – ihrer ist zu wehren. Jene abschätzige Rede vom „Gutmenschen“ zum Beispiel, die meint: Einer, der`s gut meint und schlecht macht, sich aber trotzdem grandios fühlt. Weil er so naiv ist. Fromm, aber weltfremd. Dem Bösen, der Realität nicht gewachsen. Ehrlich, aber dumm. Barmherzig, aber doof.

Mich amüsiert das nicht. Wir müssen uns ernsthaft  damit auseinander setzen, dass in unserer Gesellschaft der Gedanke von einem Weltethos Gegner hat. Dass z.B. christliche oder genauer: dass religiöse Inhalte immer skeptischer angesehen, ja aggressiv attackiert werden. In Internetforen, die vor Intoleranz nur so beben. Und die nehmen zu statt ab. Mit samt einer hohen – zumindest verbalen – Gewaltbereitschaft, die jegliche Grundlagen unserer Demokratie entwertet. Demgegenüber müssen alle miteinander sich ein Herz und in Sprache fassen, dass sie und wie teuer sie uns ist, die Demokratie. Alle sind herausgefordert in dieser Zeit, laut zu sagen, was wir glauben - dann wird klar, wie wert-voll unser Christsein ist in dieser Zeit. Denn das christliche Bild des Menschen lehrt uns die Akzeptanz des Menschlichen. Dass vieles gut und sehr gut ist, wir aber eben nicht vollkommen sind. Im Gegenteil. Deshalb Kapitel 3:

3. Was der Mensch wirklich braucht, weil es heilsam ist

Er hat die kleinen Anzeichen konsequent gering geachtet, sagt er. Und irgendwann war die Kraft zu Ende. Als Ralf Rangnick vom Fußball-Bundesligisten Schalke 04 aufgrund eines Erschöpfungssyndroms zurücktritt, wird dies mit Respekt und Mitgefühl begleitet. Es sei eine persönliche Tragik, hieß es. Ich horche auf. Denn nur persönlich ist die Tragik nicht. Vielmehr gehört er zu denen, die die Kehrseite unserer Leistungsgesellschaft erleben, deren Volkskrankheit Nr. 1 Depression heißt.

Es wäre ein erster heilsamer Schritt, sich laut dafür zu interessieren, was denn in diesen Leistungssystemen etwa des Sportes, der Medien, der Politik krank macht. Ein Schritt, an dem alle hier beteiligt wären. ….

Doch das Problem reicht meiner Überzeugung nach tiefer: Ich beobachte, dass die meisten Menschen auch nicht mehr in Sprache fassen können, was sie gesund macht – theologisch: was sie heil sein lässt. Sie haben buchstäblich keine Worte – und damit auch keine Vorstellung -  für das, was ihnen Lebenslust ist und Qualität von Leben. Etwas, das sie verheißungsvoll erwarten wie ein Kind, das geboren wird. Vielen fehlt, so meine These, der Kontakt zu einer Vision, die einem Kraft gibt und Inspiration. Etwas, das über einen selbst hinaus weist und einem Halt gibt, weil es gerade nicht aus einem selbst heraus kommt. Unsere Gesellschaft leidet zunehmend unter dem Verlust dieser Dimension. Es fehlen Momente und Orte der Be-Sinnung und des Erkennens, an denen man nach Sinn fragt und Liebe, danach, wie man mit Scheitern umgeht und der inneren Grenze, mit Schuld und Verletzung – all dies kommt kaum irgendwo unter. Wir sind damit metaphysisch obdachlos. Und wenn einen dann irgendwann der bekannte Ruck durchfährt mit der Frage: Das soll alles gewesen sein?, dann werden etliche sich einer eigentümlichen  Leere bewusst. So lässt diese metaphysische Obdachlosigkeit  einen stumm werden, wenn´s um unsere Wurzeln geht und unser Ziel.

Ich bin sicher, dass die immer breitere Bewegung des Pilgerns hier ihre Ursache hat. Denn diese religiöse Unterbrechung des Alltags, verbunden mit absolutem Bequemlichkeitsverzicht, bringt die Frage zum Klingen: Was brauche ich letztlich wirklich? Und die Antwort ist nicht: Ein Vier-Sterne-Hotel. Sondern Sinngebung. Lebensdeutung. Ruhe, um zu sich zu kommen. Deshalb gehen sie: um anzukommen. Vorzugsweise bei sich selbst. Oft genug bei Gott. Wenn es Sie interessiert, wie das geht: Schauen Sie auf den Stand mit Büchern, den Herr Lohse, der Pilgerpastor von St. Jacobi, dort aufgebaut hat.

Religionswissenschaftler bestätigen dieses Phänomen, dass der moderne Mensch nach Sinn, nach einer zielgewissen Lebensorientierung sucht, die das Ganze der Wirklichkeit in sich aufnimmt. Dies aber stößt sich an der gesellschaftlichen Realität der Moderne, die aus zig unverbundenen Teilsystemen besteht. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur folgen jeweils ihrer eigenen Logik  und funktionieren für und in sich. Ein umfassendes Sinnsystem jedoch, oder gar eine ganzheitliche religiöse Sinndeutung, wird immer weniger erkennbar und damit immer weniger plausibel. Was bleibt, ist die Frage. Die Sprachlosigkeit. Die Leere. Der Flachbildschirm.

Unsere jüdisch christliche Tradition nun hat eine weise Methode, gegen zu halten. Sie sagt gewissermaßen: wer Visionen hat, ist gesund. Deshalb erinnert unsere Religion an sie. Noch und noch. Sie erinnert an die alten Verheißungen und die Sprache Gottes und gibt der Gegenwart eine Deutung auf.

Doch wie viele sind darin nicht mehr zu Hause!  Die metaphysische Obdachlosigkeit richtet in der westlichen Welt, im postmodernen Menschen viel an: Sie entledigt ihn seiner Religion. Immer weniger Menschen wissen etwas von ihr. Das Haus der Tradition beheimatet nicht mehr oder ist allenfalls eine zugige Baustelle. Es redet eben kaum noch jemand von dem, was er glaubt und was Halt gibt. Es wird geredet von Glück, das man selbst schmiedet, nicht von Gnade. Davon, dass ich an dich denke, anstatt dass ich für dich bete. So ist mancherorts Gott selbst verloren gegangen. Tatsächlich nicht nur unbekannt verzogen, sondern auch noch unbemerkt. Ohne Glauben, ohne Gott, Gebote, vertraute Gebete, ohne religiöses Kulturwissen ist der moderne Mensch fast alles los geworden, nur nicht seine Verlorenheit.

4. Bildung, so viel wie möglich!

Deshalb Bildung, meine sehr geehrten Damen und Herren. So viel wie möglich, Es ist nicht nur eines der zentralen Anliegen evangelischer Kirche. Es ist die Sache aller Religionen und aller Konfessionen in dieser Stadt, gemeinsam gegen diese Gottvergessenheit oder anders formuliert: Areligiösität anzugehen. Den Menschen von klein auf religiös wieder Obdach zu geben, ist deshalb so dringlich, weil sonst Grundüberzeugungen wie Nächstenliebe und Toleranz in unserer Gesellschaft verloren gehen. Es braucht dringend Räume für den ehrlichenDiskurs in einer Gesellschaft, die angesichts der Kulturen- und Religionsvielfalt um Identität ringt. Zur Identität einer Gesellschaft gehört es, dass sie ein Verhältnis zu ihrer Religion, zu den vorhandenen Religionen gewinnt, dass sie sich mit ihnen befasst. Demgegenüber erlebe ich unsere Gesellschaft als eine, in der viele Kulturen und Religionen und Konfessionen faktisch nebeneinander leben, aber viel zu wenig voneinander wissen, um friedlich zu bleiben. Die affektgeladene Stimmung, sobald es insbesondere um den Islam geht, ist ein alarmierendes Zeichen, das mich bestärkt in meiner These. Es muss dringend etwas getan werden, dass wir wieder mehr verstehen von uns selbst, der Friedensliebe unserer eigenen Religion, damit wir der Friedensliebe der anderen Religionen mehr zutrauen.

Dass die Friedensliebe zu den zentralen Anliegen und Sehnsüchten gehört, die die drei monotheistischen Religionen verbinden, darauf hat kein geringerer als Helmut Schmidt hingewiesen, in seinem jüngsten Buch, das interessanter Weise dem Religionsthema gewidmet ist („Religion in der Verantwortung“, Berlin 2011, S. 149). Und er fährt fort: „Fundamentalismen, insbesondere religiöse Fundamentalismen sind keineswegs kennzeichnend für eine ganze Kultur oder ein ganze Religion. Auch wenn wir in Israel oder Algerien oder unter den Mördern Sadats und Rabins einige religiös oder, besser gesagt, pseudoreligiös inspirierte Terroristen sehen, so dürfen wir uns doch niemals zu der Annahme hinreißen lassen, Fundamentalismus und Terrorismus seien kennzeichnend für das Wesen der anderen Religion, über die wir fast nichts wissen […]“ (S. 152)

Damit wir lernen, was man wissen könnte, ist der interreligiöse Dialog so eminent wichtig – gerade auch in unserer Stadt. Ein aktuelles Beispiel ist der jetzt abgeschlossen Staatsvertrag mit den muslimischen und alevitischen Gemeinschaften. Er stellt einen wichtigen Fortschritt dar, ist Anerkennung einer Situation, wie wir sie längst haben. Zugleich fordert er uns alle miteinander heraus. Es braucht alltagstaugliche Interkulturalität. Und Interreligiösität. Zum Beispiel in Punkto Religionsunterricht. Hier lässt sich auf das Hamburger Modell aufbauen, das sich schon seit vielen Jahren bewährt hat, den so genannten „gemeinsamen Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung“. Das dabei Entscheidende ist, dass in einer Stadt wie Hamburg, in deren Schulen es teilweise mehr muslimische Kinder gibt als christliche, überhaupt  Religionsunterricht erteilt wird. Denn nur mit dem Modell des gemeinsamen Unterrichts können die Klassenverbände bestehen bleiben. D. h. wir wollen gerade nicht einen Islamunterricht, wie er jetzt in Nordrhein-Westfalen Einzug hält, und bei dem zu befürchten steht, dass er eher isolierende als integrierende Wirkung haben könnte. Sondern im Gegenteil: Wir befürworten deshalb den gemeinsamen Unterricht, weil er dazu herausfordert, dass man gerade im Dialog, gerade  im Unterschied zu den anderen Religionen seine eigene präziser kennen lernt. Dass beispielsweise für uns Christen Jesus nicht nur ein hoch geachteter Prophet, sondern dass er Gott selbst ist – dieser Unterschied macht doch viel klarer, wie die eigene Identität zu beschreiben ist. Vor diesem Hintergrund gilt es, gemeinsam nach Gott zu fragen, nach Glaube und Sinn, nach Anfang und Ende des Lebens. Und so ist dieses spezielle Hamburger Modell in seiner interreligiösen Offenheit nicht Verlust sondern Ausdruck des evangelischen Profils – und entspricht evangelischem Bekenntnis. Denn es geht darum, dass  Menschen aller Couleur eine Lerngemeinschaft bilden, die fähig ist zum Dialog. Freundschaft schließen. Mit Ideen. Mit dem Fremden. Miteinander zu leben. So wie es die abschließende Episode erzählt:

Freunde von mir haben vor einigen Jahren in Simbabwe gearbeitet. Ihr kleiner Sohn, damals 4 Jahre alt, hatte es anfangs schwer, sich einzugewöhnen: Im Kindergarten schaute er verblüfft auf die vielen weißen wie schwarzen Kinder, die immer etwas sagten, was er nicht verstand. Und umgekehrt schauten die anderen ihn erstaunt bis feindselig an, wenn er sich verständlich zu machen versuchte. Nichts wünschte er sich sehnsüchtiger als einen Freund. Eines Mittags kommt er aufgeregt nach Hause und erzählt seinen Eltern, dass er nun endlich einen Freund gefunden habe. Ob er denn genauso alt sei und was die Eltern machten, erkundigten sich unsere Freunde einfühlsam. So nach und nach – schließlich ist man progressiv und frei von Vorurteilen – fragten sie dann auch, ob sein Freund denn weiß sei oder schwarz? „Woher soll ich denn das wissen?“, fragt ihr Sohn empört zurück. „Er ist doch mein Freund!“

Davon mehr, soviel du brauchst.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Datum
04.09.2012
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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