30. April 2015 | Katholische Pfarrkirche Maria Rosenkranzköniging Demmin

Wenn die Not keinen Ort hat

30. April 2015 von Hans-Jürgen Abromeit

Ökumenische Andacht anlässlich des 70. Jahrestages im Gedenken an die Masseselbstmorde in Demmin Andacht zu Psalm 22

Unvorstellbares Leid

Unvorstellbares Leid steht uns vor Augen. Menschen, die sich aneinander binden, damit im Wasser der Lebenswille nicht doch siegt. Der Vater, der zuerst seine Kinder, dann seine Frau und schließlich sich selbst umbringt. Die Mutter, die ihre beiden Töchter unter Wasser drückt, bis sie nicht mehr atmen und dann, weil sie ja schwimmen kann, sich selbst das Leben nicht nehmen kann. Und, und, und – Geschichten, die man eigentlich nicht hören kann und will.

Warum geschah dies unvorstellbare Leid hier in Demmin? Warum nehmen sich und ihren nahen Angehörigen so viele Menschen in einer Stadt innerhalb weniger Tage das Leben? Hunderte, wohl über Tausend in Demmin, Tausende in ganz Deutschland, davon sehr viele hier in Pommern und Mecklenburg? Warum?

Die Zustände am Ende des II. Weltkrieges waren katastrophal. Flüchtende und Einwohner Demmins saßen nach Sprengung der Brücken in einer Falle. Heute haben wir von den Motiven zur Selbsttötung gehört, die sich in den schriftlichen Zeugnissen finden. Wir haben versucht, psychologisch zu verstehen, was in den Menschen damals vorgegangen ist und wie ein solches Kollektivbedürfnis nach Auslöschung entstehen kann. Ja, die Angst vor den Russen war sehr groß. Und sie war real. Vieles hatten die Menschen gehört und dann auch selbst erlebt. Frauen wurden vergewaltigt, bis sie gestorben sind. Viele meinten, dann sich doch besser selber das Leben nehmen zu sollen, damit sie das nicht mehr erleben müssten. Und selbstverständlich wurden diese Ängste geschürt durch die von vielen doch weitgehend internalisierte nationalsozialistische Propaganda, die von einem regelrechten Russenhass beherrscht war. Florian Huber hat auch darauf aufmerksam gemacht, dass sicher bei vielen der Tod als Ausweg gesucht wurde, weil die gesamte bisher hoch gehaltene Lebenslüge zusammenbrach. Sie wussten – oder ahnten zumindest – was im deutschen Namen anderen angetan worden war, wobei sie eventuell mitgemacht hatten, oder wenigstens mitgelaufen waren. Aber dafür wollten sie nicht die Verantwortung übernehmen.

Dietrich Bonhoeffer, Pastor und Dozent, hat in den Jahren 1935 – 1940 hier in Pommern gewirkt. Später wird er sich dem Widerstand gegen Hitler anschließen. Er wird gefasst und kurz vor Kriegsende auf Befehl Adolf Hitlers hingerichtet. Um die Jahreswende 1940/ 1941 schreibt er in seiner Ethik zum Thema Selbstmord: „Der Selbstmord ist die letzte und äußerste Selbstrechtfertigung des Menschen als Mensch …. Er ist der Versuch des Menschen, einem menschlich sinnlos gewordenen Leben einen letzten menschlichen Sinn zu verleihen.“ (D. Bonhoeffer, Ethik, hg. v. E. Bethge, München 1975.) Wer sich das Leben nimmt, geht der Verantwortung für sein Leben aus dem Weg. Und obwohl die christliche Kirche zwei Jahrtausende lang gepredigt hat, dass Selbstmord für einen Christenmenschen kein Ausweg ist, bringen sich 1945 Menschen zu Tausenden um. Hier in Demmin haben wir die realen Spuren davon bei wohl über Tausend Fällen vor Augen.

Die Menschen haben sich in dieser äußersten Situation einsam gefühlt, völlig verlassen und auf sich gestellt - wie der Beter aus Psalm 22. Auch er stellt die Warum-Frage. Solche Psalmen haben wohl als Formulare im Tempel ausgelegen und jeder, der dorthin kam, um sein Herz vor Gott auszuschütten und dem die Worte fehlten, konnte sich in diese vorformulierten Worte flüchten. Denjenigen, die nicht lesen konnten, wurden sie vorgelesen. Schauen wir in die Bilder dieses Psalms, dann entdecken wir in ihnen alles Elend dieser Welt. Es sind sehr drastische, sprechende Bilder. Derjenige, der hier sein Leid klagt, fühlt sich, als sei er von Dämonen umgeben, die wie „gewaltige Stiere“ und „mächtige Büffel“ (V. 13) ihn umgeben. Er hat Angst, wie sie ein „brüllender und reißender Löwe“ (V.14) oder „Rotten von Hunden“ (V. 17) hervorruft. Es ist eine höchst existentielle Not, die aus diesen Worten spricht: „Ich bin ausgeschüttet, wie Wasser, alle meine Knochen haben sich gelöst.“ „V. 15). Die Zunge klebt am Gaumen (V. 16) und das Gefühl ist vorherrschend, im „Todesstaub“ (V. 16) zu liegen. Es ist eine äußerste, extreme Not, die sich hier ausspricht und die die Ratlosen und alleingelassenen Menschen in Demmin geteilt haben. Auch die Demminer, die 1945 so völlig verzweifelt waren, werden geklagt haben. Haben einige auch Gott geklagt?

Warum? Erwartet die immer wieder aufbrechende Frage nach dem Warum wirklich eine Antwort? Natürlich kann und muss man über die Motive nachdenken, die diese Menschen in den Tod getrieben haben. Diese Motive sind gewiss unterschiedlich und gesteigert durch eine Massensuggestion. Ganz am Ende sind viele sehr still geworden und haben mit dem Entschluss zur Selbsttötung diese Ruhe zu einer ewigen Ruhe machen wollen. Darum ist es gut, wenn man nach dem Warum noch fragen kann.

Der Psalmbeter weiß sich auch keinen Rat und wendet sich in seiner Not an Gott: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (V. 2) Es ist gut, wenn man Ende noch eine Adresse hat, an die man sich wenden kann. Für den Psalmbeter ist diese Adresse Gott. Auch Jesus am Kreuz hat diesen Psalm gebetet. Wir haben als Kernstück seiner Botschaft die Seligpreisungen gehört. Als die Menschen ihn mit seiner Lehre der Gewaltlosigkeit, der Vergebung und der Barmherzigkeit, des Friedens und der Versöhnung nicht mehr in dieser Welt haben wollten, haben sie ihn aus dieser Welt herausgedrängt und ans Kreuz geschlagen. Menschlich gesprochen hatte der Tod Jesu keinen Sinn. Diejenigen, für die er sich eingesetzt hat, zu denen er mit seiner Botschaft der Liebe gesprochen hat, die haben ihn getötet. Und so betet er im größten Leid diesen Psalm. Gott ist das Gegenüber, das ihm in seiner Not noch eine Stimme lässt. Auch wenn er sich selber kaum noch als Mensch empfindet: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch“ (V. 7).

Bei Gott ist unser Leid an die richtige Stelle gebracht. Er kennt es, er hat es ja in der Tiefe selbst durchlitten. Vergessen wir nicht, am Kreuz Jesu blicken wir in das Geheimnis des christlichen Glaubens. Gott selber ist in Jesus Christus auf dem Plan. Er hat sich mit seiner wunderbaren Botschaft des Lebens an die Menschen gewandt, die ihn und sein Wort nicht wollten. So hat er diese äußerste Tiefe der Gottverlassenheit selbst durchlitten.  

Viele in Demmin sind, bevor sie den letzten Schritt getan haben, verstummt. Viel schlimmer noch als das Schreien ist das Verstummen. Dann hat die Not keinen Ort mehr und kommt zu den Menschen, die sie erleiden, wieder zurück. Gesteigerte Not, unvorstellbares Elend.

Und was haben die Weiterlebenden mit der Schuld gemacht, die sich in manchen Situationen der unsagbaren Not mithinein gemischt hat? Wie ist die Mutter, die die Tötung ihrer Kinder dem Standesbeamten selbst gemeldet hat, mit ihrer Schuld und ihren Schuldgefühlen geblieben? Wohin überhaupt mit der Schuld? Schuld muss ausgesprochen und bekannt werden. Dann kann sie vergeben werden. Es macht aber etwas mit einem Land, wenn Leid und Schuld kaum thematisiert werden.

Das Leid der Demminer ist bis jetzt in Deutschland so gut wie nicht bekannt. Es muss bekannt werden, damit die alten Wunden heilen können. Die Opfer dürfen nicht verschwiegen werden. Wenige haben davon berichtet. Der aus Demmin stammende Norbert Buske hat die wenigen Zeitzeugen, die etwas berichtet haben, gehört und ihre Berichte gesammelt. Heinz Gerhard Quadt hat diese Geschichten in der Stadtchronik festgehalten. Durch das Buch von Florian Huber kommt das Schicksal der Demminer endlich in eine größere Öffentlichkeit.

Es scheint eine Zeit zu sein, in der sich langsam die Zunge löst. Es ist wichtig, wahrzunehmen, wie großes Elend hier in Demmin geschah. Wir müssen den Menschen ihren Namen und ihre Geschichte zurückgeben. Das Schweigen muss ein Ende haben. Darum ist es gut, wenn das Denkmal auf dem Friedhof viel besucht wird und die Menschen auch hier in Demmin diese Geschichte erzählen. Sie erinnert an die zerstörerische Gewalt des Größenwahns und der Gottlosigkeit, die das nationalsozialistische Regime hervorgebracht hat. Am Ende richtete sich diese Gewalt gegen das eigene Volk und richtete es zu Grunde.

Ein Gegenbild gegen die Gewalt ist das Gottvertrauen, das sich am Schluss dann auch im 22. Psalm ausspricht. „Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden; und die nach dem Herrn fragen, werden ihn preisen; euer Herz soll ewiglich leben.“ (V. 27) In diesem Gottvertrauen hat auch Jesus sein Leben zu Ende gebracht. Nach seinem Kreuz kam die Auferstehung. Bei Gott siegt das Leben.

Das Leid ist bei Gott gut aufgehoben. Am Ende steht Gott. Er ist die letzte Instanz. An ihm kommt keiner vorbei. Er kennt sowieso jeden und jede. Darum dürfen wir ihm auch unsere Angst, Not und erfahrene Ausweglosigkeit nennen. Gott kann auch einem gescheiterten Leben wieder Sinn und Recht geben (Nach Bonhoeffer, vgl. a.a.O. 183.). Das ist unsere Hoffnung. Gott ist unsere Zuflucht. Amen.

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