Interview mit Lars Müller, Flüchtlingsbeauftragter im Kirchenkreis Mecklenburg

"Wir wollen erreichen, dass wir Artikel 1 unseres Grundgesetzes ernst nehmen"

Lars Müller, Flüchtlingsbeaftragter im Kirchenkreis Mecklenburg, möchte mit der Infobustour erreichen, dass die Menschenwürde aller Zufluchtsuchenden gewahrt wird.
Lars Müller, Flüchtlingsbeaftragter im Kirchenkreis Mecklenburg, möchte mit der Infobustour erreichen, dass die Menschenwürde aller Zufluchtsuchenden gewahrt wird. © Zentrum Kirchlicher Dienste (ZKD)

24. August 2022 von Julia Krause

Am 25. August starten die Flüchtlingsbeauftragten der Nordkirche unter dem Motto "Menschenrechte auf der Flucht" eine Infotour, um auf die Lage von Geflüchteten aufmerksam zu machen. Geplant war sie schon vor dem Krieg in der Ukraine. Doch mit der Krise in Europa bekommt sie eine neue Dynamik. Lars Müller, Flüchtlingsbeauftragte im Kirchenkreis Mecklenburg, spricht im Interview über die Ungleichbehandlung von Zufluchtsuchenden.

In diesem August jähren sich die Anschläge auf die damalige Asylbewerberunterkunft in Rostock-Lichtenhagen zum 30. Mal. Die Flüchtlingsbeauftragten der Nordkirche nehmen dies zum Anlass, eine Infotour durch alle drei Sprengel der Landeskirche zu unternehmen. Startpunkt ist das Rostocker Rathaus, von dort geht es weiter durch Mecklenburg, Pommern, Hamburg und Schleswig-Holstein. 

Lars Müller ist Flüchtlingsbeauftragter im Kirchenkreis Mecklenburg mit Sitz in Rostock. Er hat wie all seine Kolleginnen und Kollegen viel zu tun in diesen Zeiten – auch unabhängig von den Gedenktagen. 

nordkirche.de: In den 90er Jahren haben wir eine Welle der Gewalt gegen Geflüchtete erlebt. Mit welchen Problemen kämpfen Menschen heute, die in Deutschland Zuflucht suchen, Herr Müller? 

Lars Müller: Das ist sehr unterschiedlich. Rassismus wird zwar erfreulicherweise nicht mehr so offen gezeigt, aber natürlich gibt es viele Vorurteile und Alltagsrassismen gegen Menschen, die hier Zuflucht suchen. Hinzu kommt, dass aufgrund der Entwicklungen in den frühen 90er Jahre im sogenannten „Asylkompromiss“ viele Verschlechterungen im Asylsystem gesetzlich verankert wurden. Neben dem Zwang in Gemeinschaftsunterkünften zu leben, bekommen Schutzsuchende weniger Leistungen. In diesem Jahr haben wir erlebt, dass dies auch anders umsetzbar wäre, wenn man die Möglichkeiten sieht, die Geflüchteten aus der Ukraine zur Verfügung stehen. Das wirft ein großes Ungleichgewicht auf.

Wir als kirchliche Flüchtlingsbeauftragte und unsere Partner in der Zivilgesellschaft haben das Ziel, dass das, was ukrainische Flüchtlinge jetzt in Anspruch nehmen können, für alle Geflüchteten gelten sollte. Ganz wichtig ist für uns ein menschenwürdiger Umgang mit allen Menschen, die in Deutschland Schutz suchen.

Sie sprechen das Ungleichgewicht an – wie ist denn die Rechtslage momentan? 

Die genaue Rechtssituation können Juristen viel besser erklären. In der Realität wird deutlich, dass bei den Menschen aus der Ukraine die Massenzustromrichtlinie der EU in Deutschland zur Anwendung kommt. Sie können hier beispielsweise eine eigene Wohnung bekommen, sofort eine Arbeit aufnehmen und haben bessere Integrationsmöglichkeiten, etwa durch den Zugang zu Deutsch- und Integrationskursen. 

Andere Geflüchtete unterliegen anderen rechtlichen Rahmenbedingungen: Ihnen wird nicht gestattet, sofort eine Arbeit aufzunehmen, sie bekommen weniger staatliche Leistungen – und sind verpflichtet, in Gemeinschaftsunterkünften zu leben. Und, was zusätzlich problematisch ist, sie haben keinen direkten Zugang zu Deutsch- und Integrationskursen. Das wollen wir als Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche ansprechen und anregen, dass für alle Geflüchteten die gleichen Bedingungen gelten sollten. Wir sehen diese Unterscheidung kritisch und wollen alle gleichbehandelt sehen. 

Zur Person 

Lars Müller ist 1975 in Rostock geboren. Der Sozialpädagoge war zehn Jahre hauptamtlich in Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete tätig. Daneben arbeitete er 15 Jahre lang ehrenamtlich mit Jugendlichen verschiedener Herkunft im wöchentlichen Sportreff. 

Seit Mitte 2019 ist Lars Müller Flüchtlingsbeauftragter des Kirchenkreises Mecklenburg und arbeitet in der Ökumenischen Arbeitsstelle im Zentrum Kirchlicher Dienste in Rostock. 

 

Der Krieg ist in den Medien sehr präsent. Alle Welt blickt jetzt auf die Ukraine. Hat das auch etwas in uns verändert –  Stichwort Willkommenskultur? 

Ich erlebe eine große Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft und in den Gemeinden. Aus der Erfahrung heraus ist dies am Anfang einer Situation oder eines Konflikts immer groß – und je länger sich so ein Krieg andauert, desto stärker verdrängen andere Themen diese Herausforderung aus der öffentlichen Wahrnehmung. Man kann aber feststellen, dass sich seit der Situation 2015/2016 auch viel in unserer Gesellschaft verändert und verbessert hat. Seitdem gibt es viel mehr Angebote, Anlaufstellen und Netzwerke für Geflüchtete. Auch bei uns in der Nordkirche, den Kirchenkreisen und in den Gemeinden sind Strukturen entstanden, die in der jetzigen Situation sehr hilfreich sind und konkrete Unterstützung anbieten können.Im Übrigen hatten viele Menschen bis dahin das Thema nicht auf der Agenda, obwohl auch vorher Geflüchtete in Deutschland und Europa Asyl suchten.

Zum Beispiel ist der Kirchenkreis Mecklenburg stark ländlich geprägt und die Kirchengemeinden stehen vor erheblichen Herausforderungen, beispielweise erstrecken sich Kirchengemeinden nicht selten über 20 Orte und es ist wirklich schwierig, geeignetes Personal zu finden. Vor diesen Hintergrund haben viele Gemeinden andere Herausforderungen als eine gemeindliche Arbeit mit Geflüchteten anzustreben. Aber diese Gemeinden haben in der Regel Räumlichkeiten und genau diese haben viele Gemeinden Geflüchteten aus der Ukraine in dieser Ausnahmesituation zur Verfügung gestellt. Diese Nächstenliebe und Bereitschaft zu Unterstützung unter schwierigen Umständen hat mich außerordentlich positiv gestimmt und ich bin sehr stolz auf dieses wichtige Zeichen der Mitmenschlichkeit der Gemeinden in unserem Kirchenkreis.

Wenn Sie die Lage in Rostock vor 30 Jahren und jetzt betrachten – was hat sich noch getan? 

Rostock hat auf vielen Ebenen umgedacht. Entgegen dem Trend in den Ländern und im Bund versucht die Stadt, geflüchtete Menschen stadtnah unterzubringen und vor Ort zu integrieren. Dieser Trend zur Ausgrenzung von Schutzsuchenden ist eine direkte Folge aus den Pogromen von Rostock- Lichtenhagen. Diese Ausschreitungen dienen bis heute als Rechtfertigung, warum Geflüchtete vor allem in Randgebieten und außerhalb von Gemeinden untergebracht werden. Die Kirche und viele Partner in der Zivilgesellschaft kämpfen dafür, dass hier ein Paradigmenwechsel erfolgen muss. Nur so ist eine Partizipation von Geflüchteten in unserer Gesellschaft möglich und nur so kann Integration überhaupt gelingen. Auch dieser Missstand hat etwas mit Menschenwürde und Menschenrechten zu tun und muss angesprochen werden.

Auf der anderen Seite werden in Rostock seit über 25 Jahren asylsuchende Menschen von einem gemeinnützigen Verein betreut. Ökohaus Rostock e.V. kam mit viel Erfahrungen in diese Verantwortung und ist bis heute ein wichtiger Netzwerkpartner in der Arbeit mit Geflüchteten im gesamten Bundesland. 2016 wurde der Verein beispielsweise von der Bundesregierung für das Engagement ausgezeichnet. Mit dieser Entscheidung hat die Hansestadt Rostock 1997 Neuland betreten und sich gegen einen Trend entschieden. Einem nicht gewinnorientierten Verein Verantwortung zu übergeben, war und ist ein sehr mutiges Zeichen in Zeiten, in denen die Betreuung von Geflüchteten als Geschäftsmodell keine Seltenheit ist.

Bei der jetzigen Infotour steuern Sie sowohl Kirchengemeinden als auch andere öffentliche Plätze an. Was genau ist die Zielsetzung dahinter? 

Wir wollen natürlich Kirche und Öffentlichkeit für das Thema Menschenrechte sensibilisieren und damit auch den Druck auf die Politik und Verwaltung erhöhen. Denn die Situation in Europa und an den Grenzen Europas ist keineswegs so wie sie sein sollte. Wir wollen erreichen, dass alle Menschen menschenwürdig behandelt werden, dass wir Artikel 1 unseres Grundgesetzes ernst nehmen. Dazu gehört etwa, dass die Leistungen und Möglichkeiten, die ukrainische Flüchtlinge hier zu Recht in Anspruch nehmen können, zukünftig für alle Geflüchteten gelten sollten. 

Darüber hinaus geht es auch darum, in den Kirchengemeinden bei allen Haupt- und Ehrenamtlichen Danke zu sagen, die sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzen und die aktuelle Jahreslosung unserer Kirche wörtlich nehmen. Wir wollen die Menschen vor Ort kennenlernen und uns austauschen, auch wenn dies leider nicht überall möglich sein wird. 

Und was wäre Ihr Wunschfazit? 

Viele gute Gespräche zu diesen Inhalten mit aufgeschlossenen Menschen im Kirchenkreis in der Nordkirche. Letztlich viele Menschen erreichen und mit diesem Schwung Veränderungen in unserer Gesellschaft anzustreben, damit zukünftig egal ist, ob ich hier als Schutzsuchender lebe oder ich hier geboren wurde. 

Die Gedenktage zu 30 Jahre Rostock-Lichtenhagen sind ein guter Anlass, die Menschenrechte noch einmal ins Bewusstsein zu rufen. Viele Veranstaltungen rund um den Jahresstag drehen sich um das berechtigte Erinnern und die Aufarbeitung dieser Ereignisse. Die kirchlichen Flüchtlingsbeauftragten der Nordkirche und der Kirchenkreise möchten vor allem den Bogen in das Hier und Jetzt schlagen und auf die Menschenrechtssituation in und vor allem an den Grenzen von Europa aufmerksam machen und mit den Menschen dazu ins Gespräch kommen. 

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