1. September 2012 - Festgottesdienst zum 175jährigen Kapellenjubiläum mit Weihung der Prinzipalstücke
01. September 2012
Predigt zu Luk 10, 25-37 (Der Barmherzige Samariter)
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei in uns lebendig!
Liebe Festgemeinde!
Es gibt eine große Liebe zu dieser kleinen Kapelle, schon immer. Das war von Anfang an mein Eindruck in all den vorangegangenen Briefwechseln und Vorbereitungen für heute. Da ist eine Sorgfalt in dieser Gemeinde und im Dorf, dass es ihr gut gehen möge, der Marie, und so haben sich immer viele Gedanken um sie gemacht. Sicherlich nicht immer in die gleiche Richtung, aber gut, das gehört ja dazu, wenn man sich herzlich kümmert. Wenn man mit fiebert, was aus diesem neuen – nun so großartigen!- Glasfenster wird und aus dem restaurierte Osterleuchter. Wie Altar und Taufe aussehen und die Kanzel, auf der ich jetzt stehe. Und so haben wir nun heute ein Gesamtkunstwerk vor uns, in dem zart und genau das Elementare aufeinander abgestimmt harmoniert. Kurz: Ich fände es sehr verständlich, wenn Sie dies heute sehr dankbar betrachten würden und auch ein wenig stolz auf sich sind. Gut so. Und so gratuliere ich nicht allein zum 175-ten Jubeljahr der Marienkapelle, sondern auch zu dem neu gestalteten Innenraum, der Ihnen so stimmig gelungen ist. Dies ist verbunden mit einem ganz herzlichen Dank auch von Bischof Ulrich und der Evangelisch lutherischen Kirche in Norddeutschland: Wir danken Ihnen für Ihre Liebe zu dieser Marienkapelle, angefangen von dem Kapellenvorstand und Kirchengemeinderat bis hin zum Architekten Werner Grage samt Kirchenkreis, danken all denen in der Gemeinde samt Bürgermeister Püst, die sich auch finanziell engagiert haben. Und es ist mir ebenso eine große Freude, den Künstlern selbst, lieber Dr. Lenssen und lieber Jacques Gassmann, zu begegnen. Sozusagen live und in Farbe.
Es gibt eine große Liebe zu diesem Ort, und vor allem sie hält’s zusammen. Liebe ist das Thema des Tages. Sie eint neue Glasfenster und das Evangelium des Erbarmens, sie eint Altarkreuz und Täuflingssegen, sie ist die Sprache, die von Kanzeln wie dieser die Herzen zum Besten erschüttern möcht. Sie ist das Thema des Tages: Liebe, die selig macht und Arbeit, Liebe, die uns mit ihrer Wucht überfällt, die uns um den Verstand bringen kann und manchmal auch sollte, Liebe, die den Unterschied nicht fürchtet, Liebe aber auch, die wir zutiefst vermissen oder anderen nicht geben können.
Liebe ist ein Wunder, wenn man sie erlebt, aber – wir alle wissen es - sie hat auch Brechungen. Welches Material für die Kunst der Liebe wäre also passender gewesen als Glas, lieber Jaques Gassmann? Glas, durch das hindurch scheint, was wir eher als Geheimnis ahnen, selten aber verstehen? Und ich schaue hin, auf diese Glaskunst: Die Sonne der Liebe kennt auch ihre Schatten, das strahlende, ins vitale Rot spielt auch gedämpfter Grauton. Wir sind nicht immer das leuchtende Beispiel. Leider. Wir hören nicht immer genau. Sind nicht immer da. Helfen nicht jedem auf. Halten einander nicht immer fest und haben Mühe, Nähe zuzulassen. Allzumal die zum Nächsten, der verwundet ist an Leib und Seele.
Uns so führt uns dieses Glasbild mitten hinein in die Dramaturgie des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter. Denn dort geht es ja auch in allen Farbschattierungen so überaus menschlich zu. Zunächst bei ihm, der unter die Räuber gefallen ist. So verwundet fühlt er sich und hilfsbedürftig und beschämt zugleich. Fallen, das kann jedem passieren. Mag sein, unter die Räuber. Oder unter die Skrupellosen. Oder über die Teppichkante. Wer fällt, ist auf einmal unten, ausgeliefert. Und so kann im Unglück vieles fallen: Würde, Sicherheit, Masken, ja auch Anstand. Dies zu sehen, ja sich dem auszusetzen, mutet uns Jesus in seinem Gleichnis zu. Denn die Liebe, an die er von Kind an glaubt, die Liebe von ganzer Seele, ganzer Kraft und ganzem Denken, ist der ganzen Wirklichkeit zugewandt – auch dem Verletzten, dem, was uns aufstört und was wir eben nicht immer gut aushalten.
Und sie sahen ihn, und gingen vorbei. Tatsächlich, auch sie: der Priester und der Levit. Von Jerusalem nach Jericho, wohlgemerkt nach ihrem Tempel- und Gottesdienst ziehen sie die Straße entlang – und gehen vorbei! Schnell, schnell weiter, ich habe es eilig, nicht jetzt, viel zu tun, dafür gibt es ja andere, die können das besser: Notarzt, Feuerwehr, Bahnhofsmission, wer auch immer…Rational gedacht eben, aber irgendwie auch vorbei.
Nein, der Nächste, bitte! Jesus beharrt darauf, dass die Wahrheit unseres Glaubens nicht im Rationalen liegt. Sie liegt in der Liebe, in einem so heftigen Gefühl, dass es einem den Atem nimmt. Den Samariter überfällt dieses Gefühl. Ausgerechnet er, der von der jüdischen Gesellschaft Ausgestoßene, sieht hin, hört hin und „ es jammerte ihn“, bis in die Eingeweide fühlt er es. Und so kann er gar nicht anders als von seinem Esel zu steigen, sich zu dem Verletzten hinab zu beugen, ihn zu halten, so wie wir es auf dem Glasfenster sehen. So fremd sind sie sich und trotzdem so nah.
Es ist eine intensive Begegnung. Eine, die vor allem zwei Bewegungen umfasst. Das eine ist die Liebe, raumgreifend und impulsiv. Rot. Pochend. Sie erfasst den Nächsten, die, die einen im Dorf und in der Familie brauchen. Sie erfasst dann die Ferneren und den Feind auch. Und die andere Bewegung, liebe Gemeinde, die unbedingt zur Liebe gehört, ist das Absteigen vom Esel. Das Runterkommen. Das Absteigen steht für den Verzicht auf die eigene Bedeutung, die eigene Meinung, den eigenen Erfolg. Das Absteigen ist Statusverzicht. Gott selbst ist das Muster für diese Art zu leben. Und ich schaue auf das Altarkreuz und sehe: Gott als der heftig Liebende steigt ab in die Niederungen menschlichen Lebens. In aller Konsequenz. Und so ist es keine Moral, die uns sagt, was gut ist. Sondern ein Glaube. Eine Gottesvorstellung. Absteigen und Herabbeugen vor lauter Liebe – die Tradition nennt es humilitas. Niedrig sein. Wir haben auf der Erde, Humus, zu bleiben, sozusagen auf dem Teppich. Nur indem wir dort unten bleiben, mit Verstand und Gefühl und unserem Gott, verstehen wir, was andere bewegt und was zu tun ist.
Was für ein Bild. Was für ein Evangelium heute. Voller Kraft. Denn es rechnet damit, dass wir es immer wieder schaffen: Vom Esel des sozialen Ranges herunter zu steigen, vom Esel der eigenen Ansprüche und Überlegenheit. Du kannst doch sonst mit keinem solidarisch sein, wenn du oben bleibst. Du wirst keinen verstehen, den du nicht wenigstens ein bisschen magst. Mehr noch: Willst du wirklich jemanden aufrichten, der gefallen ist, musst du dich hinknien und dich unter den Verletzten begeben. Nur von ganz unten vermagst du ihn aufzuheben. Wer einmal einen Menschen gepflegt hat, weiß, dass es einem das Ganze abverlangt, konzentrierte Kraft und Liebe von ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Gemüt, die ganz viel hält und aushält.
Es geht ums Ganze, ums Ganze menschlichen Lebens. Auch hier in diesem neu glänzenden Altarraum, in dem sich seit jeher Menschen anvertraut haben im Gebet. Es geht um den Jammer, die Verlegenheit, die Scham, das Nicht-hinsehen-können. Vor allem aber lebt hier die Liebe, die einen wehrlos macht und glücklich. Und so lässt Jesu Gleichnis uns gerade nicht aus der Pflicht heraus fragen, was muss ich tun? Sondern vielmehr haben wir die Freiheit zu fragen: Was will Gott in mir an Kräften frei setzen, dass mein Tun Ausdruck seiner Liebe und Güte wird? Was ist das besondere Wort, das Gott in mir spricht, was die Musik, die in mir klingt? Was tue ich mit all meinen Kräften meiner Seele und meines Körpers, auch mit meinen Träumen, meinem Hoffen, meinem Humor, meiner Lebensfreude? Wem werde ich damit zu einer, zu einem Nächsten?
Und ich schaue das Gesamtkunstwerk des Altarraums und denke: ja in dieses Halbrund der Nächstenliebe nimmt sie uns hinein. Wir sind nicht vollkommen, und oft ist das, was wir tun, eben nur „halb rund“, aber Gott nimmt uns hinein in die Liebe, die keine Grenze kennt. So sind wir getauft und geliebt und gesegnet vom Morgen bis zum Lebensabend. Mögen es doch noch recht viele Menschen hier erleben. So wie in den letzten 175 Jahren. Auf dass ihr Herz froh werde und leicht. Und dass sie sie üben, die Nächstenliebe – getrost -, denn Christus ist doch mitten unter uns.
Vielleicht so – ich komme zu meiner Schlussgeschichte. Als Vikarin war ich in einem Dorf, ähnlich wie Schretstaken. Ich hatte eine kluge Konfirmandengruppe. Heute würde man sie als „inklusiv“ bezeichnen: Florian war schwer lern-, ja fast geistig behindert, und die anderen kannten ihn seit Kindertagen – so wie das eben ist auf dem Dorf. Irgendwann war auch die Geschichte vom Barmherzigen Samariter dran. Was liegt näher als sie hochdidaktisch aufzubereiten und mit einem Rollenspiel verständlich zu machen? Gedacht, getan. Benno lässt sich gekonnt berauben und fällt stöhnend zu Boden. Sylvia als Priester geht ebenfalls perfekt rollenkonform vorüber, nicht ohne sich zu empören, dass jetzt die Besoffenen schon auf der Strasse lägen … Bühne frei nun für Florian, den Leviten. Der zögert kurz, geht entgegen aller Regieanweisungen auf seinen Freund Benno zu, kniet sich auf den Boden und streichelt seinen Kopf. Selbst als Benno sagt: „Mensch Flo, du sollst das anders spielen, geh´ jetzt mal an mir vorüber“, verharrt Florian bei ihm und streichelt ihn, immer wieder, konstant über den Kopf. Denn es jammerte ihn wirklich.
Mich hat selten eine Szene so berührt. Die Konfirmanden, glaube ich, auch. Für sie buchstabierte sich Nächstenliebe auf einmal in direkter Anschauung. Und zwar so: Nächstenliebe wie
Nahe sein
Armut bekämpfen
Erde retten
Clown spielen (auch: „Chinesen helfen“ lag hoch im Kurs)
(In den) Himmel gucken
Suchen
Tanzen
Eine Ausrede finden (wenn man `mal nicht helfen kann oder mag)
Not taufen
Liebe zeigen
Igel retten
Engel werden
Beten
Ewiges Glück bekommen.
Und Jesus sprach: So geh hin und tu desgleichen.
Gott sei mit euch in allem Tun, liebe Festgemeinde in der Marienkapelle. Geht gesegnet und: geht geliebt! Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.