10. Januar 2013 - Gottesdienst anlässlich der Eröffnung der Arbeitsstelle Ethik mit Einführung von Prof. Ruth Albrecht
10. Januar 2013
Predigt zu Psalm 8,5
Liebe Festgemeinde!
„Was ist der Mensch, Gott, dass du seiner gedenkst?“ Diese Grundfrage aller Existenz aus dem Psalm 8 erklingt stets im liturgischen Gefüge des Neujahrstages. Ich finde das sehr passgenau. Denn was liegt näher, nach dem Woher und Wohin zu fragen, wenn man eine Schwelle überschreitet? Wenn man Altes zurücklässt und einen neuen Raum betritt? Allzumal wenn es ein innerer Raum ist, ein Raum, den beispielsweise eine Arbeitsstelle Ethik anbietet, liebe Frau Professor Albrecht. Raum zu Gespräch und Nachdenklichkeit, zum Grenzen ausloten und auf dem Grat wandern, Raum für Empathie und theologische Auseinandersetzung.
Was ist der Mensch, Gott, dass du seiner gedenkst. Und angesichts dieser neuen Arbeitsstelle weiter gefragt: Was ist der Mensch, dass wir seiner gedenken, wie Gott es will?
Was ist er oder sie, dass wir ihn und sie liebkosen und behutsam pflegen, loslassen und auffangen, ihn gehen lassen und aufrichten, ihn fragen, woher er kommt und wohin er kommen will? Die Frage des Psalmbeters führt dazu, das scheinbar Selbstverständliche neu zu befragen. Menschen und ihre Lebensthemen, ihre Grenzsituationen und ihre Unterschiedlichkeit wahr zu nehmen und in all dem die Verschiedenheit lebendig zu finden.
Also noch einmal ganz neu drauf geschaut: Was ist der Mensch? - Ein Kind, ich weiß nicht, woher, hat dazu einen Text verfasst. Denn darum geht es ja in einer Ethik-Arbeitsstelle auch: Texte verfassen und möglichst präzise beschreiben, was (der Mensch) ist. Angesichts des grandiosen Humors möchte es Ihnen nicht vorenthalten, an diesen Einsichten kindlicher Weisheit teilzuhaben…
„Der Mensch. Der Mensch zerfällt in zwei Teile. Der Kopf geht vom Hut bis zum Hals, dann kommt das Oberteil. Das geht vom Hals bis zum Nabel. Der Nabel ist ein kleines Loch im Bauch, wo man den Dreck so schlecht rauskriegen kann. Dann kommt das Unterteil. Das geht vom Nabel bis zur Erde. …Inwendig ist der Mensch hohl, damit Luft ‘rein kann und Essen und Trinken. ... Man hat dicke und dünne Menschen. Auch krumme und welche mit Schweißfüßen. Der Mensch ist über die ganze Erde zersplittert, auch in Amerika. … Es gibt gute und schlechte Menschen. Viele schlechte Menschen nennt man ein Menschengeschlecht. … Der Mensch hat vier Backen, zwei davon halten sich im Gesicht auf. … Die Hauptsache am Menschen ist der Kopf. Darum hat er ihn auch nötig. … Der Teil wo die Augen schwenkbar gelagert sind nennt man Gesicht. … Wenn der Mensch groß ist nimmt er sich eine Frau die er liebt. Er muss dann irgendwo hin, das nennt man Standesamt. Dort bekommt er einen Schein, damit kann man Kinder wie mich kriegen. Und dann ist der Mensch glücklich!“ (Quelle unbekannt)
Dann ist der Mensch glücklich… - Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet, sekundiert der 8. Psalm. Und ich höre darin eine erste Antwort zur Frage. Was ist der Mensch?
Wir sind Kinder. Kinder Gottes. Immer wieder wird es in der Bibel betont. Vom ersten bis zum letzten Kapitel – Kind Gottes. Was für ein Bild! Vom Mutterleib an geschaffen mit unzähligen Gaben sind wir belebt vom Atem, vom Geist Gottes und deshalb sind wir heilig. Unantastbar. Jede und jeder. Es ist der erste Artikel nicht nur des Grundgesetzes. Die Geschöpfe Gottes sind in ihrer Würde unantastbar. Nicht zur Zerstörung freigegeben. Die Liebe zum Leben ist das Erste und das Letzte, beim Geborenwerden wie beim Sterben, sie ist A und O unseres Seins. Wir sind auf der Welt, dieser Liebe zum Leben zu verhelfen. Gibt es im Leben einen tieferen Sinn?
Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst – und so heißt es weiter: und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast uns nicht viel niedriger gemacht als dich selbst, mein Gott. Und also haben wir per se Größe. Weil wir Menschenkinder Kinder Gottes sind, sind wir frei von knechtendem Geist. Wir sind befreit davon, erniedrigend, entwürdigend und abwertend zu sein, anderen oder auch mir selbst gegenüber. So unser Menschenbild. Und mehr noch: das glaube ich. Durch Jesus Christus.
Von ihm gibt es die Geschichte, wie er den Jüngern, die sich darum streiten, wer der Größte unter ihnen sei, ein kleines Kind vor Augen stellt. Am Kind gilt es, sich auszurichten, um ins Reich Gottes zu gelangen. Nur der hat Größe, sagt Jesus, der auch nicht eines dieser Kleinen gering achtet. Ich liebe meinen Glauben, weil er so revolutionär und in so klaren Bildern die Welt auf die Füße stellt: die gering Geschätzten zuerst. Die Kleinen nach vorn. Für sie, die an den Hecken und Zäunen verkümmern, für sie ist der Tisch des Herrn gedeckt. Für die Flüchtenden, Hungernden, die an Armut leidenden, für sie, die vor sich selbst flüchten, die nach Liebe hungern, die verarmt sind an Barmherzigkeit – sie brauchen uns, sie brauchen die Kraft derer, denen Gott Gutes getan hat. Damit das Gute getan wird.
Getragen wird diese Ethik durch Christus selbst. Sein Name ist eben nicht nur Friedefürst und Wunderrat, sondern auch Flüchtling, Armenkind, vom Tode Bedrohter. Und das heißt: Kein Leid der Welt ist bedeutungslos, seit Gott Mensch geworden ist. Sei es das von den Kleinen oder den Größen der Welt. Nicht ob eine traurig ist, ist bedeutungslos. Nicht ob einer nur noch sterben will, weil er nicht mehr zu leben weiß. Nicht ob Krieg ist oder Frieden. Nichts ist bedeutungslos, und sei es noch so achtlos beiseite geschoben. Deshalb steht in der Mitte unseres Glaubens das Kind Gottes. Und damit auch das Kind in uns. Nicht im Sinne des Kindischen oder rührselig Hilflosen. Sondern in dem Sinne, sich selbstvergessen hingeben zu können, über die Schönheit der Schöpfung zu staunen, Spielräume zu suchen, spontan, quer denkend, gewitzt und neugierig zu sein. All das müssen wir mitunter wieder lernen. Auch das Klagen, wenn der Schmerz doch so groß ist. Es ist erlaubt, „Warum?“ zu fragen, immer wieder. Wie Kinder es ja auch tun. Bis man an die Grenze des Erklärbaren kommt.
Warum will er sterben, warum will sie es nicht? Was könnte uns helfen, zu verstehen? Was heißt Leben, Sterben, Lieben – wie Gott es will? Warum so quälend manch Tod, dazu diese Feindseligkeit des alternden Körpers. Warum bleibt Gott stumm? Das Kind krank? Die Frage im Raum? Die Ethik geht mit. Mit jedem Warum, jeder Frage bis an die Zimmerwand des inneren Raums. Und zugleich bis ins Unendliche des großen Himmels, der sein Zelt über unsere Ratlosigkeiten spannt. Kirche, insbesondere nun mit einer Arbeitsstelle Ethik öffnet sich und den Menschen generell für all das Tabuisierte und Verdrängte, für das Warum, ja für die Frage an sich, für den nicht zu verleugnenden Schmerz, die Wut auch, für Schuld und die Liebe zum Leben. Es braucht einen Raum der Abwägung zwischen medizinischer Möglichkeit und individueller Gewissensnot, Sie hier alle wissen das nur zu gut. Es braucht diesen Raum – für die theologische Beschreibung und darin vor allem für die Präzision. Fürs genaue Wort. Das sensible Gespräch. Für Lösungen. Keine Lösungen. Für das Aushalten von Spannung. Und das von paradoxer Wirklichkeit.
Das bleibt für mich elementar: das christliche Bild des Menschen lehrt uns die Akzeptanz des Menschlichen. Dass wir begrenzt, also unzureichend, fehlerhaft, schuldig und böse, gekränkt und kränkend sein können, eben nicht vollkommen sind. Im Gegenteil. So fragmentarisch ist Leben. So voller Dilemmata. Dilemmata, die ja naturgemäß keine leichte Lösung ohne Schwere in sich bergen, sondern stets die Spannung des Abzuwägenden. Wer wüsste das besser als die Ethiker. Und diese Spannung kann der Mensch mal besser, mal schlechter aushalten.
Deshalb schafft der Mensch sich Gott zu seinem Bilde.
Nicht aus Hybris, ich bin sicher. Sondern weil er sich sehnt. Es gibt in uns ein tiefes, manchmal Herz zerreißendes Sehnen nach Licht und Klarheit, Trost und Segen. Danach, mehr von Gott zu verstehen. Teilzuhaben an seiner Vollkommenheit. Deshalb holen wir Gott manchmal ins allzu Irdische herunter: damit wir Unvollkommenen uns mehr mit uns selbst zurecht finden. Es liegt Begehren in diesem Sehnen und Eros und Schmerz – alles zugleich. Denn in dem Maße, wie uns die Lieblosigkeit, Technokratie, das Unrecht und die Friedensferne ans Herz geht, in dem Maße steigert sich das Sehnen nach heilsamer Veränderung. Nach klaren Verhältnissen. Wer sich sehnt, bleibt nicht stehen, wo er ist. Wer sich sehnt, geht. Mit großer Kraft.
Nun denn, gehen Sie, liebe Frau Albrecht. Mit Gott und seiner Kraft, die uns trägt. Woher immer wir kommen, wohin immer wir gehen – in jedem Fall zunächst in einen Raum, der Ethik heißt und jeder Frage des Menschen Gastfreundschaft gewährt.
Ich wünsche Ihnen dafür ein weites Herz und klugen Geist – und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.