13. September 2013 - Grußwort zur Festveranstaltung 180 Jahre Rauhes Haus
13. September 2013
Sehr geehrter Bürgermeister, lieber Olaf Scholz,
sehr geehrter Dr. Green, lieber Friedemann,
lieber Prof. Dr. Göring,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Schwestern und Brüder,
zum einhundertachtzigsten Geburtstag gratuliere ich dem „Rauhen Haus“ im Namen der ein wenig jüngeren Nordkirche sehr herzlich und wünsche Segen – gerade hier mit wunderschönen Worten der Bibel, die einem fast Hundertjährigen galten: Geh in das Land, das ich dir zeigen werde, spricht Gott zu Abraham. Und ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein.
Das Rauhe Haus ist seit 180 Jahren eine einzige Geschichte, wie der Segen Neuland betritt. Es ist ein Haus mit unzähligen Räumen, in dem die Muttersprache der Kirche ihren Ort gefunden hat: Seelsorge, die mehr kennt als das Wort. Seelsorge, die den Leib sieht und die Not und die Tat, die ansteht. Aus Aufmerksamkeit und Liebe heraus geboren – und deshalb unerhört wirksam. Denn wer kennte diese Stiftung nicht in Deutschland? Sie gilt als Beginn der modernen, neuzeitlichen Diakonie. Fromm, nüchtern, analytisch und zielbewusst schafft es Johann Hinrich Wichern in den ersten Jahrzehnten des Rauhen Hauses, zahllose Einzelinitiativen, Anstalten und Vereine zusammen zu schließen. Schafft es, Gutes zu tun und darüber zu reden. Schon vor 180 Jahren sind es Organisationsentwicklung und „fliegende Blätter“, also eine beflügelnde Öffentlichkeitsarbeit, die bis heute richtungsweisend sind für moderne Diakonie.
Wie wir sehr wohl wissen, gab es Brüche in der Geschichte des Rauhen Hauses. Dennoch: meistenteils ist sein Programm der „inneren Mission“ immer nach vorn gerichtet und mit der Absicht verbunden gewesen, die Kirche auf die Probleme der Gegenwart einzustellen. Der inneren Mission ging es um die – ich zitiere - „Wandlung der Kirche aus einer obrigkeitlichen Anstalt in eine brüderliche – wir dürfen ergänzen: geschwisterliche – Gemeinschaft“. Sie verstand sich als Impuls, durch den die Kirche ihrer eigenen Aufgabe wieder näher kommen sollte. Eben nicht allein Hüterin der Tradition, sondern auch Solidarpartnerin derer zu sein, die im Schatten wohnen. Tätige Nächstenliebe zu üben, indem sie eingreift, wo die Würde des Menschen, sei er klein oder groß, bedroht ist.
Das gilt bis heute.
Das Rauhe Haus holt uns oft heraus. Mahnt zu Aufbrüchen. Es sagt: schaut hin.
Kürzlich sah ich wieder die Fernsehdokumentation „Schattenkinder“. Dort erlebt man die 11-jährige Lea im Gespräch mit der Reporterin. Sie versucht, verschämt die Flecken in ihrem Pullover zu verdecken. Im Hintergrund sehen die Eltern Video. Sie haben keine Arbeit. Wenn Lea spricht, dann ganz leise. Meist äußert sie sich durch Nicken oder Kopfschütteln. Immer wieder fängt die Kamera ihren Blick auf – und der hat mich vor allem berührt, weil er so erschreckend traurig war, als gäbe es – jetzt schon! – für die Zukunft nichts mehr zu erwarten.
Armut bedeutet nicht nur weniger Geld. Sie bedeutet oft auch weniger Achtung. Ausbildung. Erfolg und weniger Lebenslust. Und so können Kinder auch innerlich verwahrlosen. Seelisch. In all den Möglichkeiten ihrer Existenz und Fähigkeiten.
Vor 180 Jahren hat Johann Hinrich Wichern die Schattenkinder seiner Zeit „retten“ wollen. Rettung ist für ihn der elementare Reformbegriff. Er meint: Fromm und nüchtern zugleich in der Welt stehen. Kraftvoll zupacken, wo jemand fällt. Halten, wo unhaltbare Zustände die Würde verletzen. Verändern, weil Gott es so will. In seiner berühmten Rede vor dem Kirchentag in Wittenberg hat Johann Hinrich Wichern es so ausgedrückt: „Es bedarf einer Reformation … aller unserer innersten Zustände …. Es tut eines not, dass die ev. Kirche in ihrer Gesamtheit anerkenne: … Die rettende Liebe muss ihr das große Werkzeug werden, womit sie die Tatsache des Glaubens erweist.“
Hier geht es – ganz im Sinne der Erweckungsbewegung – um die persönliche Umkehr. Und darum, wie Glaube, Hoffnung, Liebe in dieser Welt sichtbar wird. Beeindruckend für mich sowohl Wicherns Konzept als auch sein Weg dahin. Mit 24 Jahren ist er nach dem Theologiestudium Oberlehrer an der Sonntagsschule für arme Kinder in St. Georg. Und was macht er? Hausbesuche. Er besucht die Kinder der Elendsviertel. Er setzt sich aus. Unter dem Eindruck von Hunger, Krankheit und sozialer Verrohung gründet Wichern eine, wie er es damals nannte, Anstalt „zur Rettung verwahrloster und schwer erziehbarer Kinder“. Er versucht den Kindern familiäre Strukturen zu bieten, ein verlässliches Zuhause. Die Trias seines Konzeptes heißt: Lernen, Arbeiten und Feiern. Alles drei. Die Kinder lernen das Arbeiten und werden ausgebildet. Sie werden nicht verwahrt oder betreut; vielmehr traut Wichern ihnen immer zu, dass sie etwas für sich selbst tun können. Das gilt übrigens ebenso für die Eltern. Den Kontakt zu den Eltern zu halten, sie in ihren Konflikten zu unterstützen, ist für Wichern elementar. Kontakt halten ermöglicht Wege. So entsteht mit dem Rauhen Haus eine lebenslange Gemeinschaft, ein Beziehungsnetz gegen die Armut – Hoffnungszeichen bis heute.
Das Rauhe Haus ermutigt, nicht nur uns als verfasste Kirche, das Herz in die Hand zu nehmen. Die auch im übertragenen Sinne erkennbare Armut in unserer Gesellschaft als empfindliche Störung wahrzunehmen. Und nicht müde zu werden, aufzubrechen, was zwingt.
Wir haben solche diakonischen Aufbrüche auch heute. Dort wo akute Notlage Kräfte frei setzen. Manchmal auch politische Gratwanderungen. Und allemal Anstrengungen, die ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. In St. Pauli zum Beispiel. Kürzlich war ich dort. Weil ich mir wie alle hier Gedanken mache, was mit den Flüchtlingen werden wird. Und es ist wie so oft: Wir stecken in einem Dilemma. Alle, Gemeinde, Kirche, Politik sind gefangen ist einem System, das eigentlich keine Lösung hat. Rollen ja, gesellschaftliche Pflicht zur Humanität, ja, doch eine für alle gleichermaßen gerechte Lösung – nein. Wir ahnen bei diesen wie anderen Flüchtlingen die Traumata und Kriegswunden, die Albträume und innere Einsamkeit. Wir hören von den jungen Eltern, die auf der Flucht über das Meer ihre vierjährige Tochter verloren haben. Wir ahnen, dass ihre Fluchterlebnisse sich gar nicht so sehr von denen unterscheiden, die vor fast 70 Jahren in unserem Land auf Humanität, couragierte Christenmenschen und Obdach angewiesen waren.
Unerhört herzlich zeigen dies derzeit Menschen in Hamburger Gemeinden, christlichen wie muslimischen Gemeinden, z. B. in St. Georg-Borgfelde, vor allem aber in St. Pauli, dort wo Kiez ist und Armut und schräge Typen und vieles mehr. Mit Herz eben. Ob Rentnerin, Türsteher, ob Jugendliche – sie geben, was sie können: Zeit, Aufmerksamkeit, Geduld, Geld. Denn der Störfall, die Ausgegrenzten werden zum Teil der eigenen Realität. Berührt durch die Nähe der Flüchtlinge mitsamt ihrer Not entdecken die Menschen vor Ort ihre Lust und Fähigkeit zur Hingabe. Nicht umsonst tun Ehrenamtliche jetzt bereits seit 13 Wochen Dienst – Essen, Waschen, Fürsorge, Mitgehen. Menschen allen Alters und Couleur wollen Nachtdienst machen und Frühstück, bringen 1000 Zahnbürsten und Schuhe dazu. Es ist, als hätten viele derer, die dort leben, einen vielleicht nie gehörten Satz verinnerlicht: Was ihr einem meiner geringsten Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan.
Wie bei Wichern vor 180 Jahren ist das keine Sozialromantik. Es ist alles auch schwer kompliziert. Vor Ort. Mit der Rechtslage. Mit den Gesprächen hin zur Politik. Wir merken, alle kommen inzwischen an ihre Grenzen. Die Flüchtlinge und die, die ihnen helfen wollen. Zugleich ist doch klar. es ist letztlich das, was uns unser Glaube zeigt. Was damals auch einen Johann Hinrich Wichern getrieben hat. Im Rahmen des – in diesem Falle schmalen – Rechtsweges Menschenrecht zu ermöglichen. Es gilt, klug und mit Herz und Verstand und Courage – zu organisieren, dass Nächstenliebe nicht nur ins Rauhe Haus gehört, sondern ins Haus der Gesellschaft. In diese Stadt. Wichern würde sagen: Verteilen Sie, was Sie in sich tragen an Kraft und Liebe und Besonnenheit. Und nehmen Sie dazu unbedingt Kirchensteuer. Auch für die soziale Debatte. Dort, wo unsere Energie gebraucht wird.
Im Wissen um die vielen, die hier arbeiten mit großem Herzen und viel Energie, die sich einsetzen für Inklusion, Integration, ein gerechtes Bildungswesen, im Wissen um Sie, die niemals aufhören anzufangen, die dafür sorgen, dass Kinder zu demokratischen, dialogbereiten Mitmenschen heran wachsen, im Wissen um all die Schüler/innen, die in gewisser Hinsicht ständig ein T-Shirt tragen mit der Aufschrift „Kann ich behilflich sein?“, im Wissen um all die Diakoninnen und Diakone, die in Geschwisterlichkeit und Solidarität mit denen, die es schwer erwischt hat, leben – im Wissen um Sie alle, liebe Mitarbeitenden, die Sie das Rauhe Haus in seiner Vielfalt zu dem machen, was es ist – bin ich dankbar für die Botschaft, die von Ihnen ausgeht. An die Stadt. An die Kirchen. An die Gesellschaft als Ganze. Mag sein, getragen und gestärkt durch einen Glauben wie bei Johann Hinrich Wichern, der keine Angst hatte, Ordnungen in Frage zu stellen – weder Kleider-, noch Tischordnungen. Damit wir uns besinnen auf das Herz unseres Glaubens.
Und so ist es doch ein einleuchtendes Konzept, gerade heute: Lernen, Arbeiten, Feiern. Gelernt haben wir viel von Ihnen. 180 Jahre. Arbeiten werden wir weiter daran. Auch in Zukunft. Bleibt das Feiern, die Gegenwart. Ich freue mich, zur Geburtstagsfeier zu gratulieren und zu wünschen: Geht weiter in neues Land. Ihr seid gesegnet und sollt ein Segen sein.
Ich danke Ihnen.