15. Dezember 2013 - Predigt zum dritten Advent
15. Dezember 2013
Predigt zu Offenbarung 3, 1-6
Liebe Gemeinde,
was sind diese Adventschoräle schön, denke ich immer. Der, den wir eben gesungen haben, aber vor allem der zu Beginn: Wie soll ich dich empfangen. Beim Singen wird mir feierlich zumute. Da ist so viel Aussicht. Leben. Licht. Das geliebte Lieben in der 5. Strophe. Ja, er soll bitte gern kommen. Jetzt und hier und ewig, Friedefürst und Gottessohn. Die Zeit ist da. So sitze ich in meiner Kirchenbank mit erwartungsvoller Freude und schaue auf den, der da kommen soll.
So jedenfalls war´s bis vor einer Woche. Bevor ich das Ballett zum Weihnachtsoratorium, choreographiert von John Neumeier, gesehen habe. Stellen Sie sich vor, liebe Gemeinde: Lauter junge Tänzer, die alles geben in einem fliegenden Tempo: grazile Sprünge, präzise Drehungen, schwebende Engel, Bewegung, Bewegung, Bewegung auch ihrer Gefühle. Vom ersten „Jauchzet, frohlocket!“ an bin ich atemlos, weil ich gar so schnell nicht erfassen kann, was da gleichzeitig passiert. Die Ebenen, Geschichten, Zeiten, Menschen kreuzen sich unaufhörlich: heute ist gestern und ehemals ist immerdar. Lauter bewegte Menschen mit ihren Lebenskoffern in der Hand ziehen durch die Geschichte der Weihnacht. Alle sind sie auf der Suche danach, anzukommen. Heimat zu finden. Ruhe für die Seele. Plötzlich: ein Innehalten. Der Chor setzt langsam ein mit eben dem Choral. Getanzt nicht von der Compagnie, der Gemeinde auf der Bühne. Sondern getanzt von einem: Josef. Wie soll ich dich empfangen? Wie begegn ich dir? Was für ein Schmerz ist in diesem Tanz! Sein ganzer Körper ist Zerrissenheit. Hin- und her, ein Ziehen und Sehnen der Sehnen. Natürlich! Schlagartig wird mir klar, dass gerade Josef sich ja nicht unbeschwert freuen kann und Pirouetten drehen. Da ist vielmehr sein Zusammen-Reißen von Zweifel, Verletzung, Scham und hingebungsvoller, tiefer Liebe, alles zugleich. Treu bleibt dieser Mann an der Seite der Mutter, bis zuletzt, und wirkt eigentümlich verloren dabei. Der eine Fuß hüpft und der andere weiß nicht wohin. Josef ist die Ambivalenz auf zwei Beinen. Oder besser: auf einem Bein. Eine einsame Figur. Gefangen in der Unsicherheit, wer es denn ist, der da kommen soll.
Dieser Josef zeigt mir eindringlich: Advent ist auch Dunkelheit. Nicht nur Licht und helle Gesänge, sondern Schweigen und Schatten. Nicht nur bewegte Straßen, sondern stille Kammern. Viel Ernst, o Menschenkinder. Insbesondere der dritte Advent erinnert uns daran, dass Advent eine Wüstenzeit ist. Eine Zeit der Buße. Wir werden in Frage gestellt in dieser Wüste, sind zurückgeworfen auf uns selbst. Auf unsere Zerrissenheiten. Unser Wollen und nicht Können, unser Her und Hin. Auf unsere Furcht vor dem, was kommt und auf das „weiß nicht wohin“.
So lese ich nun den vorgegebenen Predigttext aus der Offenbarung 3. Kapitel:
1 Und dem Engel der Gemeinde in Sardes schreibe: Das sagt, der die sieben Geister Gottes hat und die sieben Sterne: Ich kenne deine Werke: Du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot. 2 Werde wach und stärke das andre, das sterben will, denn ich habe deine Werke nicht als vollkommen befunden vor meinem Gott.
3 So denke nun daran, wie du empfangen und gehört hast, und halte es fest und tue Buße! Wenn du aber nicht wachen wirst, werde ich kommen wie ein Dieb und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich über dich kommen werde. 4 Aber du hast einige in Sardes, die ihre Kleider nicht besudelt haben; die werden mit mir einhergehen in weißen Kleidern, denn sie sind's wert. 5 Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angetan werden, und ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buch des Lebens, und ich will seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln.
6 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!
Nicht gerade ein sich selbst erklärender Text, nicht wahr, liebe Gemeinde? Versuchen wir´s also, ihm näher zu kommen. Viel ist hier von Unvollkommenheit die Rede. Werke, die nicht vollkommen sind. Kleider, die beschmutzt sind. Namen, die ausgelöscht sind. Tod statt Leben. Unvollkommenheit überall. Da geht einer hart ins Gericht mit der Gemeinde Sardes, nennen wir ihn Johannes. Und man könnte all diese Worte in diesem alten Sardes lassen – könnte dort die Unvollkommenheit verorten – und hätte den Sinn des Textes verfehlt. Denn natürlich will der ca. 100 n. Christus geschriebene Text über die Ebenen, Geschichten und Zeiten hinweg unsere Wirklichkeit kreuzen. Schaut hin, sagt er, auf das, was im Schatten und nicht im Licht der Bühne ist.
Johannes, der Seher, ist ein Hinschauer. Und er sieht zunächst in seiner Zeit, wie sich der römische Kaiser Domitian – ein brutaler Despot – als Gott verehren lässt. Er sieht, wie treue Christen verfolgt, gefoltert, getötet werden. Er sieht und sagt, was er sieht. Enttarnt die dunklen Abgründe der angeblichen Lichtgestalt. Enttarnt den Applaus der Ängstlichen als Tanz ums goldene Kalb. Als politischer Aufrührer wird er schließlich auf die Insel Patmos verbannt. Dort aber schweigt er nicht. Er schreibt – Sendschreiben. Vorsichtshalber nicht an die Gemeinden selbst, sondern an deren Engel.
Denn die Zeit der klaren Botschaften in den Gemeinden ist vorbei. So viele sind verwirrt und innerlich in Aufruhr. Können gar nicht mehr richtig hinhören. Christus ist nämlich nicht wiedergekommen, die ersten Zeugen des Christentums sind gestorben, Paulus schreibt keine Briefe mehr an seine Gemeinden. Wie soll man sich nun als Christ im Alltag verhalten? Die äußeren Bedrängnisse verschärfen den inneren Konflikt: Bleibe ich Christus treu oder passe ich mich um des Überlebens willen an?
Gestern war ich auf einer Veranstaltung syrischer Flüchtlinge. Von den zwei Millionen, die in die Türkei, in den Libanon, nach Jordanien, Nordafrika geflohen sind, sind etwa 450.000 Christen. Sie erzählen Grausames. Von Entführungen, Entehrungen, Folter, Mord. Ein Zahnarzt, seit vier Wochen in Deutschland, wäre dennoch am liebsten dort. Durch sein Herz gehe ein Riss, sagt er. Der Schmerz, heimatlos zu sein kämpft mit der tief empfundenen Dankbarkeit, hier Aufnahme gefunden zu haben und Sicherheit. Weihnachten? Er zuckt mit den Schultern, Tränen in den Augen. Tränen der Trauer und der Wut. Sie fragen: Wie soll ich ihn empfangen?
Und ich verstehe, dass er sich sehnt. Danach anzukommen, irgendwo, mit dieser ganzen Verlorenheit und seinem Lebenskoffer. Es ist dies ein Sehnen nach Familie. Aber auch nach Heimat, die die Seele beherbergt und zur Ruhe bringt. Wie ihm geht es vielen. Nicht nur Flüchtlingen. – In etlichen Begegnungen spüre ich darin auch die Sehnsucht nach einem Gott, der für viele im Dunkel zu bleiben scheint. Wie soll ich ihn empfangen? fragen sie lange schon. Er ist so unbegreiflich groß. Unsichtbar. Und irgendwie so – entfernt- vollkommen. Und ich merke bei mir selbst, gerade im Advent, dass meine kleine Erdenseele sich sehnt, teilzuhaben an dieser Vollkommenheit. Mag sein, es geht Ihnen ähnlich. Vielleicht holen wir deshalb Gott mit unseren vielen Lichtern und Kugeln und Marzipankartoffeln manchmal ins allzu Irdische herunter, damit wir Unvollkommenen uns mehr mit uns selbst zu Recht finden, uns vollständiger fühlen und lichter. Damit wir die Süße des Lebens schmecken und Gottes Nähe. Es ist dies ein Sehnen nach einer besseren Welt, die nicht vor lauter Gewalt auseinander reißt. Eine Welt, in der Gott nicht die große Unbekannte ist, sondern neben dir sitzt. Es liegt Begehren in diesem Sehnen und Eros und Schmerz – alles zugleich. Denn in dem Maße, wie mir meine Unvollkommenheit bewusst ist, in dem Maße wie Unrecht und Schuld, Friedensferne und Ungeduld mich umtreiben, in dem Maße steigert sich das Sehnen nach einem heilenden, rettenden Wort. Nach Veränderung. Nach klaren Verhältnissen. Nach wahrem, nicht falschen Schein. Nach mehr Licht!
Dieses Sehnen und Ziehen nach vorn und nach oben – das macht den Advent so spannungsvoll. Macht ihn so anders als andere Zeiten im Jahr. Irgendwie spüren die Menschen, ohne dass sie kirchlich sein müssen oder von Gott reden: es ist eine Zeit angekommen, die will, dass wir anders werden.
Ja, werdet wach, sagt Johannes. Stärkt euch. Geht in euch. Tut Buße. Sonst sterben wir, als hätten wir nie gelebt. Und bleiben untröstlich, weil wir den Blendern geglaubt. Derer gibt es nämlich viel zu viele in Sardes. Auf ihren Bühnen ist nur der Schein, sagt Johannes. Halogen. Sie reden davon, dass der übergroße vollkommene Gott niemals wahrhaftig Mensch geworden sei. Er sei eben nur scheinbar dieses Kind gewesen, sagen sie. Denn sonst, sagen sie, hätte womöglich Gott selbst geschrien, wäre Gott selbst geflüchtet, hätte Gott selbst am Kreuz gelitten…
Und da ist es wieder, dieses Sehnen und Ziehen, weil wir genau das glauben und glauben dürfen: Wir erwarten einen, der das Leiden kennt und das Seufzen und unsere Krankheit und die Schmerzen. Einer, der weiß, wie beschmutzt man sich fühlen kann. Der deshalb tröstet, weil er überwindet und nicht verleugnet, was uns so unvollkommen sein lässt. Einer der uns frei macht, weil er weiß, was uns immer wieder gefangen hält.
„Als ich die Türen des Gefängnisses durchschritt“ – so sagte es der verehrte Nelson Mandela über den Tag seiner Befreiung – „war dies meine Mission: Zugleich den Unterdrückten und den Unterdrücker befreien.“ Ein großes, tröstliches Wort zum Advent, finde ich, weil er die Gefangenschaft beider anschaut. „Denn“, so Mandela weiter, „ein Mensch, der einen anderen Menschen seiner Freiheit beraubt, ist Gefangener seines Hasses, er ist eingesperrt hinter den Gittern seiner Vorurteile und seiner Engstirnigkeit.“
Mir sind diese Worte immer schon ans Herz gegangen. Weil sie so licht sind in dunkler Erfahrung. Weil so viel Trost in der Klarheit liegt und darin, der Zerrissenheit mit Segen zu begegnen. Trost ist eine Sprache der Liebe. Und die vertröstet nicht und sagt, indem sie wegschaut. Das Leben geht weiter. Sondern sie sucht die Traurigkeit. Das, was bitter macht und einen gefangen hält. Sie sucht das Gebet, für dich gesprochen. Das Lied, das der Müdigkeit widersteht. Sie sucht die Bitte um Verzeihung. Die Umarmung, die den Schmerz zu lindern sucht. All das, was dem Menschen innerlich wieder Raum gibt, nämlich Erbarmen. Dafür, liebe Gemeinde, öffnet Gott uns die Tür. Macht er uns frei, einzutreten in diesen Raum des Erbarmens. Auch und gerade wenn unser Kleid, unsere Weste nicht weiß und so vieles unvollkommen ist in uns. Gott stärkt uns den Fuß, den Schritt des Glaubens zu wagen. Über Schwellen hinweg. Mit Sprüngen. Pirouetten. Mit einem gemeinsamen Menuett, oder gar einem Freudentanz des Glaubens.
Wie also soll ich dich empfangen?
Langsam aber bald, liebe Gemeinde: mit Jauchzen und Frohlocken!
Denn der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahrt unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen