17. April 2014 - Dom zu Lübeck

17. April 2014 - Gottesdienst am Gründonnerstag

17. April 2014 von Kirsten Fehrs

Predigt zu Hebräer 2, 10-18

Gnade und Friede von dem, der da war, der da ist und der da kommt. Amen

Liebe Gemeinde,

einmal sich alles geschehen lassen, sich hingeben – aber oje: gerade die Füße? Wer unter uns würde das hier und jetzt genießen, sie sich waschen zu lassen? So wie wir es eben im Evangelium gehört haben? Wären in dieser so aktiven Domgemeinde nicht eher Sie diejenigen, die die Füße anderer waschen würden? Als ernsthafte Christenmenschen - freundlich, zupackend, mit Schürze und mag sein mit einem kleinen Seufzer: Was sein muss, muss sein…

Aber nun: Einmal dies an sich geschehen lassen -  selber die Füße sich waschen zu lassen, von einem der dich zärtlich kennt. Wie würde es uns damit gehen? Wenn jemand unsere Füße in die Hand nimmt? Unsere Füße, die uns durch so vieles hindurch tragen im Leben, die wissen, was geht und was nicht. Die robust und empfindsam zugleich sind. Und denen eine Berührung vielleicht gar nicht so angenehm ist, weil es kitzelt oder drückt oder Verhärtetes zu Tage fördert, was auch immer.

Diese Vorstellung, ja diese alte Geschichte lässt keinen unberührt. Sie geht unter die Haut. Weil es darum geht, am Gründonnerstag zuallererst, dass wir Jesus mit seiner Liebe leibhaftig an uns heran lassen. Und das hat eine unerhörte Intimität – wie der Glaube selbst. Jesu Liebe ist unmittelbar. Sie braucht deshalb die Gastfreundschaft unserer Herzen. Sie braucht dich, die den Fuß begehrt, um ihn zu berühren. Und sie braucht dich, der den Fuß anvertraut. Und zwar anvertraut, ohne eingreifen zu wollen. Jesu Liebe entkleidet von der Pflicht, alles im Griff haben zu müssen. Sie ist eine Macht, die macht, dass du sie geschehen lässt.

Besonders am Gründonnerstag wird dies anschaulich. Die Atmosphäre ist dicht. Abschiedlich. Der gemeinsame Weg ist zu Ende, alle ahnen es. Ich stelle mir vor, wie die Jünger beisammen sitzen, Judas unter ihnen. Sie reden. Erinnern sich. Weißt du noch, all die Wunder? Wie er den Lazarus aufgeweckt, den Blinden geheilt, wie er den Sturm in uns gestillt? Wisst ihr noch, als wir an Tausende Fisch und Brot verteilt haben - und wir dachten, das reicht nie! So sitzen sie vor dem Mazzenbrot und dem Wein, und ihnen wird immer klarer: Die Tage der Gefahr, der Schmerzen, des Abschieds werden nun kommen. Am liebsten möchten sie ihn festhalten, ihren geliebten Jesus, sind sie doch gerade jetzt einander so nahe wie selten zuvor!

Und so lassen sie es geschehen.

Seine Hingabe der Liebe und ihre Hingabe der Füße. Sie teilen das Brot und trinken aus einem Kelch. Danach wäscht Jesus behutsam ihre Füße. Alltägliche Verrichtungen werden auf einmal zu etwas ganz Besonderem.

Es gibt keine Erläuterung dafür, wie hier Profanes und Heiliges zusammen geht. Sicherlich war es nicht die Aufforderung: „Hier riecht es doch ein wenig streng, Männer. Lasst uns mal eben ein Fußbad haben.“ Nein, das wäre profan geblieben und im Übrigen auch längst vor dem Mahl ruchbar und behoben worden.

Es geht hier allein um das Geschehenlassen. Um Vertrauen, das im wahrsten Sinne Hand und Fuß hat. Wo es keine Scham gibt oder Angst, vor den Augen eines anderen nicht zu bestehen. Gründonnerstag ist der Tag der Vertrautheit, aus der ein Vertrauen wächst über den Tag hinaus.

Und so bin ich bei dem Predigttext aus dem

Hebräerbrief im zweiten Kapitel:

Denn es ziemte sich für den, um dessentwillen alle Dinge sind und durch den alle Dinge sind, dass er den, der viele Söhne zur Herrlichkeit geführt hat, den Anfänger ihres Heils, durch Leiden vollendete.

Denn weil sie alle von einem kommen, beide, der heiligt und die geheiligt werden, darum schämt er sich auch nicht, sie Brüder zu nennen, und spricht (Psalm 22,23): »Ich will deinen Namen verkündigen meinen Brüdern und mitten in der Gemeinde dir lobsingen.«

Und wiederum (Jesaja 8,17): »Ich will mein Vertrauen auf ihn setzen«; und wiederum (Jesaja 8,18): »Siehe, hier bin ich und die Kinder, die mir Gott gegeben hat.«

Weil nun die Kinder von Fleisch und Blut sind, hat auch er's gleichermaßen angenommen, damit er durch seinen Tod die Macht nähme dem, der Gewalt über den Tod hatte (nämlich dem Teufel) und die erlöste, die durch Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mussten.

Denn er nimmt sich nicht der Engel an, sondern der Kinder Abrahams nimmt er sich an.

Daher musste er in allem seinen Brüdern gleich werden, damit er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester vor Gott, zu sühnen die Sünden des Volkes. Denn worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden.

Nun, liebe Gemeinde, leichte Sprache ist das nicht gerade. Der Text scheint uns vielmehr von der konkreten Anschaulichkeit des Gründonnerstags wegzuführen. Der ganze Hebräerbrief vollzieht in eher abstrakter Weise nach, wie Alltägliches zu etwas Besonderem wird: Er ordnet die Geschehnisse um Jesus - sein Leben, seinen Tod, auch seine Auferstehung -  ein in das Kultritual am Jerusalemer Tempel. So wie der Hohepriester am Versöhnungstag ein Opfer darbrachte, um die Sünden des Volkes zu tilgen, hat Christus selbst die Versöhnung der Menschen mit Gott bewirkt – ein für alle Mal, und zwar durch seine Kreuzigung.

Soweit die theologische Quintessenz des Textes. Auch nicht gerade leicht zu verstehen, zu fremd ist die Sprache. Nicht aber der Inhalt. Der ist mir wertvoll und schnell auf den Punkt zu bringen. Es geht um eben die versöhnende Nähe zu Gott, die erst dann entsteht, wenn man Vertrauen empfindet. Jesus – so der Verfasser des Hebräerbriefes – können wir vertrauen, denn er ist der, der das Vertrauen Gottes hat: Und er ist der, der dieses Vertrauen an die Menschen weitergibt. Wie er das tut? Der Text gibt die Antwort: „Er musste in allem seinen Brüdern gleich werden.“ Natürlich. Vertrauen kann man nicht machen. Vertrauen muss man gewinnen. Indem man mitgeht. Daher musste er in allem seinen Brüdern gleich werden. Denn worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden.

Vertrauen entsteht im Mitgehen. Indem man sich einfühlt. Nachfragt. Dabei ist. Die Angst nimmt oder die Scham. Ein Mensch gewinnt Vertrauen, weil er oder sie das kennt, was ich durchmache. Die Witwe, die genau mitfühlen kann, wie der Tod das Herz zerreißt. Der Chef, der sich nicht zu schade ist mit anzupacken. Die Politikerin, die nicht abgehoben redet, weil sie wirklich etwas vom Leben versteht.

Und die andere Seite: Was ist das für eine bereichernde Erfahrung, wenn einem selbst Vertrauen geschenkt wird! Nicht umsonst heißt es: geschenkt. Ich habe es gestern gerade erlebt. Mit „meiner“ 10. Schulklasse; ich habe Ihnen, liebe Gemeinde, schon von ihr erzählt. Sie hatte sich rührend für die Lampedusa-Flüchtlinge eingesetzt, und wir sind ein gut Stück Wegs gemeinsam gegangen. Plötzlich, bei einer unserer Begegnungen, fragte ein Schüler, wie es ist beim Sterben. Und was mit einem passiert nach dem Tod. Sie hätten noch nie darüber geredet und hätten keine Antworten, nur Fragen.

So haben wir gestern gemeinsam einen Friedhof besucht, 17 junge Leute, eingewandert aus gefühlt 20 unterschiedlichen Ländern. Manche waren noch nie auf einem Friedhof. Aber sie waren voller Respekt. Und sie haben von ihren Toten erzählt. Eine Muslima, die ihren dreijährigen Bruder nun im Paradies glaubt. Der Vater, den Miriam* aus Ghana mit zwei Jahren verloren hat – sie kann es immer noch nicht fassen und muss weinen. Der Großvater, der anonym beerdigt wurde, weil er keinem zur Last fallen wollte – aber sie, die Enkelin sucht ihn dauernd. Die Asiatin, die fragt, wo die Seele als nächstes hingeht, wenn der Mensch stirbt. Zwischendrin bricht eine heftige Debatte los, ob es nicht ungerecht sei, dass es, obwohl doch im Tode alle gleich seien, so wenige reiche und so viele schlichte Gräber gäbe. Einer hält energisch dagegen: Er würde seinen letzten Cent geben, um für seine Eltern ein ordentliches Grab zu kaufen. Sie seien das Liebste, was er hätte. Da sind mir ehrlich die Tränen gekommen. Sie haben sich anvertraut: ihrem Lehrer. Mir, der Bischöfin. Auch mit ihren Fragen. Zum Beispiel, dass sie nicht verstehen könnten, wie wir Christen von einem Gott reden. Wenn er doch auch Mensch geworden ist, seien es doch zwei? Naja, fügt Miriam hinzu, es sei ja noch komplizierter; eigentlich seien es drei.

Ich habe ihre Fragen versucht zu verstehen und erklärt und nach Bildern gesucht -zu Hölle, Gericht, Trinität, Wiedergeburt und Seelenwanderung und wieder zurück. Zwei Stunden Mitgehen. Miteinander. Eine Wegstrecke der besonderen Art. Als wir uns verabschieden, reichen alle mir die Hand. Von sich aus. „Eine schöne Religion, Ihr Gott in diesem Christus“, sagt die Muslima am Schluss. Und wann wir uns das nächste Mal treffen. Es sei einfach noch manches offen geblieben…

Und ich merkte, wie ich auf einmal aus tiefstem Herzen dankbar war, dass „mein“ Jesus damals mitgegangen ist. Mit dem Leiden der Menschen. Mit ihrer Trauer und ihren Fragen. Ihrer Verzweiflung. Dass er uns nicht in den entscheidenden Momenten allein lässt. Sondern mit in den Garten der Angst geht. Nachher. Morgen. Und übermorgen auch.

Doch jetzt am Abend, da geht er noch nicht. Da ist er noch da. Leibhaftig und so unerhört nah. Sanft nimmt er die Füße in seine Hände. Es ist das letzte Mal, dass er die Jünger so berührt. Deshalb ist die Eindeutigkeit der Geste so wichtig. Die Berührung. Die Reinheit. Gerade beim Abschiednehmen kommt es doch auf jedes Wort, jede Geste an. Weil sie einem helfen, später, die Spannungen und Widersprüche zusammen zu bekommen: Den schönen Anfang und das bittere Ende. Die Hoffnung und die Traurigkeit. Tiefe Tragik und die Liebe, die niemals aufhört. Das Profane und unmittelbar das Gefühl, Gott dennoch ganz nahe zu sein.

Und Jesus nimmt unsere Füße in seine Hände und versteht das alles, was sie getragen haben. Er versteht das durch die Körpersprache unseres Glaubens. Sie ist etwas Besonderes: eine Körpersprache, die mütterlich in den Arm nimmt. Die den Friedenskuss kennt. Das Brechen des Brotes. Wenn wir gleich das Abendmahl feiern, stellen auch wir uns in die Gemeinschaft derer, die ihm vertrauen. Die deshalb all die menschengemachten Schranken zwischen uns überwinden wollen. Und wir üben uns damit in der Sprache des Vertrauens, die auch die Unberührbaren nicht unberührt lässt, sondern Anteil gibt an seinem Erbarmen. Gehen wir mit ihm, der uns liebt. Still. Bis in den Tod, der uns erlöst zum Leben.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in ihm, Jesus Christus. Amen.

Datum
17.04.2014
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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