17. November 2013 – Gedenkrede zur zentralen Gedenkfeier am Volkstrauertag
17. November 2013
Sie ist vielleicht an die 90, zufällig sitzen wir bei einer Gedenkfeier anlässlich des Feuersturms 1943 nebeneinander. Wie bei vielen Hamburgerinnen und Hamburgern ist zu spüren: Die Erinnerung geht hautnah. Als wäre alles erst gestern gewesen. In ihrer Erschütterung fängt sie an zu erzählen. Sie und ihr Mann, der auf Fronturlaub war, sind an dem Juliabend damals bei Freunden tanzen gewesen. Ausnahmsweise haben sie ihr Kind in der Obhut der Schwester gelassen. In ihnen war solch eine Sehnsucht nach Leichtigkeit, nach warmem Sommer, nach: “Tanze mit mir in den Morgen“. Nie vergisst sie das Bild, als sie zurückkommen. Wie sie vor ihrem zerstörten Haus und ihrem zerschlagenen Leben stehen. Der Kinderwagen in den Trümmern. Nie wieder haben sie richtig gelebt, sagt sie.
Erinnerung geht ans Innerste. Nicht nur ihr. Auch mir, die ich ja gar nicht miterlebt habe, was sie erlitten hat. Aber ich sehe dennoch das Bild vor mir. Furchtbar. So ein Schmerz macht stumm. Wir schweigen, ein Gespräch ohne Worte. Als wir uns verabschieden wiederholt sie: Nie wieder!
Es sind solche Begegnungen, meine sehr geehrten Damen und Herren, - Begegnungen, die auch in London, Coventry, Warschau und in der Normandie hätten stattfinden können, - die mir klar machen, dass sich der Volkstrauertag als ein Tag der gemeinsamen Trauer nicht erledigen darf – auch und gerade weil meine Generation selbst keine Kriegsgewalt erfahren hat. Ich lebe in einer Friedensnobelpreisträgerin Europa. In einem demokratischen Land. Und ich bin sehr dankbar dafür. Aber ich empfinde doch auch die Verantwortung! Denn mein Volk hat eine gebrochene Geschichte. Von deutschem Boden ist unendliches Leid ausgegangen. Das macht die Erinnerung so schwer und gleichzeitig so dringlich. Nie dürfen wir aufhören, diese Erinnerung mit in die Zukunft zu nehmen.
„Nie wieder Krieg!“ höre ich. Und schaue auf derzeit über 30 Kriege in der Welt. Es waren schon mehr, vor 20 Jahren. Doch jeder Krieg ist einer zu viel: Immer wieder dies sinnlose Sterben und Töten! Der Volkstrauertag will, dass wir als ganzes Volk innehalten. Um des Vergangenen zu gedenken, das uns heute mahnen will. Er will das Mitgefühl im Jetzt. Die Einfühlung. Erkenntnis des Unfassbaren. Schweigen, weil Worte nicht reichen. Es gehört zur Würde eines Volkes, der Trauer auch gegenwärtig Raum zu geben. Und sich erschüttern zu lassen von dem, was an Gewalt und Hass ehemals aus ihm selbst heraus entstehen konnte.
Und so gedenken wir heute derer, die durch Krieg und Terror, Gewalt und Diktatur ihr Leben verloren haben. Nahezu 100 Millionen Gräber allein in den letzten beiden Weltkriegen! So viele gefallene Soldaten. Geliebte Söhne und Väter. Unvorstellbar viele versehrte Lebensgeschichten. Zerschossene Träume gemeinsamer Zukunft. Bombenhagel in unzähligen Städten und Kinderwagen ohne Kinder darin.
Wir gedenken der Millionen Opfer von Rassenwahn und nationalsozialistischem Terrorregime. Wir trauern um sie alle, die wegen ihrer politischen Überzeugung, ihrer Religion, ihrer Rasse, ihrer sexuellen Orientierung oder einfach nur weil sie sind, wer sie sind, verfolgt, geschunden und ermordet wurden. 6 Millionen Juden. Mehr als 500 000 Sinti und Roma. Millionen Opfer auch von Flucht und Vertreibung, allein 9000, die auf der „Wilhelm Gustloff“ elend untergegangen sind.
Wir gedenken ihrer. Denken an ihre Todesangst in den Schützengräben aller Kriegsnationen. An Kälte und Tod auf der Flucht. Wir gedenken ihrer, die im Schatten eines Diktators versteckt waren, dem man als Lichtgestalt unverdrossen zujubelte. Wir gedenken ihrer, die Gefangenschaft erlitten, Gestapo, KZ, Menschenversuche. Dem Folterschrei folgt Friedhofstille. Und die anderen, sie jubelten darüber hinweg. Immer noch 1943. Und 1945. Und heute bisweilen wieder.
Wir wissen nur zu gut, dass auch etliche in unseren Kirchen sich haben verführen lassen. Von Macht. Einfluss. Der „neuen Zeit“. Wir wissen, dass wir in unseren Gemeinden entschiedener der Gleichschaltung hätten Hausverbot erteilen müssen – und einem Bischof Tügel dazu. Dass wir hätten mutiger widerstehen, klarer Widerworte sprechen und inständiger hätten beten müssen. Wir wissen, dass wir uns den Verfolgten deutlicher an die Seite hätten stellen und wahrhaftiger unseren Glauben bekennen müssen in einer vor Hass tobenden Welt.
Und so ist da immer auch Schuld. Maxima culpa. Und also für unsere Generation immer auch Verantwortung, all dies nicht zu vergessen. In größtmöglicher Emphase versuchen wir deshalb in Bildern und Worten zu erfassen, wie maßlos die Grausamkeit war und wie finster dies Kapitel deutscher Geschichte. Aber mit jedem Begriff, jeder Aufzählung empfinde ich auch Zweifel. Erfassen Worte wirklich die bestialische Realität? Immer weniger Zeitzeugen können uns ihr Wort leihen. Sollten wir nicht bekennen: wir müssen schweigen, wir finden keine angemessene Sprache? Denn unglücklicherweise fehlen oft die Worte. Immer noch, bald 70 Jahre danach.
Die jüdische Poetin Nelly Sachs weiß darum. Um das Unsagbare des Todes. Und des Grauens. Sie verdichtet es in wenigen Worten:
Ohr der Menschheit,
du verwachsenes,
würdest du hören?
Wenn die Stimme der Propheten
Auf dem Flötengebein der ermordeten Kinder
Blasen würde –
Wenn die Propheten
… aufbrächen dein Gehör mit den Worten:
Wer von euch will Krieg führen gegen ein Geheimnis,
wer will den Sterntod erfinden?
Nacht der Menschheit,
würdest du ein Herz zu vergeben haben?
Würdest du, bitte, es hören, mein Volk, und dein Herz vergeben? Damit es Tag werden kann? Das verwachsene Ohr braucht dazu Worte, die die Sprachlosigkeit aufbrechen. Worte des Erbarmens, das ausnahmslos jedem Menschen auf dieser Erde gilt. Der Mensch ist Ebenbild Gottes, heißt es doch in ersten Sätzen der Bibel. Und deshalb ist er heilig, unantastbar in seiner Würde von allem Anfang an. Nicht zur Zerstörung frei gegeben! Es braucht klare Worte unserer Traditionen, die uns ebenso tragen wie sie uns verändern. Solche auch wie das jüdische Kaddisch, das Toten-Gebet, gesprochen noch und noch an den Gräbern und in den Monaten der Trauer. „Fülle des Friedens und Leben möge vom Himmel herab uns zuteil werden“, heißt es dort.
Leben. Nicht die Hölle, die Shoa, das Leben hat das letzte Wort. Es braucht solche Worte, die unserer Friedenshoffnung wieder aufhelfen in dieser Zeit. Die erinnern, dass wir etwas vor uns haben, ohne zu verleugnen, dass auch viel hinter uns liegt. Doch genau dazu muss man reden, um Worte ringen, von Generation zu Generation: Wir müssen sie suchen, diese Worte, um trauern zu können. Damit die Geschichte der Getöteten ebenso gewürdigt wird wie die Zukunft der Lebenden.
Viele junge Menschen heutzutage finden richtige Worte. Zum Beispiel die Jugendlichen der Klasse 10b in der Stadtteilschule St. Pauli. Vor kurzem war ich bei ihnen. Ca. 2/3 der Schülerinnen und Schüler haben einen Migrationshintergrund. Vor allem aber haben sie Herz. Sie haben dem Innensenator und mir einen Brief geschrieben. Wie ich vielleicht wüsste, seien nebenan in der Kirche afrikanische Flüchtlinge. Diese Männer seien verängstigt und würden sehr leiden. Und überdies seien sie sehr, sehr nett. Sie, die Zehntklässler, würden gern ihre Turnhalle als Winterquartier zur Verfügung stellen, und ob ich nicht die Turnhalle segnen könnte, damit die Flüchtlinge dort sicher seien? Sie würden einem Gespräch mit Freude entgegensehen.
Es war eine Begegnung der besonderen Art. Weil sie alle – black und white together – überwinden wollten, was sie verstört und traurig gemacht; sie wollten dem Leiden mit Segen begegnen. Eben nicht länger zuschauen, wie Flüchtlinge vor den Augen der ganzen Welt an den Außengrenzen Europas grauenvoll untergehen. Sondern sie wollen ihnen sagen: „Willkommen in diesem, meinem (!) Land“. All dies ist in ihren Worten. Es ist Zeit, meine Damen und Herren, unser Ohr zu schärfen für diese Sehnsucht nach Heimat. Nach Angenommensein. Das Ohr der Menschheit braucht Aufmerksamkeit für diese jungen Hoffnungen. Sie sind wie der Klang einer ganz anderen Wirklichkeit. Erzählen von Friedensliebe. Von Vertrauen. Von der Barmherzigkeit. Von dem Wunsch nach Veränderung.
Es wird Zeit, gemeinsam diese Sprache wiederzufinden. Worte des Friedens und der Geschwisterlichkeit. Manchmal sind wir viel zu leise! Viel zu leise stehen wir für Menschenrecht ein und Demokratie. Sie aber sind es, die uns einen als ein Volk, das seine Geschichte nicht vergessen hat! Und dazu gehört klares Widerwort gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus in unserem Land. Vernehmbare Widerworte gegen rechte Gewalt und einen vor Intoleranz bebenden Verbalradikalismus im Internet, der uns wach halten muss. Klares Widerwort aber auch gegen Terror in heutiger Zeit. Der heute die Städte zerstört. In Homs. Oder Bagdad. Oder Kabul. Wir trauern um die Opfer auch dort. In Syrien. Irak. Und wir trauern um jeden gefallenen Soldaten in Afghanistan. Gedenken ihrer mit Respekt und Dankbarkeit. Wir trauern mit ihren Angehörigen und fragen damit: Wann wird es aufhören, das Kämpfen und das Töten? Wann wird das Leid ein Ende haben? Längst doch ist es genug!
Trauert nicht wie die, die keine Hoffnung haben – das ist eines der trostreichsten Worte, die ich kenne. Einst von Paulus denen zugesprochen, die untröstlich waren. Trauert nicht wie die, die keine Hoffnung haben. Und ich sehe die jungen Menschen vom Volksbund, wie sie auf den Soldatenfriedhöfen der Welt – mit ganzen Feldern voller Kreuze! – nicht allein die Gräber pflegen, sondern auch die Versöhnung. Mit einer Selbstverständlichkeit, die mich mit Respekt erfüllt und zutiefst beeindruckt. Sie sind wie ein einziges: „NIE wieder!“ Nie wieder Kriegsgeschrei und Nagelstiefel. Mit ihrem Wort und ihrer Tat zeigen die jungen Menschen uns: Die Völkergrenzen sind aufgehoben in ihrer Vorstellung. Grenzen und Zäune, innere wie äußere, spielen keine Rolle mehr. Wir sind EIN Volk, ein einig Volk von Geschwistern, das gegen die traurige Vergangenheit und manch triste Gegenwart die Vision einer gemeinsamen Zukunft setzt. Eine Zukunft, die das Leben würdigt und liebt. Was könnte versöhnender sein an einem Volkstrauertag?!
Keine Erinnerung ohne Zukunft. Keine Zukunft ohne Erinnerung. In beiden zusammen erst liegt die Kraft der Versöhnung.
Wir verneigen uns in Trauer und großer Ehrfurcht vor den Toten.