18. April 2014 - Lübeck

18. April 2014 - Ökumenischer Kreuzweg Lübeck

18. April 2014 von Kirsten Fehrs

Leitwort: „Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben.“ (Joh 10,10b) Missbrauch und rechter Gebrauch von Macht in heutiger Zeit – Maßstäbe aus dem Glauben schöpfen Text an Station 1 von Bischöfin Kirsten Fehrs

Wie ein riesiger spitzer Dorn – das war meine erste Assoziation zu dieser Stele. So sieht sie wenigstens aus, wenn man dort steht – neben Ihnen und Euch, den Kindern. Danke, dass Sie und Ihr gekommen seid, aus Lübeck und andernorts, aus evangelischen oder katholischen Gemeinden - wir sind eine ökumenische Gemeinschaft der Mittragenden. Und Mitfühlenden. Eine Gemeinschaft derer, die dem Leid nicht ausweichen, das geschehen ist und immer noch geschieht. Nur so, nur indem Ihr das Kreuz tragt, buchstäblich, wird nicht vergessen, wie schwer die Opfer von Gewalt an ihren Verletzungen tragen. Wie schwer sie tragen an den Folgen von Demütigung, Schlägen, sexuellem Missbrauch. Wir erinnern mit diesem Weg ihren Schmerz. Im Namen des Gekreuzigten, der jeden Schmerz kennt. Und indem wir dies tun, machen wir zugleich seiner Hoffnung Beine. Der Hoffnung nämlich, dass wir lernen, das Leben zu lieben. So sehr, dass wir niemals in der Lage sind, es einem anderen zu nehmen.

Und ich denke an die Worte eben. Passend dazu die alte Kunst, das Relief hier: Lange, große, spitze Dornen sieht man aus der Dornenkrone ragen. Mit brutaler Gewalt setzen die römischen Soldaten sie dem geschundenen Jesus auf. Stechend der Schmerz. Und der Spott. Die Beschimpfung. Alle gegen einen. Kreuzigt IHN! schreit der Mob, geifernd im Machtrausch. Mobbing vor fast 2000 Jahren. Machtlos, ja peinlich berührt, steht Pilatus, der eigentliche Machthaber daneben. Er versteht dieses Volk nicht, hat es nie verstanden. Unwillig schüttelt er seine Verantwortung ab. Er hat schließlich alles getan. Denkt`s und weiß, dass er sich selbst belügt. Er wird seine Hände eben nicht in Unschuld waschen, sondern im Blut dieses unschuldigen Mannes.

Pilatus hört, wie Jesus aufstöhnt, als sie ihm den schweren Kreuzbalken auf die Schultern legen. Im gleichen Moment ist ihm, als trüge auch er das Kreuz. Und käme sein Lebtag nicht mehr von ihm los.

Schuld kann ein schwerer Balken sein. Gerade wenn man sie nicht zugestehen kann oder will. Sie verhärtet, weil es so viel Kraft kostet sie zu tragen, anstatt sie abzulegen. Vor Gott. Vor sich selbst. Vor denen, die man verletzt hat. Gerade vor ihnen. Versöhnung, ja Aussöhnung gelingt nicht hinter dem Rücken der Opfer. Er nun, der am Kreuz unsere Schuld ja längst getragen hat, damit sie unsere Seele nicht vernichtet, er sagt: Lass die Schuld nicht Macht über dich gewinnen. So dass du sie andern immer in die Schuhe schiebst. Schau dich an, dass du ungerecht warst, kränkend, durch Macht und Ansehen verführt, Menschen zu erniedrigen. Schau es an, dass du jemandem Schmerz zugefügt hast.

Und ich nehme die neue Perspektive ein und sehe diese Stele plötzlich in einem anderen Licht. Auf einmal hat der spitze Schmerz eine ungeahnt tiefe Dimension. Und ich höre Sandra, die Missbrauch erlebt hat und perfide Gewalt. Jahrzehnte hat sie das ´vergessen`. Bis irgendwann die Erinnerung mit aller Macht heraus drängte. Schlagartig war ihr früheres Leben zu Ende, sagt sie. Plötzlich war sie auf der anderen Seite. Auf der Seite der Ohnmächtigen, die ausgeliefert sind – immer wieder. Denn die Bilder der Gewalt bleiben im Kopf. Zum Verrücktwerden. Immer wieder tauchen sie auf, wie ein großer Schatten, und schlagen sie erneut zu Boden. Und lassen sie unerhört einsam zurück.

Denn Gewalt löst zunächst oft aus, nicht hinschauen zu wollen. Mir geht es auch so. Nie habe ich etwa bei einem Jesusfilm die Kreuzigungsszene ausgehalten. Habe immer die Augen zu gemacht. Das Unaushaltbare spiegelt sich auch in unserer Gesellschaft. Gewalt – so die Reaktion – ist das Thema von anderen. Nicht meines. Vielleicht ist es Gleichgültigkeit, vielleicht sind es Angst, Scham und Unsicherheit, die uns peinlich berührt stumm werden lassen. Der Kreuzweg dagegen rüttelt uns auf, mahnt uns, dass wir uns nicht damit abfinden. Dass wir sensibel bleiben für das Leiden.

Es muss uns ein Dorn im Auge sein, dass hinter der Gardine der Wohlanständigkeit täglich so viel häusliche Gewalt geschieht. Es muss uns ein Dorn im Auge bleiben, dass Tag für Tag allein in Deutschland etwa 500 Kinder schwere Schläge und Misshandlung erleiden. Oder: die andere Dimension politischer Aufmerksamkeit – es muss uns ein Dorn im Auge bleiben, wenn weltweit den Diktatoren durch deutsche Rüstungsexporte in die gewalttätige Hand gespielt wird. Und es muss uns ein Dorn im Auge bleiben, wenn wir Kirchen uns nicht mit der Schuld auseinandersetzen, die wir über die Jahrhunderte auf uns geladen haben – besonders, gerade bei diesem Kreuzweg gehört dies gesagt, in der Zeit des Nationalsozialismus. Schließlich: Es muss uns ein Dorn im Auge bleiben, wenn sexueller Missbrauch bagatellisiert wird – gerade wenn das in Räumen stattgefunden hat, in denen mit Inbrunst gesungen wurde: Komm Heiliger Geist, kehr bei uns ein.

All dies muss uns ein Dorn im Auge bleiben – im Angesicht des Schmerzensmannes, der die Wunden spürt und sich den Schlagenden nicht geschlagen gibt. Der dieser gewaltvollen Welt die Stirn bietet, mitsamt seiner Dornenkrone. Der die Schuld der Welt trägt, weil diese Schuld sonst alles Leben erdrücken würde.

Jesus Christus spricht: Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben.

Dazu sind wir hier. Dass wir der Hoffnung auf  Leben den Weg ebnen. Weil leben immer einschließt, vergeben zu können. Und weil vergeben gerade nicht vergessen heißt. Amen

Datum
18.04.2014
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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