19. Dezember 2013 - Rotary-Adventsfeier
19. Dezember 2013
Micha 5, 1-4a Micha im 5. Kapitel: Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist. (…) Er aber wird auftreten und weiden in der Kraft des Herrn und in der Macht des Namens des Herrn, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen, denn er wird zur selben Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist. Und er wird der Friede sein.
Liebe Schwestern und Brüder,
Was ist das für ein schöner Choral: Wie soll ich dich empfangen. Da ist so viel Aussicht. Leben. Das geliebte Lieben in der 5. Strophe. Ja, er soll bitte gern kommen, denke ich. Jetzt und hier und ewig, Friedefürst und Gottessohn. So singe ich´s fröhlich in meiner Kirchenbank und freue mich ungehemmt auf den, der da kommen soll.
So jedenfalls war´s bis vor 10 Tagen. Bevor ich das Ballett zum Weihnachtsoratorium, choreographiert von John Neumeier, gesehen habe. Stellen Sie sich vor, liebe Freundinnen: Lauter junge Tänzer, die alles geben in einem fliegenden Tempo: grazile Sprünge, präzise Drehungen, schwebende Engel, Bewegung, Bewegung, Bewegung auch ihrer Gefühle. Vom ersten „Jauchzet, frohlocket!“ an bin ich atemlos, weil ich gar so schnell nicht erfassen kann, was da gleichzeitig passiert. Die Ebenen, Geschichten, Zeiten, Menschen kreuzen sich unaufhörlich: heute ist gestern und ehemals ist immerdar. Lauter bewegte Menschen mit ihren Lebenskoffern in der Hand ziehen durch die Geschichte der Weihnacht. Alle sind sie auf der Suche danach, anzukommen. Heimat zu finden. Ruhe für die Seele. Plötzlich: ein Innehalten. Der Chor setzt langsam ein mit eben dem Choral. Getanzt nicht von der Compagnie. Sondern getanzt von einem: Josef.
Wie soll ich dich empfangen? Wie begegne ich dir? Was für ein Schmerz ist in diesem Tanz! Sein ganzer Körper ist Zerrissenheit. Hin- und her, ein Ziehen und Sehnen der Sehnen. Natürlich! Schlagartig wird mir klar, dass gerade Josef sich ja nicht unbeschwert freuen kann und Pirouetten drehen. Da ist vielmehr ein Zusammen-Reißen von Zweifel, Verletzung, Scham und hingebungsvoller, tiefer Liebe, alles zugleich. Treu bleibt dieser Mann an der Seite der Mutter, bis zuletzt, und wirkt eigentümlich verloren dabei. Der eine Fuß hüpft und der andere weiß nicht wohin. Josef ist die Ambivalenz auf zwei Beinen. Oder besser: auf einem Bein. Eine einsame Figur. Voller Unsicherheit, wer denn da kommen soll. Und was aus ihnen dann wird. Und wo sein Platz sein wird.
Weihnachten, liebe Geschwister, ist eine bewegte Geschichte. Innerlich voller Spannung – Josef zeigt es. Und äußerlich auch. Denn es machten sich auf ja nicht allein Josef und Maria, sondern auch die Engel und die Hirten. Und Maria bewegte schließlich alles auch noch im Herzen. Diese Bewegung aber kommt wie in dem Tanz zusammen mit einem Sehnen und Ziehen nach vorn und nach oben. Und dies fragt unentwegt: wohin? Wo ist mein Ort? Wo finde ich Heimat mit meinen Gedanken, Sorgen, Gefühlen, Worten? Wo kann ich sein, die oder der ich bin? Wo kann ich sicher wohnen…..
Die Israeliten, zu denen der Prophet Micha spricht, kennen dieses Ziehen und Sehnen nur zu gut. Jahre schon im Exil, den zerstörten Tempel vor Augen, haben sie nicht nur ihre Heimat verloren, sondern irgendwie auch sich selbst. Ihre Identität, ihren Glauben. Sie sind gewissermaßen metaphysisch obdachlos, Gott scheint so fern, fremd, so im Dunklen. Micha hält gegen. Mit einer Verheißung des ganz anderen. Senkt in sie hinein Worte, die die Israeliten dann tatsächlich wieder in gute Hoffnung bringt:
Und sie werden sicher wohnen, denn er (der Messias) wird zur selben Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist. Und er wird der Friede sein.
Das gilt bis heute. Gottes Sohn selbst nimmt in dieser Welt Wohnung. Ganz bald. In einer heiligen Familie, die heute jedes Jugendamt auf den Plan rufen würde. Die Heimat des göttlichen Kindes ist ein Armenhaus. Die zugige Ungastlichkeit. Die Existenz eines Flüchtlings vom ersten Atemzug an. Das ist der Herr der Herrlichkeit.
Und ich sehe Andreas vor mir. Er ist einer von 80 libyschen Flüchtlingen, die über 6 Monaten jede Nacht in der St. Pauli-Kirche in Hamburg geschlafen haben. Er weiß, was es heißt Heimat zu verlieren. Todesangst zu haben. In ihm kämpfen immer die Schatten seiner Fluchtgeschichte mit seinem sonst so sonnigen Gemüt. Er ist wie all die Flüchtlinge in der St. Pauli Kirche dankbar, friedlich, will arbeiten, was lernen. Die über hundert Ehrenamtlichen, die mit so viel Herz für ihre afrikanischen Gäste sorgen – afrikanisches Essen kochen, waschen, mit ihnen Fahrräder reparieren, Deutsch unterrichten, Babysachen und Schuhe organisieren, teilen auch ihre Ängste davor, heimatlos zu sein.
Und ich verstehe, dass alle etwas wissen von diesem Sehnen und Ziehen des Josef. Andreas und Quadcho, die Syrer, Roma und Tschetschenen am anderen Ort, aber auch all die, die sich mit ihrem Ehrenamt so sinnvoll einsetzen: die Übersetzerin Elke, die Jugendliche, die jeden Tag Abendbrot macht, und der Türsteher Hotte. Alle sehnen sich danach anzukommen, irgendwo, mit ihren Fragen, ihrer Verlorenheit und ihren Lebenskoffern. Es ist dies ein Sehnen nach Heimat, die die Seele beherbergt und zur Ruhe bringt.
Ihr werdet sicher wohnen. Und sein Name wird Friede sein. So viele Hamburger haben sich von der Vision des Micha in diesem Jahr anrühren lassen, ohne dass sie sie je gehört hätten. Denn dass Heimat etwas mit Achtung und Nächstenliebe zu tun hat und damit, Gastfreundschaft in den Gedanken zu gewähren– für mich übrigens die rotarische Tugend – das alles hat Menschen bewegt, verändert. Die Klasse 10 b der Stadtteilschule St. Pauli z.B. Vor kurzem war ich bei ihnen. Ca 2/3 der Schülerinnen und Schüler haben einen Migrationshintergrund. Vor allem aber haben sie Herz. Sie haben dem Innensenator und mir einen Brief geschrieben. Wie ich vielleicht wüsste, seien nebenan in der Kirche afrikanische Flüchtlinge. Diese Männer seien verängstigt und würden sehr leiden. Und überdies seien sie sehr, sehr nett. Sie, die Zehntklässler, würden gern ihre Turnhalle als Winterquartier zur Verfügung stellen, und ob ich nicht die Turnhalle segnen könnte, damit die Flüchtlinge dort sicher seien? Sie würden einem Gespräch mit Freude entgegensehen.
Es war eine Begegnung der besonderen Art, ein wunderbares Hoffnungszeichen? Die Schüler – black und white together – wollten überwinden, was sie verstört hat; sie wollten der Angst mit Segen begegnen. Wissend, dass sie kein Weltproblem lösen können, wollten sie einfach sagen: „Willkommen in diesem, meinem (!) Land“.
Ihr werdet sicher wohnen. Weihnachten ist ein einziges Ankommen. Alle kommen nach Haus. In ihre Familien. Bei sich selbst. Und vielleicht könnten wir alle uns verlocken lassen, auch wieder nach Haus zu kommen in diese alten Friedensverheißungen! Sie erinnern uns nämlich, dass Gott selbst bei uns wohnen will. Und dass wir ankommen dürfen – auch bei ihm. Er sagt: willkommen in diesem Leben. Und, gebe Gott: wir sind zuhaus! Amen.