19. November 2014 - Buß- und Bettag
19. November 2014
Offb 3,14-22
Liebe Gemeinde,
lau – das ist nichts. Gerade nicht am Buß- und Bettag. Lau ist fade. Unklar. "Ein Laumann", sagte man früher zu jemandem, auf den kein Verlass war. Ein Anpasser, ein Schwächling. Ein Warmduscher, würde man heute sagen. "Der Herr badet gern lau", sagte Herbert Wehner einst über Willy Brandt, als er ihn mal richtig öffentlich anzählen wollte. Der ist nicht richtig heiß und nicht richtig kalt, hat keine eigene Meinung. Ein hartes Urteil.
Und genau dieses Urteil wird in unserem Predigttext über die christliche Gemeinde in Laodizea, in Kleinasien gefällt. In der Offenbarung des Johannes heißt es:
„Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes: Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich bin reich und habe genug und brauche nichts!, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß. Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest. Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei nun eifrig und tue Buße! Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir. Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mich gesetzt habe mit meinem Vater auf seinen Thron. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!"
Eine Gemeinde also zum Ausspucken – um nicht noch stärkere Bilder zu gebrauchen. Weder heiß noch kalt, nicht Fisch noch Fleisch. Laues Gerede, Sprachbrei. Ausspeien, wegwerfen, auflösen – das ist wohl das härteste Urteil überhaupt, das man über eine Gemeinde fällen kann.
Worum ging es damals, liebe Gemeinde heute? Laodizea war das Wirtschaftszentrum Kleinasiens. Es lag nahe bei den Thermen von Hierapolis, das warme Wasser galt als heilkräftig. Die Stadt lebte von Kurgästen und Pilgern, auch wurde in der Stadt Medizin hergestellt, vor allem eine berühmte Augensalbe. Dank einer neuen Technik wurde Laodizea auch zum Zentrum der Purpurfärberei im römischen Reich. Viel Geld kam in die Stadt, und auch für sein Bankenwesen war Laodizea weithin berühmt. Als die Stadt im ersten Jahrhundert durch ein Erdbeben schwer beschädigt wurde, lehnten die Stadtoberen die Wiederaufbauhilfe aus Rom dankend ab: Das schaffen wir hier aus eigener Kraft.
"Ich bin reich und habe genug und brauche dich nicht" – diese Haltung findet sich auch bei der christlichen Gemeinde in der Stadt. Doch diese Haltung wird durch den Predigttext Vers für Vers widerlegt, ja geradezu genüsslich-ironisch demaskiert: Das Gold deiner Banken? Nichts wert fürs wahre Leben. Deine kostbaren Purpurstoffe? Zieh lieber weiße Kleider an, damit man nicht sieht, wie peinlich nackt du bist. Deine berühmte Augensalbe, auf die du so stolz bist? Die hilft offensichtlich nichts, du hast ja überhaupt keinen Durchblick. Stück für Stück wird der Stolz der Stadt und der Gemeinde demontiert. Jesus, der hier durch Johannes spricht, zielt dahin, wo es wehtut. Als ob er in Hamburg den Hafen, die Handelskammer und die Hauptkirchen zugleich kritisieren würde. "Ich stehe vor der Tür und klopfe an", sagt Jesus. Verlasst euch doch nicht auf euren Reichtum, eure blühende Wirtschaft, eure guten Werke, die sowieso nur lauwarm sind. Lasst euch infrage stellen!
Ich habe vor kurzem ein ähnlich zorniges Schreiben gelesen, eine Art Sendschreiben an die Welt, eine Anklage. Ein junger Mann aus Syrien, der seit zwei Jahren in einem jordanischen Flüchtlingslager lebt, hat einen Brief geschrieben, handschriftlich auf einen zerknitterten Zettel. Adressiert ist er an das UN Flüchtlingshilfswerk. Aber irgendwie auch an uns alle. Der 21-jährige schreibt: „Meine Schwester und ich haben unser Studium hinter uns gelassen, wir haben unsere Träume und Zukunftspläne verloren.“ Er schildert sehr eindrücklich, wie ärmlich das Lagerleben ist. Er bittet darum, dass man seiner Schwester und ihm eine Ausreise nach Europa oder Amerika erlauben möge. Aber er bleibt nicht bei den Bitten stehen. Gegen Ende wird sein Brief zu einer zornigen Anklage gegen die Welt: „Wir waren beide ausgezeichnete Studenten und nun leben wir seit zwei Jahren im Lager. Sind wir nicht auch Menschen? Wurden wir nur zum Essen, Trinken und Schlafen geboren? Worin besteht unsere Sünde, unsere Schuld? Sind wir nicht würdig, ein anständiges Leben zu führen? Unser Leben ist eine unerträgliche Hölle geworden.“
Ein trauriger, ein zorniger Brief. Ich lese ihn als Anklage, aber auch als Aufruf hinzuschauen. Damit wir uns erinnern: Da war doch noch was mit Umkehr. Und also: Wie würde ein Sendschreiben Jesu uns heute aufrütteln? Vielleicht würde darin geschrieben stehen: "Ja, die Wirtschaft läuft. Der Haushalt ist ausgeglichen. Die Banken sind gerettet. Zugleich leben Millionen Menschen in Armut, innerhalb unserer Stadt, an den Rändern Europas und erst recht in Afrika. Ja, ihr nehmt viele Flüchtlinge auf. Aber dennoch ist all das nichts im Vergleich zu dem, was Länder wie Jordanien oder die Türkei leisten, die nicht Zehntausende, sondern Hunderttausende, Millionen Flüchtlinge aufnehmen. Ja, ihr bekämpft den Terror. Doch zugleich tut ihr immer noch zu wenig für den zivilen Wiederaufbau, bringt als Deutsche, Europäer, Westler immer noch viel zu viele Waffen in Umlauf."
Ich weiß nicht, liebe Gemeinde, ob Sie nicht auch manchmal diese Stimmen hören und diese Schreiben lesen. Sie kommen uns aus den Medien entgegen, Tag für Tag. Die Welt gerät aus dem Lot, mahnen sie. Nicht weiter so!, bitten sie. Wir brauchen eine Politik, die nicht nur Krisen bewältigen, sondern ihre Ursachen verstehen und verändern will. Eine Wirtschaft, die immer mehr dazu bereit ist, das Tabu der „Immer-weiter-so“-Wachstumsgläubigkeit zu brechen. Menschen, gerade doch in unserer Kirche!, die sich trauen, die Wahrheit zu sagen. Denn nichts ist in Zeiten der Kriege und der Krisen so schlimm wie die Lüge und nichts so lähmend wie schnelle Lösungen. Und wir wissen das auch. Und schauen trotzdem nicht genau hin. Mir geht es jedenfalls oft so. Die Not, die Aufgabe ist zu erschütternd. Und die Hoffnungen unseres Glaubens scheinen zu lau angesichts dieser Realitäten.
Unser Predigttext dagegen meldet Protest an, doch zugleich zeigt er auch selbst in dieser härtesten Kritik, nach diesem bitteren Realitätscheck, einen Ausweg auf. "Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei nun eifrig und tue Buße!"
Züchtigen. Buße. Altmodische Worte, die sich erst einmal bedrückend anhören. Wer sein Kind liebt, züchtigt es, auch das steht an anderer Stelle in der Bibel – ein furchtbarer Satz. Doch hier – wer Ohren hat, der höre – ist etwas anderes gemeint. So sei nun eifrig und tue Buße. Denn siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an!, sagt Jesus. Es liegt an uns, ihm unser Herz zu öffnen. Darum geht es: umzukehren, indem wir ihn einkehren lassen in unser Inneres. Denn nicht strafen will er, sondern erquicken. Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, sagt er. Seine Worte sind eine einzige Erlaubnis, offen mit Belastung umzugehen und die Wirklichkeit zu benennen, wie sie wirklich ist.
Es ist in diesem Sinne entlastend, zu büßen und zu beten. Wenn eben Menschen aussprechen können, dass sie nicht zurecht kommen im Moment, dass sie anderen etwas schuldig geblieben sind, immer wieder. Dass sie manchmal gern mehr tun würden mit all ihrem Reichtum oder ihre innere Armut verfluchen. Dass sie ihre Unzulänglichkeit herausbeten und um Kraft bitten. Es ist für so viele entlastend zuzugeben, dass sie Gott nicht verstehen, ja oft mit ihm hadern. Zuzugestehen, dass sie nicht lieben können, den sie lieben sollten. Zu merken, dass die größte Last manchmal die Wahrheit über sich selbst ist. Und wenn es für all das keinen Ort gibt, liebe Gemeinde, werden wir krank. Und das wissen wir auch.
Es ist gerade kein Weg, die Last, die Wahrheit zu verleugnen. In seinen harten Worten nimmt Jesus uns auf einen wirklich erlösenden Weg mit: Einen Moment inne zu halten und zu sagen: „So ist es!“ So ist es mit mir. Meinen Sehnsüchten. Meinen Fehlern. Meinem Hunger. Meinen Ängsten nicht zu genügen. Meinen unerfüllten Träumen. In dem Moment des Zugestehens beginnt die Freiheit. Löst sich der Zwang, perfekt zu sein und ideal. In dem Moment des Zugestehens tut man sich nicht mehr Gewalt an – und anderen auch nicht.
Demut nennt dies das Evangelium. Eine Haltung, die allen gut tun würde. Denn Demut rechnet beständig mit dem Geist, damit, dass Gott mit uns, dass Gott in uns ist. Demut rechnet damit, dass jeder Mensch, der hier sitzt, eine Kraft in sich hat, die Versöhnung wirkt und Friede und Wahrheit. Dass jeder das Gute heiß und innig lieben und das Böse mit seiner Kälte überwinden kann. Protestieren wir also demütigst, liebe Schwestern und Brüder, gegen die Lauheit und sagen: Nicht weiter so! Doch weiter mit ihm, mit Gott. Denn sein Friede ist höher als alles menschliche Vermögen, und er bewahrt unsere Herzen und all unsere Sinne in dem, der liebt. Jetzt und allezeit. Amen