20. April 2013 - Predigt im Rahmen des interreligiösen Gedenkens
20. April 2013
Hab 3,1-6.13.16-19
Der Friede Gottes sei mit uns allen!
Liebe Schwestern und Brüder!
In seinem autobiographischen Werk „Die Nacht“ erzählt Elie Wiesel von einer Freundschaft seiner Jugendzeit. Als Zwölfjähriger im siebenbürgischen Städtchen Sighet hatte er eine besondere Verbindung zum Synagogendiener Mosche. Der hatte ihn einmal beobachtet, wie er in der Abenddämmerung allein in der Synagoge betete:
„Warum weinst du beim Beten“, fragte er, als kenne er mich seit langem. „Ich weiß nicht“, erwiderte ich verstört. Die Frage war mir nie gekommen. Ich weinte, weil . . . weil etwas in mir weinen wollte. Ich konnte nichts dazu sagen.
„Warum betest du?“, fragte er mich eine Weile später.
„Ich weiß es nicht“, antwortete ich noch verwirrter und befangener. „Ich weiß es wirklich nicht.“
Von diesem Tag an sah ich ihn häufig. Er versuchte mir eindringlich zu erklären, dass jede Frage eine Kraft besitzt, welche die Antwort nicht mehr enthält.
„Der Mensch erhebt sich zu Gott durch die Fragen, die er an ihn stellt“, pflegte er immer wieder zu sagen. „Das ist die wahre Zwiesprache. Der Mensch fragt, und Gott antwortet. Aber man versteht seine Antworten nicht. Man kann sie nicht verstehen, denn sie kommen aus dem Grund der Seele und bleiben dort bis zum Tode. Die wahren Antworten, Elieser, findest du nur in dir.“
„Und warum betest du, Moshe?“, fragte ich ihn.
„Ich bete zu Gott, der in mir ist, dass er mir die Kraft gebe, ihm wahre Fragen zu stellen.“ (Zit. nach Hans-Joachim Höhn, Der fremde Gott, S. 102)
Schwestern, Brüder, „wahre Fragen“ zuzulassen und auszuhalten – das kann ein wichtiger Teil unseres heutigen Gedenkens sein. Nicht Alibi-Fragen, die uns das Ringen ersparen, erst recht nicht wohlfeile Antworten sollen es sein. „Die wahren Fragen…steigen aus der Nacht auf, in der Menschen die Erfahrung der Gottes- und Menschenverlassenheit machen müssen – wenn sie leiden an jener Widersprüchlichkeit, dass dieser Gott nicht die Angst, nicht das Leid und nicht den Tod abschafft und dennoch als der lebendige Gott selbst in seiner Entzogenheit die einzige Kraft ist, in der Leiden und Tod ausgehalten werden können.“(Zit. nach Hans-Joachim Höhn, Der fremde Gott, S. 102)
Sara Tuvel Bernstein, nachdem eine Aufseherin ihr die langen Haare brutal abgeschnitten hatte, die gewogt hatten wie ein reifes Weizenfeld und derentwegen Samuel sich in sie verliebt hatte (– wir haben es im ersten „Zeugnis“ gehört –) Sara Bernstein fragte sich: „Wer war ich ohne mein Haar? Wer war sie noch – so ihrer Schönheit, ihrer Würde beraubt?
Auch der Prophet Habakuk ist ein Fragender:
Wie lange schon, Gott, rufe ich um Hilfe? Du aber hörst nicht!
„Verbrechen!“ schreie ich. Du aber hilfst nicht!
Warum aber lässt du mich Unrecht sehen –
Du aber siehst dem Elend unbeteiligt zu?
Barbarei und Gewalt sind vor meinen Augen. (Hab 1,2f)
Zur Zeit Habakuks, ca. 600 Jahre vor Christi Geburt, löste die babylonische Großmacht die Herrschaft der Assyrer ab. Ungerechtigkeit und Gewalt prägten die innen- und außenpolitischen Zustände – Leid, das Menschenhand verursachte. Und doch entließ Habakuk Gott nicht aus seinem Fragen.
Als Antwort erhielt der Prophet eine Vision, die er genau aufschreiben sollte, weil sie erst in späterer Zeit Wirklichkeit werden würde. Es war eine Vision, in der sich Verheißung und Gerichtsansage mischen:
- „Wer gerecht ist, bleibt wegen der eigenen Treue am Leben.“ (Hab 2,4)
- Die Ungerechten werden zugrunde gehen. (Hab 2,9 u. ö.)
Angesichts der Not wollte Habakuk nicht abwarten, sondern Gottes Kommen beschleunigen:
Gott, ich habe gehört, was du gesagt hast
Und fürchte, Gott, was du tust.
In diesen Jahren erweck es zum Leben,
in diesen Jahren lass es sichtbar werden,
in deinem Wüten ruf dir das Erbarmen ins Gedächtnis. (Hab 3,2)
Denn Habakuk war überzeugt:
Du trittst heraus zur Rettung deines Volkes,
um die zu retten, die du gesalbt hast. (Hab 3,13a)
Wie sehr werden sich die Häftlinge in diesem KZ gesehnt haben nach baldiger Rettung – Kinder und Frauen, Roma und Sinti, Menschen jüdischen Glaubens und anderer Religion, Kriegsgefangene, politische Häftlinge. Wie schmerzlich müssen sie Recht und Gerechtigkeit vermisst haben! Manche von ihnen werden gefragt und geklagt haben: „Wie lange noch, Gott?!“
In dieser Frage – „Wie lange noch, Gott?“ – schwingt eine letzte Hoffnung mit: Einmal muss es doch vorbei sein! Wenn schon für manche Menschen Rettung zu spät kommt – einmal muss den Opfern doch Gerechtigkeit widerfahren! Die biblische Vorstellung vom Kommen Gottes zum Gericht hält diese Hoffnung wach: Die Schurken sollen nicht davon kommen. Wo sie irdischen Gerichten entgehen mögen – Gott wird Gerechtigkeit herstellen. Die einzelnen Bilder, die sich im Laufe der Jahrhunderte mit der biblischen Vorstellung eines letzten Gerichts verknüpft haben, mögen fremd, verwirrend, unzugänglich sein – die Hoffnung, die hinter dieser Vorstellung steht, ist unaufgebbar: Den Opfern muss Gerechtigkeit widerfahren!
Vielleicht war es auch diese Hoffnung, die Menschen Kraft gab, auszuhalten und den Weg des Leidens zu gehen. Ich denke zum Beispiel an den Widerständler Helmuth James Graf von Moltke, der einige Zeit hier in Ravensbrück inhaftiert war. Am 10.Janaur 1945, nach seiner Verurteilung zum Tode beschrieb Moltke in seinem Abschiedsbrief, wie ihn die Kraft Gottes durch die Tage des Freisler-Tribunals getragen und unantastbar gemacht hatte. Und dann schrieb er seiner Frau:
„Nur wir zusammen sind ein Mensch. Wir sind, was ich vor Tagen symbolisch schrieb, ein Schöpfungsgedanke. Das ist wahr, buchstäblich wahr. Darum, mein Herz, bin ich auch gewiss, dass Du mich auf dieser Erde nicht verlieren wirst, keinen Augenblick. Und diese Tatsache, die haben wir schließlich auch noch durch unser gemeinsames Abendmahl, das nun mein letztes war, symbolisieren dürfen.
Ich habe ein wenig geweint, eben, nicht traurig, nicht wehmütig, nicht weil ich zurück möchte, nein, sondern vor Dankbarkeit und Erschütterung über diese Dokumentation Gottes. Uns ist es nicht gegeben, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, aber wir müssen sehr erschüttert sein, wenn wir plötzlich erkennen, dass er ein ganzes Leben hindurch am Tage als Wolke und bei Nacht als Feuersäule vor uns hergezogen ist, und dass er uns erlaubt, das plötzlich, in einem Augenblick, zu sehen. Nun kann nichts mehr geschehen.“ (Zit. nach Friedrich Schorlemmer, Was protestantisch ist, Herder 2008, S. 132)
Im Angesicht der Hinrichtung: „Nun kann nichts mehr geschehen.“ Mit den Worten Habakuks gesagt: „Gott, du herrschst über mich; du bist meine Stärke!“ (Hab 3,19a) Solche Haltung beeindruckt mich tief. Sie weiß: In Wahrheit sind wir frei. Selbst der Tod hat nur vorübergehend Macht über uns. Nichts kann uns trennen vom Urgrund allen Lebens. Und doch, all das soll mich nicht jene vergessen lassen, die anders starben – untröstlich, voller Angst, hängend an ihrem ungelebten Leben. Ich will nicht vergessen, die überlebten, aber an diesem Überlebt-haben trugen wie an einem Fluch. Ich will die Fragen der Opfer hören und mittragen – etwa die Fragen von Nelly Sachs, einer der Überlebenden der Shoa:
Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht
mit ihren Worten Wunden reißend
in die Felder der Gewohnheit,
ein weit Entlegenes hereinholend
für den Tagelöhner
der längst nicht mehr wartet am Abend –
Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht
und ein Ohr wie eine Heimat suchten –
Ohr der Menschheit
du nesselverwachsenes,
würdest du hören?
Wenn die Stimme der Propheten
auf dem Flötengebein der ermordeten Kinder
blasen würde,
die vom Märtyrerschrei verbrannten Lüfte
ausatmete –
wenn sie eine Brücke aus verendeten Greisenseufzern
baute –
Ohr der Menschheit
du mit dem kleinen Lauschen beschäftigtes,
würdest du hören?
. . .
Wenn die Propheten aufständen
In der Nacht der Menschheit
Wie Liebende, die das Herz der Geliebten suchen,
Nacht der Menschheit,
würdest du ein Herz zu vergeben haben?
Schwestern, Brüder, es sind Entscheidungsfragen die uns hier gestellt werden: „Würdest du hören?“ „Würdest du ein Herz zu vergeben haben?“ – Normalerweise fordern Entscheidungsfragen ein klares Ja oder Nein. Doch wir spüren, wie schwer hier das Antworten fällt. Skepsis uns Menschen gegenüber ist nur zu berechtigt. Aber das entlässt uns nicht aus der Verantwortung, menschlich zu leben, es mit den Menschen zu wagen. „Ändert euren Sinn, so werdet ihr leben“, sagt Jesus von Nazareth – und drückt damit zugleich aus: Es ist nicht unmöglich, wahrhaftig und menschlich im Sinne Gottes zu leben. Die „wahren Fragen“ zu stellen, ist dazu der Weg.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alles, was wir begreifen können, bewahre unsere Herzen und Sinne. Amen.