21. November 2013 - Gottesdienst zur Eröffnung der 4. Tagung der I. Landessynode der Nordkirche
21. November 2013
Markus 13,31-37
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Schwestern und Brüder,
„Aufwachen! Wachbleiben!“ – das ist die Losung dieser Tage vor dem Ewigkeitssonntag. „Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!“ Mit diesen Worten Jesu endet unser Predigttext. Bei Rumi, einem der großen muslimischen Mystiker, heißt es: „Warum, wenn Gottes Welt doch so groß ist, bist du ausgerechnet in einem Gefängnis eingeschlafen?“
„Wake me up“ – das war der Song dieses Sommers. Einige Textpassagen haben wir vorhin schon – verschränkt mit Psalm 126 – gehört:
„So weck’ mich auf, wenn alles vorüber ist,
wenn ich klüger und älter bin.
Die ganze Zeit war ich dabei, mich selbst zu finden,
und wusste nicht, dass ich verloren war.“
Der Videoclip erzählt die Geschichte eines jungen Mädchens, das mit seinen Träumen seiner Umwelt unverständlich bleibt. Dennoch hält es an seinem Träumen fest, auch wenn die Welt es ihm austreiben will: Lebendig zu bleiben und nicht abzustumpfen! „Wake me up . . .“ Aufwecken woraus – aus Traumlosigkeit oder aus dem Träumen?
Am Ende des Sommers kam der Song zum zweiten Mal in die Charts – mit einem völlig anderen Videoclip: Eine junge Latina versucht mit ihrer gerade geborenen Tochter illegal zurück in die USA zu kommen, wo ihr Mann, der Vater des Kindes auf sie wartet. Aber an der Grenze wird sie verhaftet und zurückgeschickt. Erst Jahre später gelingt der Übertritt. Wieder Jahre später ist die großgewordene Tochter bei einer Demonstration für die Legalisierung der Einwanderer dabei. Auf dem Plakat, das sie den schwer gerüsteten Polizisten entgegenhält, steht: „Wake up and dream again“.
Aufwachen! Wachbleiben! „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden.“
Du bist nur wach, wenn du träumst! Es gibt eine Wachheit der Träumenden – der Frauen und Männer, die sich nicht abfinden mit dem, was ist, die Sinn haben für die unerwachten Möglichkeiten Gottes. Offenbar ist es eine gute Wachheit, den Verheißungen Gottes zu trauen – vom neuen Himmel und der neuen Erde, in denen Vergeblichkeit und Bosheit nicht mehr das Sagen haben, von Kindern, die nicht mehr für einen frühen Tod gezeugt werden. Es ist ein Zeichen erwachsener Wachheit, den Traum vom gerechten Frieden zu träumen und dafür zu arbeiten: Damit die Verhältnisse nicht bleiben, wie sie sind!
Der Bibelabschnitt, den wir heute bedenken, stammt aus der die Endzeitrede Jesu, wie Markus sie uns überliefert hat. Die Vorstellungswelt der jüdischen Apokalyptik hat dabei Pate gestanden. In Bildern geschichtlicher und kosmischer Katastrophen werden die messianischen Wehen der Endzeit geschildert: Himmel und Erde werden vergehen, aber Gott kommt! Gott kommt und macht Leid und Unterdrückung ein Ende! Darum – seid wach und voller Erwartung! Denn ihr wisst nicht, wann er kommt.
Wie steht es um unser Erwarten?
Man muss es ja nicht gleich halten wie Christoph Blumhardt d. Ä.: Er erwartete die Wiederkunft Christi so zuversichtlich, dass bei ihm Tag und Nacht eine Kutsche angespannt stand, in der er Christus am Tag des Herrn entgegen fahren wollte. Unser Erwarten muss ja auch nicht so heftig sein, wie die Naherwartung Bodelschwinghs, der beim Aufbau Bethels den Bauarbeitern zurief: „Nur nicht so gründlich – wir brauchen die Häuser ja nur ein paar Jahre!“ Obwohl – das hätte schon was, wenn unser Landesbischof den Frauen und Männern in Rechtsdezernat und Rechtsausschuss im Blick auf die Arbeit der Rechtsangleichung zuriefe: „Nur nicht so gründlich – wir brauchen die Gesetze ja nur ein paar Jahre!“
Wie steht es um unser Erwarten, unsere Wachheit für das Kommen Gottes?
Die Zeit seines Kommens berechnen zu wollen, ist offenbar nicht hilfreich. Doch wir haben allen Grund, hellwach zu sein für dieses Kommen, das unser Leben verwandeln will. In den Herausforderungen unserer Zeit begegnen wir dem nahen Christus, der sich mit den geringsten unserer Schwestern und Brüder identifiziert hat. Darum frage ich:
- Wie viele Jahrhundertfluten und Megastürme ‚braucht‘ es eigentlich noch, bis wir bereit sind, unseren Lebensstil zu ändern – persönlich wie als Gesellschaft? Natürlich muss Elektrizität auch für Menschen in Armut bezahlbar bleiben. Aber das darf doch nicht den Vorwand dafür liefern, die Energiewende zu verlangsamen oder gar auszubremsen! Endlich hat Deutschland einmal die Chance, die vielbeschworene ‚gewachsene internationale Verantwortung‘ in guter Weise wahrzunehmen – einmal nicht durch Kampfeinsätze, sondern indem es der Welt zeigt, dass ökologisches Wirtschaften zukunftsträchtig und erfolgreich sein kann. Und nun werden wir halbherzig, weil es uns etwas kostet!? Aufgewacht und ernst gemacht mit dem, was einst als richtig erkannt wurde!
- Wie viele ertrinkende Flüchtlinge ‚braucht‘ es eigentlich noch, bis wir als Europäer unseren Umgang mit Flüchtlingen ändern? Geregelte Einwanderung, ein gerechteres Weltwirtschaftssystem, das die Lebenschancen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verbessert, eine Abkehr von Dublin II – all das wird uns eine Menge abverlangen, gewiss. Aber dieser Weg wird helfen, uns vom Fluch unserer Schuld als Mitbewohner der ‚Festung Europa‘ zu befreien. Darum – wachbleiben! Tun, was in unserer Macht steht, dass die Verhältnisse nicht bleiben, wie sie sind!
Herausforderungen für unsere Gesellschaft, in denen es auch um den Christus geht. Wie aber steht es um unsere Wachheit für das Kommen Gottes im Blick auf unsere Kirche selbst?
- Diese Synodentagung wird sich mit Haushaltsfragen beschäftigen. Zu Recht wenden wir Zeit und Energie dafür auf. Denn es ist anvertrautes Geld. Es soll helfen, den Auftrag der Kirche zu erfüllen. Damit dies gelingen kann, wünsche ich unseren kirchenleitenden Organen künftig mehr Zeit und Raum, eine andere Dimension guter Haushalterschaft wahrzunehmen – nämlich „Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse“ zu sein, wie es in 1.Korinther 4 heißt. Ich fürchte, dafür braucht es deutlich mehr als ein paar thematische Einheiten in Kirchenleitung oder Landessynode. Es braucht eine neue Besinnung auf die Bibel in unserer ganzen Kirche! Eigentlich doch verrückt: Die Reformation erlangte ihre Strahlkraft auch dadurch, dass jeder Mensch die Bibel lesen konnte und ihm von den Reformatoren zugleich zugetraut wurde, das Gelesene auch verstehen zu können. Heute, so scheint es, haben wir als ‚Kirche des Wortes‘ die Bibel irgendwie so ‚hochgehalten‘, dass viele das Gefühl haben, da nicht mehr heranzukommen – als müsse man studiert haben, damit die Schrift einem etwas sagen könne . . . „Himmel und Erde werden vergehen“, sagt Jesus, „aber meine Worte werden nicht vergehen“. Also, wach sein für „Gottes Geheimnisse“, wie sie uns der Schrift begegnen, neu entdecken, wie sie uns ausrichten können. . .
- In Mecklenburg gibt es eine Kirchengemeinde, die beschlossen hat, ein Sabbatjahr zu machen. Nicht der Pastor, sondern die Gemeinde! Das ‚Veranstaltungskarussell‘ dieser überaus aktiven Gemeinde wird heruntergefahren. Zeit für Besinnung und Gebet soll sein. Die Gemeinde möchte neu verstehen, worauf es ankommt, was wirklich gebraucht wird und trägt. Ich bin sehr gespannt auf den Verlauf dieses Experiments. Es erscheint mir verheißungsvoll. Denn auch in unserer Kirche finden wir, was als „Zustand überdrehter Erstarrung“ beschrieben wurde: Aufgaben, Herausforderungen, aber auch Chancen treiben das Hamsterrad unserer Aktivitäten immer schneller an – bis man eines Tages atemlos und entgeistert feststellt, dass man sich nur im Kreis gedreht hat. Dagegen hilft, was sich auch in früheren Zeiten schon bewährte: Unterbrechen, Aussteigen auf Zeit, um wieder empfänglich, um wieder lebendig zu werden. . .
„Warum, wenn Gottes Welt doch so groß ist, bist du ausgerechnet in einem Gefängnis eingeschlafen?“ Rumis Frage erinnert uns daran, dass es in den Herausforderungen für Gesellschaft und Kirche notwendig um Befreiung geht –mit einer existentiellen, sehr persönlichen Dimension: „Frei“ wird man, um mit Bonhoeffer zu reden, „wenn man ganz darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen . . . dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst . . . und so wird man ein Mensch . . .“
Das Leiden Gottes in der Welt ernst nehmen, – um diese Wachheit geht es! Das eigene Ego entmachten, diesen „besten Garanten des Gefängnisses, in dem wir eingeschlafen sind“, wie Dorothee Sölle sagt. Sich verlassen, sich auf Gott hin verlassen und sich ihm ganz und gar anvertrauen, ja in die Arme werfen – „so wird man ein Mensch . . .“ Wir Menschen suchen verzweifelt, zu uns selbst zu kommen – und gewinnen unser Leben doch gerade in der Hingabe. In der Erfahrung der Einheit allen Lebens ist das erlebbar. Mystiker aller Konfessionen und verschiedenster Religionen haben dies in frappierender Übereinstimmung beschrieben. Alles Leben ist miteinander verbunden. Es gibt kein „Ich“, das davon getrennt Erfüllung und Glück finden könnte.
„Die ganze Zeit war ich dabei, mich selbst zu finden;
und ich wusste nicht, dass ich verloren war.“
In den Augen Jesu sind Selbstlosigkeit, Besitzlosigkeit, Gewaltlosigkeit Wege, die aus dem Gefängnis befreien. Gottesliebe und Liebe zu Gott haben die Riegel des Gefängnisses schon gelöst. Darum: Aufwachen! Wachbleiben! „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wirdso werden wir sein wie die Träumenden.“
Wie gut, dabei zu wissen, dass die Erschöpften schlafen dürfen – wie der ausgebrannte Elia in der Wüste unter dem Wacholder! Es ist keine Durchhalteparole, wenn wir einander weitersagen: Gott ist im Kommen und verwandelt unser Leben. Das gilt für das junge Mädchen in seinem Traum von bleibender Lebendigkeit, für die illegalen Einwanderer in Nordamerika und Europa, für uns selbst, die wir Verantwortung in unserer Kirche tragen. Uns allen erwächst aus der Glückserfahrung der Nähe Gottes die Kraft, wach zu sein für seine Hoffnungen.
Amen.