Gottesdienst am Tag der Kriminalitätsopfer -Hauptkirche St. Jacobi in Hamburg

22. März 2012 - Den Opfern eine Stimme geben – Zeichen setzen für das Leben!

22. März 2012

Liebe Gemeinde!
Immer wieder ist es so dunkel in mir, sagen die Stimmen der Opfer, die wir eben gehört haben. Immer wieder überfällt mich ein Schatten der Angst. Unerwartet. Heimtückisch. Wie die Tat selbst. Man muss lernen, gerade nicht die Augen davor zu verschließen, was das Leben schlagartig verdunkelt hat, sagen sie. Muss lernen hinzuschauen. Gewahr werden, dass der Täter schuldig an mir geworden ist, nicht etwa ich. Hinschauen, denn ich will doch auch heraus aus der Dunkelheit. Ich bin ein Mensch, der leben möchte und sich über Kleinigkeiten ärgert und über Schönheiten freut. Ich möchte nicht blind werden für das, was das Leben alles für mich bereithält.


Und da war ein Blindgewordener mit Namen Bartimäus.
36 Als der aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre.
37 Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei.
38 Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
39 Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
40 Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn:
41 Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann.
42 Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen.
43 Und sogleich wurde er sehend und folge ihm nach und pries Gott
(Markus 8/ Lukas 18, 36ff)


Erbarme dich, jammert Bartimäus. Schau mich an, Jesus, es ist so dunkel in mir. Ich sehe nichts und stehe vor dem Nichts. Ich kann nichts und niemandem mehr vertrauen. Wozu soll ein Mensch da noch aufstehen wollen, wofür, wohin? Obwohl um Bartimäus jede Menge Menschen herum lärmen und toben – ja ihn ärgerlich anfahren, er möge endlich den Mund halten und endlich aufhören mit den alten Geschichten, irgendwann muss es doch einmal gut sein – und während sie so über ihn hinweggehen, hört Jesus hin. Und es jammert ihn wirklich. Es berührt ihn bis in die Eingeweide, heißt es an anderer Stelle.
Hinhören. Berührtsein. Darum geht es. Denn die Blindheit, mit der ein Mensch geschlagen wurde, ist eben nicht nur seine Sache. Gewalt ist nicht allein das Thema der anderen. Im Gegenteil: Es ist viel näher, als wir glauben. Deshalb müssen wir viel mehr in unserer Gesellschaft lernen mit allen Sinnen, mit dem Herzen „hinzuhören“. Auf die stummen Signale kindlicher Angst. Auf die große Sonnenbrille, wenn gerade keine Sonne scheint. Auf die Drangsal hinter der Gardine bürgerlicher Wohlanständigkeit. Wo jemand geschlagen ist und immer wieder wird, sind wir mittendrin.


Gewalt geschieht häufiger als wir denken. Ja, auch zwischen lauter lärmenden Menschen. Inmitten normalen Alltags. In der U-Bahn. Auf dem Jungfernstieg. Und viel zu oft greift keiner ein. Wir leben eine Kultur gesellschaftlicher Blindheit. Lieber wegschauen, schnell, schnell auf die andere Straßenseite. Wegschauen, weil es zutiefst ängstigt, wenn man mit ungehemmter Aggression zu tun bekommt. Gewalt lässt einen zurück schrecken, weil sie selbst ein einziger Schreck ist. Mich beeindruckt, wie die Mutter, die ihre Tochter durch Mord verloren hat, eigentlich kaum noch etwas schreckt. Die größte Dunkelheit ihres Lebens hat sie erlebt. Und überlebt. Ihrer Traurigkeit ist eine unerschütterliche Courage erwachsen. Und sie schlägt uns vor, gemeinsam Gewalt zu verhindern. Auf den Plätzen unseres Alltags. In der U-Bahn etwa. Sich mit diesem `C´ (wird geformt mit Daumen und Zeigefinger) leise zu verständigen, einzugreifen, schnell, rechtzeitig, ein C für gemeinsames Handeln, ein C wie Christus, der hinhört. Ein C wie Mutter Courage.


Ein Zeichen setzen gegen die Blindheit. Ein C auch hier und jetzt als Zeichen, dass man versuchen will hinzuhören – und zu verstehen. Denn dies ist ja gar nicht so einfach. Die Qual eines geschlagenen Menschen zu sehen, macht Angst. Und so schützt sich die Seele, indem sie nicht sieht, was nicht sein darf.
 
Und Bartimäus schrie noch lauter …


Herr erbarme dich – er ruft nicht nur, er schreit. Denn hier ist seine Chance, dass sich endlich sein Leben ändert. Das spürt er genau, obwohl er nichts sieht. Und so schreit er, was längst schon heraus musste - ungeachtet der Leute, die nicht gestört werden und ihn ungehalten zum Schweigen bringen wollen. Er schreit seine Not heraus, jenseits aller Scham, anderen lästig zu sein. Mit aller Kraft. Die Zeit der Höflichkeiten ist für die, denen es dreckig geht, vorbei. Kyrie eleison, Hilfe, schreit er – um Himmels willen, erbarme dich! Denn er weiß: Wenn etwas mich rettet, dann das Erbarmen: Hilf mir und sieh mich an, dass ich – endlich! - angesehen bin.


Sieh mich an.
Mit dem Elend, mit der Wut auf den Täter, mit meiner Rachlust, meiner Traurigkeit, der Verbitterung. Und Jesus spricht zu dem, der ihn in seinem Elend anrührt: Was willst du, dass ich dir tu? -
Jesus fragt. Er belehrt nicht. Er versetzt sich hinein. Kein Leiden ist so ohne Weiteres zu verstehen. Wer wüsste das besser als Sie vom Weißen Ring. Und also: Was willst du, dass ich dir tu? Was brauchst du – wirklich? Was hilft dir, aus dem Elend herauszukommen - besinn dich!


Diese Frage: Was willst du, dass ich dir tu? wirft uns auf uns selbst zurück. Auf unseren Rest an Vertrauen. Auf unsere Lust zu leben. Auf unsere Kraft, dem Schatten in der Seele zu trotzen und ein Licht anzuzünden – wie jetzt gleich. Sonst hätte der Tod, sonst hätte manch Täter noch einmal gewonnen.
Was willst du, dass ich dir tu? – Jesus wartet auf Antwort und setzt damit die Opfer, die Betroffenen ins Recht, Subjekt und nicht Objekt der Hilfe zu sein. Er wartet auf Antwort und gibt ihm die Möglichkeit, würdig zu sein und nicht bedürftig.


Was willst du, dass ich dir tu? Und der Blinde antwortete: Herr, dass ich sehen kann.
Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Vertrauen hat dir geholfen.

Und Jesus spricht zu uns: Sei sehend. Sieh hin, wie das Leben wirklich ist. Worunter du leidest. Wovor du Angst hast und du es deshalb nicht genau anschauen oder hören magst. Sei sehend – und sieh dabei auch, dass es Menschen gibt, die dich lieben. Denen du vertrauen kannst. Die mit dir lachen wollen und leben. Die deine Stimme hören wollen, weil sie dir glauben.


Hebe den Blick und sieh hin - Um dich zu lösen von dem, was in einem wütet und hasst. Wer den Blick hebt, hebt auch sich selbst, macht sich gerade und sieht auf einmal, dass etwas vor einem liegt und nicht allein hinter einem.


So ist es dem Blinden gegangen. Weil er liebte, weil er auch sich und sein Leben liebte, klagte er laut. Noch und noch. So lang, bis die Gebrochenheit heraus war. Und auf einmal gibt´s ein Aufatmen und Ruhigwerden, Sinn und mag sein, gar Frühlingserwachen. Gebe Gott, der Mitleidende, der uns vom allen Anfang an so zärtlich in die Welt geworfen, dass wir einander beistehen und Zeichen setzen für das Ja zum Leben. Denn sein Ja ist das erste und das letzte Wort. C – So soll es sein, oder: Amen

Datum
22.03.2012
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