22. September 2013 - Festgottesdienst zu den Kirchenjubiläen 625 Jahre Kreuzkirche und 100 Jahre St. Raphael
22. September 2013
Matthäus 15,21-28
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei in uns lebendig. Amen
Liebe Festgemeinde!
Was für ein schöner Tag! Septembermilde, Altweibersommer, Kinderlachen, vergnügte Menschen, wunderbare Musik– ich bin dankbar, hier bei Ihnen in Kirchdorf zu sein und den 625. Geburtstag dieser „alten Dame“ sowie 100 Jahre St. Raphael mitfeiern zu dürfen!
Die Tatsache, dass ich innerhalb der letzten fünf Monate viermal in Wilhelmsburg war, spricht für meine Neigung zu diesem Ort. Denn hier ist die Kirche im Dorf, und das mitten in der Stadt. Ich habe selten so eindrücklich erlebt wie hier, dass sich Dorf und Stadt, dass das Alt-Gewachsene sich mit Neubaugebiet, dass sich Kirche und Stadtteil, Tradition und Moderne auf so engem Raum befinden, munter mischen, austauschen – und dann womöglich auch noch vertragen. Die liebevoll gehegte Wilhelmsburger Landschaft begibt sich mit 80 Gärten der igs um die Welt – und das ist gut so!
Denn hier in diesem Stadtteil lebt die Fähigkeit, Brücken zu bauen – und sei es über die Wilhelmsburger Reichsstraße hinweg. Hier galt es immer schon Kulturen zusammen zu bringen. Und Sprachen. Ideen. Religionen. Auch wenn es manchmal mühevoll ist.
Diese Munterkeit, weil man gelernt hat, den Unterschied zu lieben, anstatt ihn zu befürchten – diese Munterkeit prägt auch diese Gemeinde. Schon als ich das erste Mal hier war, habe ich empfunden: hier lässt es sich aushalten. Miteinander, mit den Unterschieden. Aber auch mit sich selbst, samt den Traurigkeiten, Fragen, dem seligem Glück, all den Widersprüchen halt. Hier lässt es sich aushalten, dass es manchmal Fremdheiten untereinander gibt. Weil wir jeweils anderes denken, meinen, glauben, anderes erwarten, fragen, lieben. Ein Ort wie dieser hält das aus und zusammen, denn wir haben eine Mitte, die uns Heimat gibt: und das ist Christus. Er, der die Versöhnung lebt – er ist das Zentrum der Geschichte Gottes mit uns.
Diese alte Kreuzkirche erzählt davon. Sie atmet den einigenden Geist. Und darin den Geist derer, die vor vielen Jahren und Jahrhunderten diese Mauern bauten, Kunstwerke schufen, Choräle sangen. Oder Messen. Seit inzwischen 25 Generationen. Ich höre im Geiste die Worte, die hier gesprochen wurden, auf Latein, auf Plattdeutsch, auf Hochdeutsch. Was alles mag die Menschen, die hierher kamen, bewegt haben durch bewegte Zeiten hindurch: die Freude über die glückliche Geburt und die Liebe des Lebens, aber auch Kriegstoben, Schuld, Zweifel, Sterbensangst. All das, was Menschen auch heute in Kirchen gehen lässt, um sich anzuvertrauen. Weil man manchmal keine Worte mehr findet, sondern nur noch ein Licht braucht oder ein Gebet. Und mir geht hier in dieser feinen alten Kirche das Wort eines klugen Menschen durch den Sinn, der sagte: Kirchen sind durchbetete Räume.
Und das hat etwas sehr Anrührendes. Es rührt mich diese Kirche an, in der all diese Erinnerungen und Gefühle gespeichert sind wie die Wärme in einer Ofenkachel. Und so hält das Vergangene auch die Gemeinde der Zukunft zusammen: Alt und Jung. Bewährt und innovativ. Die Vermögenden und nicht so Vermögenden. Denn hier ist Wärme auch in der Kälte sozialer Ungerechtigkeit. Hier ist das hinreißende Friedensgebet inmitten von Fremdenhass und einer brennenden Welt. Hier ist Ruhe und Klarheit, um Kraft zu schöpfen für die Veränderung.- Denn das ist ja unser Glaube: dass wir eben nicht aushalten, was nicht stimmt. Sondern dass wir in unserer Welt der Liebe zum Leben verhelfen. Versöhnend. Würdigend. Kraftvoll. In Jesu Namen Amen.
Der Jesus in unserer Predigtgeschichte ist das alles erst einmal gar nicht. Vielmehr zurückgezogen. Müde. Er will seine Ruhe haben. Und fühlt sich dermaßen gestört! Von dieser Fremden da, der Kanaanäerin. Sie gehört nicht zum Volk Israel, und sie soll ihn nicht anrühren! Das ist nicht seine „Baustelle“. Merkt sie das denn nicht?! Doch sie lässt nicht locker. Sie bettelt. Weint. Ringt um seine Zuwendung. Denn für sie geht es um Leben und Tod. Sie stört ihn, weil sie keine andere Chance hat. Und dann dieser Satz von Jesus! „Es ist nicht recht, dass man den (eigenen) Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor (euch) Hunde.“
Mich hat diese Unversöhnlichkeit Jesu immer befremdet. Weil die Frau – gleich woher sie nun kommt – doch nur eines sucht: Zuflucht mit ihrer Not. Die Tochter ist so krank. Und, ich denke an die Menschen, die hier Zuflucht suchten und die vielleicht ganz ähnlich flehten: das Kind ist so krank, die Schuld so groß, die Ernte so schlecht, der Krieg so vernichtend, die große Flut so entsetzlich. Ganz konkret – gerade auch 1962 – Herr, erbarme dich!
Zuflucht in der Kirche suchen heute viele. Viele, die fremd sind und keine andere Chance haben als zu stören. Kürzlich war ich in St. Pauli. 80 Afrikaner haben dort einen Schutzraum gefunden, eine kleine Heimat. Sie, die in winzigen Booten übers Meer flüchteten, legen jeden Abend ihre Schlafsäcke auf den Kirchenboden, der aus uralten Schiffsplanken besteht. So verweben sich Schicksale und Zeiten. Und Menschen aller Couleur verbinden sich. Es ist hinreißend zu erleben, wie Menschen den alten Räumen neues Leben geben. Weil sie sich berühren lassen. Ob hier in Kirchdorf oder dort in St. Pauli: das Rentnerehepaar, der Türsteher, die Jugendliche – sie geben, was sie können: Zeit, Aufmerksamkeit, Geduld, Geld. Sie kochen, waschen, verteilen Zahnbürsten, geben Deutschunterricht. Es ist, als hätten viele einen vielleicht nie gehörten Satz verinnerlicht: Was ihr einem meiner geringsten Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan.
Hörst du deinen Satz, Jesus, scheint auch die Kanaanänerin zu flüstern. Und lässt sich nicht abspeisen. Gerade nicht von ihm, dessen Name ja gleichermaßen Flüchtling heißt wie Friedefürst. Ihr Glaube ist groß! Und so hält sie unerschrocken gegen. Verletzt und doch so klar. „Ja, Herr. Doch fressen wir Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“
Jesus hält inne. Er wendet sich ihr zu. Endlich. Er sieht sie an. Du hast Recht, sagt er. Deine Not ist unsere Not. Dein Glaube hat nicht nur dir geholfen, sondern auch mir.
Der Gottessohn und Friedefürst denkt um! Was für eine Geschichte. Eine mit einer schönen Moral. Und die heißt: Das einzige, was wir manchmal gegen die Traurigkeit der Welt tun können, ist: zu lernen. Ist: die Sichtweise zu verändern. Diese Geschichte ist eine einzige Ermutigung zur Ehrlichkeit – und die ist heutzutage wichtiger denn je! Denn sie lässt mich zugestehen, dass ich so vieles nicht wissen mag. Dass ich müde geworden bin hinzuschauen. Weil es zu viel ist, zu fremd. Doch die Fremde lässt sich nicht zurückdrängen. Sie bleibt vor mir stehen mitsamt ihrer Not. Und sagt: du hast sehr wohl die Wahl. Heute besonders! Und dann gibt es diesen einen heilsamen Moment, da wird das Herz berührt, weil man etwas versteht. Von sich und der anderen. Und es ist dieses Angerührtsein, das uns dazu bringt, umzudenken. Das uns auch dazu bewegt unsere eigene Geschichte neu und anders fortzuschreiben.
Die Gemeinde Jesu Christi ist ein Lernort gegen die Traurigkeit. In der Welt. Und hier in Kirchdorf. Sie ist ein Lernort, der die Wandlungen begleitet. Auch hier ist doch immer wieder Neues entstanden, in den Wechseln der Geschichte. Es sind ja zwei Jubiläen, die wir heute feiern. Die alte Kreuzkirche stand schon über ein halbes Jahrtausend, als die Eisenbahn gebaut wurde, ein Bahnhof, um den Bahnhof herum neue Häuser mit anderen Menschen, mit Fremden, mit Zugezogenen. Eine neue Kirche, ein neuer Lernort wurde gebaut. Genannt nach eben jenem Engel Raphael, der doch von alters her all die schützt, die auf Reisen sind. Die pilgern – mag sein auch von einer Gedankenwelt in die andere. Und kaum blühte das Neue, kam die Zerstörung, heraufgerufen durch böse Geister, die doch nur die irrenden Geister der Menschen selbst waren. Ein böser Geist plagt sie, fleht die Frau. Herr erbarme dich!
Die Raphaelskirche, wurde wieder eine Zuflucht, für die Entwurzelten, die Ausgebombten, die Verwundeten an Leib und Seele, die Flüchtlinge. Aber auch für die, die ihr Glück fanden und die Liebe ihres Lebens. In allen Veränderungen bleibt die Sehnsucht nach der Berührung. Nach einem Ort , an dem diese Berührung Wirklichkeit wird. Einem Ort, an dem die Veränderungen keine Angst machen, sondern an dem sie als Lebenszeichen Gottes verstanden werden.
Ich bin Gott so dankbar für Euch und Sie, dass Sie Gottes Lebenszeichen wahr werden lassen! Dass Sie weiterhin füreinander beten in diesem durchbeteten Raum. Ich bin dankbar, dass hier weiterhin Kinder lernen, Toleranz und Demokratie zu buchstabieren – in allen Sprachen. Dass hier die Kirche im Dorf bleibt, Lernort gegen die Traurigkeit – nein: für die Freude. Denn dafür ist Christus in die Welt gekommen, um mitten unter uns zu sein. Heute und mindestens die nächsten 625 Jahre!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen