23. August 2012 - Eröffnungsvortrag der Evangelischen Akademie Alstertal

23. August 2012 - "Kirche und Welt. Eine spannende Beziehung"

23. August 2012 von Kirsten Fehrs

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

herzlichen Dank für die Einladung, den Eröffnungsvortrag für die „Evangelische Akademie im Alstertal“ halten zu dürfen! Ich freue mich, Ihnen zu begegnen und mit dieser Gründung Grund zu haben, über ein mir sehr nahe liegendes Thema wieder einmal reden zu dürfen: über Erwachsenenbildung. Genauer: regionale Bildungsarbeit mit Erwachsenen, die durch die Zusammenarbeit mehrerer Gemeinden entsteht. Eine Initiative, bei der offenbar die Menschen, die daran mitwirken, selbst das Programm sind. Heißt: aus dem, was die Menschen berührt, was ihnen an Glaubensfragen nachgeht und sie nicht in Ruhe lässt, was sie biographisch trifft und politisch aufwühlt – all das bildet letztlich den Stoff, aus dem eine Gemeindeakademie gewebt ist . Und ich beglückwünsche Sie zu der Ihren. Chapeau, dass Sie alle hier sich zusammen geschlossen haben, um diese neue Bildungsinstitution aus der Taufe zu heben!

Stellvertretend danke ich an dieser Stelle den hauptamtlich Verantwortlichen, den Pastorinnen Ute Ehlert-In und Gundula Döring, wissend, dass sich bei solchen Initiativen immer viele auf den Weg machen, Ehrenamtliche und Hauptamtliche im Verbund. Und es ist ein wenig wie nach Hause kommen, liebe Ute, ist doch regionale Bildungsarbeit unser gemeinsames Thema von Rendsburg her.

„Die Evangelische Akademie im Alstertal“ - so beschreiben Sie es selbst – „will mit ihren Veranstaltungen eine Brücke bauen zwischen Kirche und Gesellschaft, Glaube und aktuellem Zeitgeschehen. In den Veranstaltungen soll Raum und Zeit sein, komplexe Themen zu bedenken, zu diskutieren und zu einem tieferen Verständnis zu gelangen. […] Die Akademie wird von den Kirchengemeinden im Alstertal gemeinsam verantwortet...“

In diesen programmatischen Sätzen finde ich gleich Mehreres ganz wunderbar und unterstützenswert. Zum einen ist diese „Akademie“ ein überaus gelungenes Beispiel für die Kooperation zwischen mehreren Gemeinden, wie sie hier in der Region ja schon eine gute und bewährte Tradition hat. Zum anderen beschreiben Sie Ihre Aufgabe als ein Herstellen von Beziehungen, als Verknüpfen von verschiedenen Bereichen. Sie wollen Welten miteinander verbinden. Die der Stadt mit der der Religion zum Beispiel. Das passt ins historische Bild, war doch schon im vierten vorchristlichen Jahrhundert der Heilige Hain „Akademos“ der Ort der allerersten, nämlich Platonischen Akademie, nahe bei Athen. Akademiearbeit, gerade eben in der Stadt, befand sich also schon immer auf der Brücke, im Dialog zwischen Religion und Welt – und so komme ich, voilà, zum Thema meines Vortrags, das Sie mir nahe gelegt haben: „Kirche und Welt. Eine spannende Beziehung“.

Erlauben Sie mir dazu einleitend eine kleine Grundsatzmeditation:

Kirche und Welt stehen seit den Anfängen des Christentums in einer doppelten Bewegung: Die Kirche (nach einer Formulierung von Edmund Schlink) ist sowohl das „aus der Welt herausgerufene Gottesvolk“ als auch das „in die Welt hinein gesandte“. Herausgerufen ist die Gemeinschaft der Glaubenden aus einer von Gott zunächst abgewandten Welt. Denn in Jesus Christus „haben sie einen neuen Ursprung erhalten, der nicht von dieser Welt ist und der sie unterwegs sein lässt zur Vollendung des Reiches Gottes“. Das ist das eine. Zum anderen gilt aber ebenso, dass die Kirche in die Welt hineingesandt ist. „Denn die Hoffnung auf das Kommen des Reiches Gottes zielt gerade auf die Welt. Sie ist es, die mit Gott versöhnt, geeint und von seiner Liebe erfasst werden soll“ (W. Christe: Kirche und Welt, Frankfurt/M. 1996, S. 1f).

Beide gegenläufigen Bewegungen gehören nicht nur untrennbar zusammen, sondern bedingen sich auch gegenseitig: „Nur dann wirkt die Kirche in die Welt befreiend und heilend hinein, wenn sie sich immer wieder aus ihr herausrufen lässt zu ihrem Ursprung, und nur dann bleibt sie die von den Bindungen der Welt Befreite, wenn sie sich senden lässt zum Dienst an der Welt“ (E. Schlink, Ökumenische Dogmatik, S. 571, zit. nach W. Christe, a.a.O.).

1. Kirche und Welt im Wandel der Zeiten

Zur groben Orientierung über diese offenbar sehr grundlegende und allgemeine Beziehung scheint es geraten, einen kurzen Blick in die Geschichte zu werfen. Denn da kann man – wiederum sehr grob und holzschnittartig – schon einmal drei grundsätzliche Formen der Verhältnisbestimmung feststellen:

a) In der Antike fallen Kirche und Welt programmatisch auseinander. „Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist“ (Mk 12,17) , ja:„Stellt euch nicht dieser Welt gleich“ (Röm 12,2) – Solche Aussagen im Neuen Testament bringen zum Ausdruck, dass es in den Anfängen des Christentums offenbar überlebenswichtig war, sich strikt vom religiösen und gesellschaftlichen Kontext zu unterscheiden. Dem entstehenden Christentum ging es darum, sich von der „Welt“ prinzipiell abzugrenzen, deren „Wesen vergeht“ (1 Kor 7,31). Aufs Ganze gesehen hat diese Abgrenzung bis zur Konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert angedauert.

b) Das Mittelalter gilt als die Epoche der grundsätzlichen Übereinstimmung von Kirche und Welt: Die Frage „wie kommen wir zum Heil und zum ewigen Leben“ und die Frage „wie können wir als menschliche Gemeinschaft im irdischen Leben existieren?“ waren durch die gemeinsame Antwort verbunden: durch den christlichen Glauben in der Zugehörigkeit zur Kirche; er garantiert uns beides. Allerdings ist auch schon im Mittelalter die Auflösung dieser fundamentalen Einheit angelegt: die fortschreitende Verselbständigung des weltlichen Lebens in Wirtschaft, Wissenschaft und weltliches Recht bereitete die Trennung vor: Die Kirche wurde deutlicher nur noch für das ewige Leben zuständig, während das irdische Leben durch Recht und Obrigkeit verwaltet wurde.

c) In der Neuzeit schließlich sind die Verhältnisse – wie so oft – unübersichtlicher geworden: das Christentum und die Welt haben sich gründlich ausdifferenziert: Das Christentum geht nicht mehr einfach nur in seiner kirchlichen Prägung auf, sondern erscheint in dreifacher Gestalt, nämlich

·  als kirchliches Christentum im Leben der Gemeinden und im Handeln der kirchlichen Institutionen,

·   als individualisiertes Christentum, das in den unterschiedlichsten Gestalten privater Frömmigkeit anzutreffen ist – sei es die innere Einkehr in der Stille im Ansverushaus oder der Gang durch die Nacht der Kirchen oder das Tischgebet in der Familie. Ein schönes Beispiel für Alltagsfrömmigkeit beschrieb bei einem Gespräch der Theologe Wilhelm Gräb: „Also, dass ich morgen, auch wenn mir überhaupt nicht danach sein wird, trotzdem froh und munter aus dem Bett springe und an mein Tagwerk gehe, ist für mich eine Tat des Glaubens.“ („Christentum kontrovers. Wie weiter mit Gott? Eine Diskussion zwischen Wilhelm Gräb und Herbert Schnädelbach, moderiert von Jörg Herrmann“, in: Tà katoptrizómena. Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik, hg. von A. Mertin, J. Herrmann, H. Schwebel - www.theomag.de/67/hgs2.htm)

·   als öffentliches Christentum in vielfältigen kulturellen Zusammenhängen – schauen wir auf eine Stadt wie Hamburg. Öffentliches Christentum ist (– wenn auch abnehmend, dazu komme ich nachher - ) als christliches Traditionsgut präsent in der Sprache, in der Musik und im Stadtbild. Was wäre die Stadt ohne ihre Kirchtürme, die auf eben jene transzendente Größe im Leben verweisen! Öffentliches Christentum markiert auf ihre Weise die Gültigkeit bestimmter Werte wie Nächstenliebe, Toleranz, Ehrfurcht vor der Schöpfung , Schutz des Lebens und deshalb auch Schutz des Sonntags. Und in all dem sind wir Erwartungs- und bisweilen Projektionsfläche. Kirche soll es richten: Sie soll Rituale zur Bewältigung von kollektiv empfundener Trauer und Glück ausüben, gesellschaftlich relevant reden, wie eine Wächterin grundlegende Werte hochhalten und sie soll bei all dem möglichst nicht politisch sein - für das öffentliche Christentum, mit Verlaub gerade auch für eine Akademie, eine Quadratur des Kreises.

Evangelische Bildungsarbeit nun verortet sich vor allem in dieser drittgenannten Gestalt neuzeitlicher christlicher Wesensart. Mit dem öffentlichen Christentum ist die Welt ihrerseits ein Ort des Christlichen geworden: Kirche und Welt sind nicht von vorn herein unterscheidbare Größen, sondern zwei auf komplexe Weise ineinander verschränkte Aspekte der durch das Christentum geprägten Kultur und Geschichte. Man kann sie gar nicht mehr so ohne weiteres trennscharf gegenüberstellen, weil beide Themen und Motive des jeweils anderen aufgenommen haben.

Diese Einleitung zum „spannenden“ Verhältnis von Kirche und Welt geht nun bewusst, ich gebe es zu, auf die Sicht der theologischen Disziplin der Dogmatik zurück. Doch erschrecken Sie nicht: Auch wenn einen Begriffe wie Disziplin und Dogmatik Erstarrung, Unbeweglichkeit und Weltfremdheit assoziieren lassen, geht es gerade nicht darum, etwas weltfremd Theoretisches in Stein zu meißeln. Im Gegenteil: Evangelische Bildungsarbeit – allzumal an einem besonderen Ort der Akademie – will das sprachfähig zu machen, was weltbezogen in der gelebten Realität in dieser Stadt wahr zu nehmen ist. Und sie will gleichzeitig darüber hinaus weisen – als Kirche eben, die herausgerufen ist, in dieser Welt zu sein. Sichtbar. Hilfreich. Deutend. Mitunter störend. Immer aber im Gespräch. Mit einer Sprache des Herzens, die aufnimmt, was die Menschen heute wirklich bewegt. Mit einer Sprache auch, die die erreicht, die nicht mehr viel wissen von unserer Tradition. Nur so ist Kirche in der Welt: Indem sie ausschließlich in der Verschränkung mit der Welt das Eigentliche des Lebens, auch des Glaubenslebens zur Sprache bringt. Und das ist, wenn es gelingt, tatsächlich spannend, auch spannungsvoll, allemal lebendig – und: heiter – wie folgender Witz es pointiert:

Ein Busfahrer und ein Pfarrer stehen vor dem Himmelstor. Petrus lässt den Busfahrer direkt ein, der Pfarrer muss draußen bleiben. Entsetzt beschwert sich der Pfarrer: „Ich habe jeden Sonntag für die Leute gepredigt und nun komme ich in die Hölle und dieser Busfahrer kommt in den Himmel! Was soll denn das?“ Antwort: „Ganz einfach: Wenn du gepredigt hast, haben alle geschlafen, aber wenn er gefahren ist, haben alle angefangen zu beten.“

Ernst beiseite: Welche Funktion und Bedeutung kann vor diesem Hintergrund eine Evangelische Akademie haben?

2. „Auf der Grenze“: Akademiearbeit als Bildungsarbeit

Sie hat ihren Ort offenbar auf der Grenze. Das Bild vom „Brücken bauen“, das Sie für ihre Evangelische Akademie gewählt haben, weist ja in die gleiche Richtung.

Die Grenze ist, nach einem berühmten Diktum von Paul Tillich „der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis“ (Auf der Grenze, Stuttgart 1962, S. 9). Mit diesem Satz hat der berühmte Theologe und Philosoph des 20. Jahrhunderts seine eigene Lebenserfahrung zusammengefasst. Und weiter führt er aus: „Das Dasein auf der Grenze, die Grenzsituation, ist voller Spannung und Bewegung. Sie ist in Wirklichkeit kein Stehen, sondern ein Überschreiten und Zurückkehren, ein Wieder-Zurückkehren und Wieder-Überschreiten, ein Hin und Her, dessen Ziel es ist, ein Drittes jenseits der begrenzten Gebiete zu schaffen, etwas, auf dem man für eine Zeit stehen kann, ohne in einem festen Begrenzten eingeschlossen zu sein.“ (Impressionen und Reflexionen, Gesammelte Werke XIII, Stuttgart 1972, S.422)

Diese Sätze von Tillich finde ich eine wunderbar treffsichere Beschreibung. Ich habe es in der kirchlichen Bildungsarbeit oft erlebt, dass dieses Dritte eine Erkenntnis sein kann, die einen komplett umwirft. Aufregt. Energiegeladen sein lässt. Und ich habe es auch erlebt, dass dieses Dritte eine Gotteserfahrung war. Eine Erfahrung also, die man nicht schaffen kann, sondern die sich ereignet. Ein unverfügbarer Moment des Unendlichen, etwas, das einen heraus denkt und heraus liebt aus der inneren Begrenztheit, ja heraus liebt selbst aus der erschütternden Krise einer Grenzsituation.

Und ich blättere just in Ihrem so vielfältigen Akademieprogramm, lese vom Workshop: „Da nahm Mirjam ihre Pauke in die Hand“ –  und erinnere mich an Lisa. An ihre Begegnung mit dem Dritten der besonderen Art.

Auch wenn sie nicht hanseatisch war, Lisa war so lebensnah und darin auch lehrreich für eine Stadtakademie wie die Ihre. Zeit ihres 60-jährigen Lebens hat sie auf dem Hof ihrer Eltern gelebt, hat unzählige Kälber versorgt, das Familienleben organisiert, die Alten gepflegt, war im Landfrauenverein. Tüchtig, die Lisa. Wie man das erwartet von einer Frau ihrer Generation. Als sie das erste Mal davon hörte, dass die regionale evangelische Bildungsarbeit eine Wochenendreise anbietet, bei der man nach Herzenslust mit fünfzig anderen singen, tanzen, Gottesdienst und überhaupt feiern kann – war sie sehr angetan. Und doch zögerte sie. Ihrer so lang verdeckten Sehnsucht war sie sich selbst gar nicht mehr bewusst, dieser Sehnsucht nach dem ganz anderen, nach singen, frei atmen, Gemeinschaft, ja feiern. So gar nicht ihr übliches Programm…Es brauchte viel Organisation, doch sie fuhr mit. Und dann geschah es: Das erste, was sie in unserem Tagungsraum entdeckte, war eine Konga-Trommel. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie ließ sich einige Rhythmen zeigen und fortan waren Lisa und die Trommel eins. Ob zu „Im Frühtau zu Berge“ oder „Horch, was kommt von draußen rein“, „Du meine Seele singe“ oder „Guten Abend, gute Nacht“ - die Trommel war ihre - und unsere - stetige Begleiterin. Stimme der aufgewachten Freiheit. Ostinato der Hoffnung, der alle ermutigte, auf der Grenze zu tanzen…

An diesem spannenden Ort, auf der Grenze, kann also jede Akademiearbeit zu einem Erlebnis werden. Weil es so viele Möglichkeiten gibt, nicht allein mit dem Kopf, sondern sich mit seiner ganzen Person auf Fremdes und Neues einzulassen. Es ist eine Auseinandersetzung mit sich selbst, die in der Akademie Anknüpfungspunkte und Deutungen für die eigene Biographie zu finden vermag. Ich empfinde dies als kirchliche Bildungsarbeit im besten Sinne: Bildungsarbeit, die herausbilden hilft, was in einem steckt. Indem sie einen heraus-fordert, heraus-ruft. Mit Gedanken, Literatur, Kunst, biblischer Geschichte, Historie, ja eben: Bildern, die auf einmal im Inneren entstehen und die einen ebenso aufstören wie willkommen heißen. Es ist dies wahrlich innere Bildungsarbeit, die aus dem Interesse für Grundfragen ein Inter-esse im wörtlichen Sinn entstehen lässt: die neugierige Suche danach, was zwischen uns ist, oder genauer: welch Geist zwischen uns ist. Erst wenn dieses Inter-esse entsteht, entsteht ein wahrhaftiger Dialog. Und erst in so einem Dialog der Ehrlichkeit entsteht Identität – also wenigstens eine Ahnung davon, welch Geistes Kind auch man selbst ist. Ergo braucht man in evangelischer Akademiearbeit viele Interessierte – und ich sehe Sie vor mir und bin froh, Ihnen zu begegnen…

Und vielleicht interessiert es Sie nun an dieser Stelle, schlaglichtartig die Geschichte evangelischer Bildungsarbeit wahrzunehmen? Gründet sich doch letztlich jede neue Bildungsinitiative auf Säulen der Tradition, die gut sind, gerade bei einem Gründungsakt sichtbar zu machen. Damit sich für Sie hoffentlich eine etwas spezifischere Sicht auf das Neugeborene einstellt als die, die Goethe so formulierte:

„Dann gab`s ein Gerede, man weiß nicht wie, / das nennt man eine Akademie.“ (Séance. Weimarer Ausgabe, Nachdruck München 1978, Bd. I/2, S. 201)

3. Grundlagen einer evangelischen „Stadtakademie“ auf der Grenze

Der Protestantismus hat von Anfang an als Bildungsbewegung gewirkt. Sein emanzipatorischer Impuls zielte letztlich darauf, Menschen zu befähigen, mündig und damit auch urteils- und kommunikationsfähig zu werden. Für sich selbst und – Protest! – auch für andere. Wir wissen es: Luthers Übersetzung der Bibel ins Deutsche, seine Liedtexte und Traktate wurden von der Grundidee motiviert, dass niemand Christ werden kann, ohne von Jesus Christus gehört zu haben. Ja, dass sich uns der Glaube vor allem über Sprache erschließt. Um die biblische Botschaft verstehen und weitergeben zu können, brauchen wir geschichtliches Wissen und kritisches Nachdenken, ganz elementar also Sprachkenntnisse – Luther beschreibt dies ganz anschaulich so: „Die Heilige Schrift ist ein Kräutlein. Je mehr du es reibst, desto mehr duftet es…“.

Umgekehrt hat auch der Bildungsbegriff von sich aus einen Hang zur Religion: "Bildung" war ursprünglich ein sehr frommes Wort und meint in der mittelalterlichen Mystik die Verschmelzung der Seele mit Gott. Man verstand darunter das Einswerden mit Gott: Gott in sich einzubilden, durch Christus sich umzubilden, um als Mensch an Gott teilzuhaben – das war das Ziel. Nach wie vor hat diese mystische Vorstellung ihre Faszination. Ich glaube, dies liegt u.a. darin begründet, dass wir alle ahnen oder erfahren haben, wie schwer sich trotz aller Einsicht Veränderungen in einem vollziehen. Klug deshalb der Satz eines Adolf von Harnack, wenn er sagt: "Alle tiefere Bildung ist Umbildung [...], schmerzliche, aber befreiende Umbildung: es muss etwas Altes untergehen und etwas Neues wachsen und werden." (Adolf von Harnack: Die sittliche und soziale Bedeutung des modernen Bildungsstrebens, in: Reden und Aufsätze, Bd. 2, Gießen 1904, S. 102)

Es geht um Veränderung, verstanden als innerer Prozess. Gerade in der lutherischen Kirche ist „Bildung“ deshalb zentral. Denn Grundlage und Auftrag der Kirche ist die "Kommunikation des Evangeliums", eben: die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade. Wenn man diese Formeln der damaligen Vorstellungswelt in heutige Anschauungen überträgt, dann kann man vielleicht sagen: Wir leben aus Gottes Gnade und nicht aus unseren Versuchen, vor Gott gut dazustehen. Jeder einzelne wird von Gott in seiner Vorläufigkeit und Unvollkommenheit bejaht und bestätigt. Es ist die Wertschätzung und Anerkennung der einzelnen Person unabhängig von ihren Leistungen: jeder individuellen Lebensgeschichte wird ein unendlicher Wert beigemessen. Das Individuelle wird aber desto angemessener wahrgenommen und gewürdigt, je mehr es sich entfaltet und in seinen Eigenarten ausgebildet hat. Und genau das ist Ziel und Gegenstand der Bildung: „Bildung“ ist der Prozess, durch den jeder einzelne Mensch seine vorgegebenen Anlagen ausbildet und entfaltet. „Bildung“ als Auftrag ist die jedem einzelnen Menschen gestellte Aufgabe, seine Persönlichkeit und Eigentümlichkeit auszu-bilden. Und diese Ausprägung der Individualität liegt der lutherischen Kirche deswegen so sehr am Herzen, weil sie ihrer eigenen Grundüberzeugung vom unendlichen Wert jeder einzelnen Lebensgeschichte entspricht.

Denn wer sich selbst achtet, achtet auch den anderen – ich komme zum letzten, vierten Abschnitt und einem Blick auf die konkreten Herausforderungen der Postmoderne:

4. Evangelische „Stadtakademie“ in einer säkularen Gesellschaft

Er hat die kleinen Anzeichen konsequent gering geachtet, sagt er. Und irgendwann war die Kraft zu Ende. Als Ralf Rangnick vom Fußball-Bundesligisten Schalke 04 aufgrund eines Erschöpfungssyndroms zurücktritt, wird dies mit Respekt und Mitgefühl begleitet. Es sei eine persönliche Tragik, hieß es.

Ich horche auf. Denn nur persönlich ist die Tragik nicht. Vielmehr gehört er zu denen, die die Kehrseite unserer Leistungsgesellschaft erleben, deren Volkskrankheit Nr. 1 Depression heißt.

Es wäre ein erster heilsamer Schritt, sich laut dafür zu interessieren, was denn in diesen Leistungssystemen etwa des Sportes, der Medien, der Politik krank macht. Ein Schritt, an dem alle hier beteiligt wären. ….

Doch das Problem reicht meiner Überzeugung nach tiefer: Ich beobachte, dass die meisten Menschen auch nicht mehr in Sprache fassen können, was sie gesund macht – theologisch: was sie heil sein lässt. Sie haben buchstäblich keine Worte – und damit auch keine Vorstellung - für das, was ihnen Lebenslust ist und Qualität von Leben. Etwas, das sie verheißungsvoll erwarten wie ein Kind, das geboren wird. Vielen fehlt, so meine These, der Kontakt zu einer Vision, die einem Kraft gibt und Inspiration. Etwas, das über einen selbst hinaus weist und einem Halt gibt, weil es gerade nicht aus einem selbst heraus kommt. Unsere Gesellschaft leidet zunehmend unter dem Verlust dieser Dimension. Es fehlen Momente und Orte der Be-Sinnung und des Erkennens, an denen man nach Sinn fragt und Liebe, danach, wie man mit Scheitern umgeht und der inneren Grenze, mit Schuld und Verletzung – all dies kommt kaum irgendwo unter. Wir sind damit metaphysisch obdachlos. Und wenn einen dann irgendwann der bekannte Ruck durchfährt mit der Frage: Das soll alles gewesen sein? , dann werden etliche sich einer eigentümlichen Leere bewusst. So lässt diese metaphysische Obdachlosigkeit einen stumm werden, wenn´s ums Ganze geht. Wenn es um unsere Wurzeln geht und unser Ziel, um Vertrauen und Gewissheiten.

Entsprechend konstatieren Religionswissenschaftler, dass das Bedürfnis nach letzten Überzeugungen, die tragfähig sind und dem Leben insgesamt Grundlage und Richtung geben, besonders groß geworden sind. Denn: Da muss doch etwas und mehr als das gewesen sein! Man möchte das eigene Leben auf einen letzten, allumfassenden Zusammenhang bezogen verstehen, es in einem letzten Zweck versammelt wissen, möchte sein Leben als gehaltvoll und bedeutsam erkennen. Ohne diese An-erkennung des eigenen Seins kann kein Mensch leben. Der Mensch braucht individuelle Bedeutsamkeit im Gewebe allgemeiner Deutungen. Deshalb sucht der moderne Mensch „nach Sinn, nach Halt und Geborgenheit, nach einer zielgewissen Lebensorientierung“, die das Ganze der Wirklichkeit in sich aufnimmt. Dies aber stößt sich an der gesellschaftlichen Realität der Moderne, die aus zig unverbundenen Teilsystemen besteht. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur folgen jeweils ihrer eigenen Logik und funktionieren für und in sich. Für ein umfassendes Sinnsystem jedoch, oder gar eine ganzheitliche religiöse Sinndeutung, gibt es kein Forum: Es wird immer weniger erkennbar und damit immer weniger plausibel. Was bleibt, ist die Frage. Die Sprachlosigkeit. Die Leere. Der Flachbildschirm. Mit Symptomen, die zeigen, wie gefährdet die Humanität unserer Gesellschaft ist: Krankheiten wie Depression z.B. oder fremdenfeindliche Attacken in Internetforen. Kaltblütige Hassreden in Wohnzimmern. All das, was einen frösteln lässt, wie ein Haus ohne Dach.

Unsere jüdisch christliche Tradition hat dabei eine weise Methode, gegen zu halten. Sie sagt gewissermaßen: wer Visionen hat, ist gesund. Deshalb erinnert unsere Religion an sie. Noch und noch. Sie erinnert an die Zukunft und die Wärme und die Sprache Gottes und gibt der Gegenwart eine Deutung auf.

Doch wie viele wissen mit dieser Erinnerung gar nichts mehr anzufangen! Wie viele sind in ihrer Religion nicht mehr zu Hause und damit auch nicht mehr in ihren – zugegeben mitunter sehr wortgewaltigen - Verheißungen. Wir sind in dieser säkularen Welt nicht mehr zu Hause in unseren Friedenssehnsüchten! So richtet diese metaphysische Obdachlosigkeit in der westlichen Welt, im postmodernen Menschen viel an: Sie entledigt ihn seiner Religion. Immer weniger Menschen wissen etwas von ihr. Das Haus der Tradition beheimatet nicht mehr oder ist allenfalls eine zugige Baustelle. Es redet kaum noch jemand von dem, was er glaubt, was ihn leitet, was ihm Halt gibt. Es wird geredet von Glück, das man selbst schmiedet, nicht von Gnade. Davon, dass ich an dich denke, anstatt dass ich für dich bete. So ist mancherorts Gott selbst verloren gegangen. Tatsächlich nicht nur unbekannt verzogen, sondern auch noch unbemerkt. Ohne Glauben, ohne Gott, Gebote, vertraute Gebete, ohne religiöses Kulturwissen ist der moderne Mensch fast alles los geworden, nur nicht seine Verlorenheit.

Deshalb Bildung, meine sehr geehrten Damen und Herren. Hier in der Region, in den Gemeinden, am besten im Verbund. Es ist die Sache aller Religionen und aller Konfessionen in dieser Stadt, gemeinsam gegen diese Gottvergessenheit oder anders formuliert: Areligiosität anzugehen. Dies übrigens auch durch Aufrechterhaltung eines gemeinsamen Religionsunterrichtes. Ihn gilt es in gemeinsamer Verantwortung zu erhalten, indem man den Klassenverband erhält! Ich bin sicher, wir einigen uns in den nächsten Jahren mit z. B. den muslimischen Verbänden, wie das geschieht – Hauptsache, dass Religionsunterricht geschieht!

Den Menschen von klein auf religiös wieder Obdach zu geben, ist deshalb so dringlich, weil sonst Grundüberzeugungen wie Nächstenliebe und Toleranz in unserer Gesellschaft verloren gehen. Es braucht dringend Räume für den ehrlichen Diskurs in einer Gesellschaft, die angesichts der Kulturen- und Religionsvielfalt um Identität ringt. Zur Identität einer Gesellschaft gehört es, dass sie ein Verhältnis zu ihrer Religion, zu den vorhandenen Religionen gewinnt, dass sie sich mit ihnen befasst. Demgegenüber erlebe ich unsere Gesellschaft als eine, in der viele Kulturen und Religionen und Konfessionen faktisch nebeneinander leben, aber viel zu wenig voneinander wissen, um friedlich zu bleiben. Die affektgeladene Stimmung, sobald es insbesondere um den Islam geht, ist ein alarmierendes Zeichen, das mich bestärkt in meiner These. Es muss dringend etwas getan werden, dass wir wieder mehr verstehen von uns selbst, der Friedensliebe unserer eigenen Religion, damit wir der Friedensliebe der anderen Religionen mehr zutrauen. Wie gut ist deshalb so eine Akademie. Wie wichtig deshalb dieses Jahresthema!

Möge also die Evangelische Akademie den Menschen zum Segen gereichen. Indem Menschen aller Couleur Freundschaft schließen. Mit Ideen. Mit Unbekanntem. Miteinander. So wie es die abschließende Episode erzählt:

Freunde von mir haben vor einigen Jahren in Simbabwe gearbeitet. Ihr kleiner Sohn, damals 4 Jahre alt, hatte es anfangs schwer, sich einzugewöhnen: Im Kindergarten schaute er verblüfft auf die vielen weißen wie schwarzen Kinder, die immer etwas sagten, was er nicht verstand. Und umgekehrt schauten die anderen ihn erstaunt bis feindselig an, wenn er sich verständlich zu machen versuchte. Nichts wünschte er sich sehnsüchtiger als einen Freund. Eines Mittags kommt er aufgeregt nach Hause und erzählt seinen Eltern, dass er nun endlich einen Freund gefunden habe. Ob er denn genauso alt sei und was die Eltern machten, erkundigten sich unsere Freunde einfühlsam. So nach und nach – schließlich ist man progressiv und frei von Vorurteilen – fragten sie dann auch, ob sein Freund denn weiß sei oder schwarz? „Woher soll ich denn das wissen?“, fragt ihr Sohn empört zurück. „Er ist doch mein Freund!“

Liebe Freundinnen und Freunde, ich danke Ihnen.

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