23. September 2013 - 275 Jahre Christianskirche Ottensen – Die Zukunft der Kirchengemeinde im urbanen Quartier
23. September 2013
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
zuallererst: herzlichen Glückwünsch! Ich gratuliere der Christianskirche zu ihrem 275sten!
Fast drei Jahrhunderte prägt sie den Stadtteil. Da überkommt einen ja erst einmal völlig berechtigt rückblickendes Staunen! Soviel wurde hier schon gefeiert. Gottesdienste, Taufen, Konfirmationen, Trauungen! Mengen von PastorInnen, Küstern, Kirchenmusikern haben hier gewirkt. Ausstellungen, Konzerte, Kunstprojekte – Kirche „kann“ auch Kultur! 275 Jahre haben Menschen aller Couleur hier Schutz gesucht, dem Friedensgebet vertraut, ihr Glück segnen lassen und ihr Leid vor Gott gebracht. Für mehr als 11 Generationen gibt es hier einen christlichen Versammlungsort, einen "heiligen" Raum, und Christus ist mitten unter uns. Auch bei einem Vortragsabend. In seiner Gemeinde, die Gemeinde Jesu Christ, hat er seine Anwesenheit zugesagt, wann immer Menschen sich hier versammeln, um zu singen, zu beten – und nachzudenken….
„Nachdenken über die Zukunft der Kirchengemeinde im urbanen Quartier“: dieser Aufforderung und Einladung bin ich gerne gefolgt, weil die Kirchengemeinde hier in diesem lebensweiten Stadtteil ein besonderes Profil besitzt – mit ihrer Offenheit für Kinder samt ihrer Eltern und Großeltern, ihrem klugen diakonischen und kulturellen Engagement, ihrer hochwertigen Kirchenmusik, ihrer Fähigkeit, quer zu denken und ihren PastorInnen, deren einer gern auch einmal eine rote Nase trägt….
Mein Gefühl: Hier ist die Kirche noch im Dorf, mitten in der Stadt. Hier ist Altgewachsenes und Tradition in einem engen Austausch mit einer rasant sich verändernden Stadtwelt. Kulminierungspunkt der verschiedenen Generationen, Positionen, Suchbewegungen und mehr noch: Sehnsüchte – auch an Kirche als Institution. Hier kommt zusammen, was sonst auseinander driftet, in unserer Gesellschaft der Spaltungen mehr denn je. Hier sind aufrechte Menschen, die dem Glauben manchmal die Stirn bieten, weil sie ihn verstehen wollen. Hier sind die, die Armut kennen, alt und jung, und ebenso um Achtung ringen wie die, die vermögend sind (vermögend übrigens in vielerlei Hinsicht). Hier sind die, die eine Beeinträchtigung haben – und alle merken schnell: wer hat eigentliche keine? Hier sind sie, die niedergedrückt sind, obwohl sie doch eigentlich alles „haben“. Und hier sind die, die nicht viel haben, und sich davon nicht niederdrücken lassen wollen.
Die Gemeinde Jesu ist mitten im Leben. Auch im Leben einer Stadt.
Ich komme ja gar nicht aus der Stadt. Sondern aus Dithmarschen. Das kann passieren….
Und dort ist es ganz wichtig, dass die Kirche im Dorf bleibt.
So wichtig ist die Kirche im Dorf, dass man sie gar ausgiebig schont.
Das fand und finde ich interessant und möchte dies einmal ein wenig genauer betrachten – weil es einen Hinweis gibt auf die grundsätzliche Frage, die hinter dem Thema des Vortrags steht: nämlich welche Aufgabe nicht nur Institution Kirche, sondern generell Religion in dieser Gesellschaft heutzutage hat. Unsere christliche – und um dies gleich mit in den Metropolblick zu nehmen – aller Religionen.
Zurück zur Kirche im Dorf. Die Analyse: Sie muss da sein, aber gleichzeitig bleibt man zu ihr in Distanz. Sie muss da sein, um vor allem in Notzeiten auf sie zurückgreifen zu können. Um Halt zu bekommen in unaushaltbaren Situationen. Sie muss auch da sein, um die Schwellensituationen im Leben, die ja immer auch kleine Krisen in einer Familie sind, zu begleiten: bei der Geburt, in der Pubertät, der Partnerschaft, beim Altwerden, beim Sterben.
Sie muss an solchen Momenten da sein, wo der Mensch Segen braucht. Oder mit einem anderen Wort: Kraft, die nicht aus einem selbst heraus kommen kann.
Sie muss da sein, aber man möchte sie nicht brauchen müssen.
Diese Ambivalenz prägt das Verhältnis von Religion und Gesellschaft. Denn religiöse Fragen sind immer existentielle Fragen. Kritische Fragen. Gleich ob sie einen in der persönlichen Biographie betreffen oder gesellschaftlich relevant sind. Sie haben immer etwas zutiefst Ernsthaftes, ja zunächst Belastetes. Es geht darum, Grenzsituationen zu überstehen, zu beschreiben, zu verstehen. Religion ist deshalb allemal etwas für die Mühseligen und Beladenen. Und dazu mag man nicht gern gehören. Darüber redet man nicht gern. Schon gar nicht in der Gemeinschaft, im Dorf, in der Gesellschaft.
Doch – um gleich meine These zu nennen, auf die dieser Vortrag hinzielt – genau in diesem Sinne gehört Kirche ins Dorf, gehört Religion in die Gesellschaft, gehört die Kirchengemeinde ins Quartier: dass sie einen Raum bietet für all das Nichtsagbare, das Tabuisierte, das, was Mühsal macht und Bedrängnis.
Raum für die Warum-Fragen, die keine Antwort finden.
Raum zum Gespräch, das dankenswerterweise viel mehr kennt als Worte.
Es kennt das Gebet, die Geste, das Ritual, das Licht, die Musik.
275 Jahre schon an diesem Ort.
Und dies hier – so empfinde ich es – alles mit einem Ziel, das sich biblisch wunderbar in einem Pauluswort zeigt: "Nicht, dass wir Herren wären über euren Glauben, sondern wir sind Gehilfen eurer Freude.“ (2. Kor 1,24)
Also: Wir sind nicht Herren des Glaubens im Sinne der Definition, was wahr ist und was nicht, sondern verhelfen zur Lebenslust. Das ist das Ziel: der Leichtigkeit des Seins zumindest auf die Spur zu kommen, weil man die Bedrückungen gerade nicht verleugnet. Der Wahrheit ins Auge schaut und „für wahr nimmt“, was ist. Und das heißt konkret: Die Opfer von Gewalt in ihrer Verletzung respektiert, den Täter mit seiner Schuld, die Obdachlosen in ihrer Würde, die Flüchtlinge mit ihrer Geschichte, den Kranken in seiner Verzagtheit.
Ich habe es in der Gemeinde ganz oft erlebt und davon lebt auch mein Glaube: erst wenn ich (christlich eben!) das Kreuz nicht umgehe, sondern anschaue, steht auch wieder vor Augen, was davor oder dahinter stets gestanden hat bzw. was einen (wieder) aufstehen lässt: die Heiterkeit, die heilsame Kraft, der Humor, die fraglose Hingabe, die Erleichterung.
1. Kirche als Raum für das, was einen existentiell angeht
Wo redet man denn nun darüber, was einen existentiell angeht? Was man an Zweifeln und Lebensfragen mit sich trägt, gleich, wie alt man ist? Bei mir war es als Jugendliche – wohlgemerkt auf dem Dorf – die Kirche. Sie war der einzige Raum, der Identität ermöglichte. Weil gerade die protestantische Kirche Freiheit atmete. Keine Gesetzlichkeit. Sie verlieh der Individualität ebenso Wichtigkeit wie der Toleranz. Das ereignete sich natürlich durch Personen, glaubwürdige Pastoren, die mich, uns auf einen Weg des Gesprächs mitgenommen haben. Die mit uns eingeübt haben, was ein Diskurs ist, wie man also miteinander sprechen kann und sich tatsächlich einigermaßen verstehen. Wie Unterschiede interessant werden und nicht abgewertet werden müssen. Dass man den Mund aufmacht, wenn etwas nicht stimmt oder jemand ungerecht behandelt wird. Dass Pluralismus nicht Beliebigkeit bedeutet.
Dass man kurz gesagt der Wahrheit nur mit Ehrlichkeit nahe kommt.
Für mich ist dieses zwanglose (wenn auch in der Eigenkritik nicht schmerzlose) Gespräch der Ehrlichkeit bis heute ein Leitfaden geblieben. Für mein Studium, für meine verschiedenen Berufsstationen in der Seelsorge und Erwachsenenbildung, für mein Predigen und für den Dialog als Bischöfin mit unzähligen Gruppen, Gemeinden, Menschen aller Couleur und Religionen. Und die Erfahrung bestätigt: Das Gespräch, das die Ehrlichkeit sucht, geht in die Tiefe. Gibt sich nicht zufrieden mit Verlautbarungen. Das ehrliche Gespräch begnügt sich nicht mit dem, was man auf den Flachbildschirmen unserer Gesellschaft ständig projiziert bekommt. Es braucht einen eigenen Ort, einen Lernort, der einen auf Gedankenwege nimmt. Und hier sehe ich entscheidend die Gemeinde der Zukunft. Als Lernort, der die Dilemmata – und davon haben wir in einer hochtechnisierten Welt mehr als genug – nicht auflöst in ein Entweder – Oder, Alles oder Nichts. Es braucht diese Lernorte der Freiheit, in denen schon die Kinder Nächstenliebe buchstabieren und Toleranz. Und es braucht Lernorte für Erwachsene, die als Christen nicht den Verstand an der Garderobe abgeben wollen, sondern herzhaft glauben, weil es auch der Verstand erlaubt. Es braucht schließlich Lernorte, in denen man Spannungen aushalten kann, weil sie – wie Paulus sagt – ein Haupt haben: und das heißt Christus. Christus, der nicht nur Versöhnung predigt, sondern der auch tatsächlich die Welt mit Gott selbst versöhnt.
Je länger ich die Konflikte in unserer Stadt anschaue, desto mehr bin ich der Überzeugung, dass hier eine der wichtigsten Aufgaben der Kirchengemeinde liegt. Lern-und diskursraum zu sein für alle, die´s existentiell umtreibt – und dies mit einer bestimmten Kultur. Einer Kultur, in der man sich befragen lassen kann, ohne beschämt zu sein. In der man streitet, ohne sich vernichten zu wollen. In der man sich auseinander setzt, weil man zusammen finden will. In der man den Unterschied liebt und ihn nicht befürchtet. Und so mag es ein Raum sein, in den die Menschen gern eintreten, weil sie nicht mehr allein sind mit der Frage, wie das Leben in Würde und Gerechtigkeit zu leben ist – mit Pränataldiagnostik? Patientenverfügung? Bleiberecht für Flüchtlinge? Mindestlohn? Daseinsvorsorge?….
Und schon diese Stichworte machen deutlich: Wir haben es mit Dilemmata zu tun, die keine leichten Lösungen haben werden. Jedenfalls keine, die nicht trotz genauester Abwägung Nachteile hat und Menschen verletzt. Und wofür stehen wir dann als Kirche ein?
Die Kirchengemeinde hat enorme Chancen, sich hier zu bewähren. Als Seelsorgerin etwa für die verletzten Seiten. Aber auch als Moderatorin schwierigster Prozesse. Seien sie individueller oder gesellschaftlicher Natur. Und schließlich kann die Kirchengemeinde die Rolle derjenigen haben, die Partei nimmt. Für die, deren Würde verletzt wird. Für das, was Gerechtigkeit fördert und Friedensnähe. Kompromisslos für Menschenrecht und Schöpfungsbewahrung.
Die Abwägung, welche der Rollen an diesem Lernort Gemeinde angezeigt ist, ist ein gemeinsamer Prozess. Und dafür haben wir, die wir schwer geübt sind in Pluralität, klare Foren: Synoden, Kirchengemeinderäte, Gemeindeversammlungen.
2. Konkretisierungen:
Vor einigen Wochen war ich früh morgens in der Kirchengemeinde in St. Pauli. Die ersten, die mir begegnen, sind ein älteres Ehepaar. Ob ich wüsste, wo hier die Küche wäre. Sie würden gern beim Frühstückmachen für die Flüchtlinge aus Afrika helfen. Geld hätten sie ja nicht, aber Zeit. Hier zu helfen sei Christenpflicht. Ora et labora. Gleich werden sie begrüßt von einem der achtzig Flüchtlinge, die unter dem Kirchendach endlich Schlaf finden und Ruhe – übrigens Christen und Muslime in friedlichem Miteinander. Er ist höflich, redegewandt und sehr dankbar.
Die Flüchtlinge haben von ihrem Weg aus Libyen über Italien bis nach Hamburg viel durchlitten. Was liegt - gerade für eine Kirchengemeinde- näher, als humanitäre Hilfe zu leisten? Im Rahmen des – in diesem Falle schmalen – Rechtsweges Menschenrecht zu ermöglichen. Gute Beratung für die Einzelnen. Medizin. Kleidung. Freundschaft. Wissend, dass wir natürlich hier kein Weltproblem lösen können – aber allemal Herz und Verstand zusammen nehmen und Courage zeigen? Du sollst den Fremden lieben, heißt es im 3. Buch Mose. Nicht tolerieren, irgendwie, sondern lieben. Herz und Erbarmen ergeben Barmherzigkeit. Wo kämen wir in dieser Gesellschaft hin, gäbe es dafür die Courage nicht?
Die Bibel nennt das: Tacheles reden. Rede und Antwort stehen. Sich gerade machen und Gutes denken! Beten und Handeln. In seinem Stadtteil und in ihrer Kirchengemeinde. Wie z. B. derzeit in Hamburger Gemeinden, christlichen wie muslimischen, in Barmbek, in St. Georg-Borgfelde, vor allem aber eben in St. Pauli, dort wo Kiez ist und Armut und schräge Typen und vieles mehr. Mit Herz eben. Die Menschen dort teilen, was sie haben – Zeit, Aufmerksamkeit, Geduld, Geld. Berührt durch die Nähe der Flüchtlinge mitsamt ihrer Not entdecken die Menschen vor Ort ihre Lust und Fähigkeit zur Hingabe. Ehrenamtliche tun seit dreieinhalb Monaten Dienst – Essen, Fürsorge, Mitgehen. 1000 Zahnbürsten werden abgegeben, Klempnerdienste angeboten, Hoffnungsbotschaften geschrieben – und dies von Menschen, die teilweise vorher nie in der Gemeinde gesehen wurden. Es ist, als hätten viele derer, die dort leben, diesen Satz verinnerlicht (ohne dass sie ihn vielleicht je gehört haben) „Was ihr einem meiner geringsten Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan.“
Zu denen, die sich geschwisterlich einmischen, gehört beispielsweise der Türsteher vom Kiez, Hotte Kriegel. Als eines Tages eine Gruppe von Rechtsradikalen die Afrikaner bedrohen, steht er vor der Tür des Pastors: „ Hier bin ich getauft, hier bin ich in den Kindergarten gegangen. Als ich gehört habe, dass Leute den Jungs Angst machen (scil: gemeint war eine Gruppe von Rechtsradikalen) war Feierabend bei mir. Ich bin zum Pastor und hab gesagt: hier bin ich.“
Mich beeindrucken solche Momente gelebter Nächstenliebe. Denn nichts weniger als das begegnet einem hier. In ihnen lebt Solidarität mit denen, die es schwer erwischt hat. Lebt Geschwisterlichkeit, Mitgefühl, ja auch die Demut, dass Glück immer ein geschenktes ist. Dies alles ist Kirche. Und es sind zugleich die Werte einer Demokratie! Mich beeindruckt das auch gerade in der Christianskirche so: Hier lebt das Bewusstsein, dass der Gottes-Dienst seine Liturgie der Barmherzigkeit in die Welt zu bringen hat. Leiturgia verhallt ohne diakonia. Und dieses diakonische Handeln wiederum braucht einen Anstoß. Den Anstoß derer, die konsequent über den Tellerrand schauen. Auch insofern ist Gemeinde Lernort: Weil es dort immer auch um weltweite Zusammenhänge geht, im Sinne einer universalen Relevanz der Nächstenliebe – und damit im Sinne einer ökumenischen Verbundenheit.
3. Viele Glieder, ein Leib
Und diese Ökumene wiederum ist etwas ganz Großartiges und birgt einen entscheidenden Impuls zur Theologie der Gemeinde: Es ist die die Einsicht, dass mein Standpunkt, mein Frömmigkeitsstil, mein Engagement, kurz: alles das, was mir wichtig ist, angewiesen ist auf die Ergänzung durch andere. Durch das Abweichende komme ich mir nahe. Erst gemeinsam sind wir das Ganze.
Dies orientiert sich am biblischen Ur-Bild vom Leib und den Gliedern, Paulus sei Dank: “Wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir viele ein Leib in Christus, aber [wir] haben verschiedene Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist.”
Dieses biologische Bild umfasst in faszinierender Weise das Zusammenspiel von Einheit und Vielfalt: Es gibt einen gemeinsamen gleichen Auftrag zum Wohle unserer Kirche und Kirchengemeinde. Aber es gibt viele einzelne, unterschiedliche Formen, diesen Auftrag zu erfüllen.
An der gemeinsamen Aufgabe sollen jeder und jede nach ihren eigenen Fähigkeiten und Begabungen mitwirken. Heißt gerade: die eigene Individualität und Eigentümlichkeit möglichst deutlich auszuprägen und anschaulich werden zu lassen: Jeder und jede soll zeigen, wer er und sie ist. Es lebe geradezu der Unterschied! Und so ist es kein Betriebsunfall, sondern gehört zum Wesen der evangelischen Kirche, dass sie unterschiedliche Ansichten und Auffassungen hervorbringt. Jeder einzelne ist wichtig und jeder hat eine eigene Stimme. Diese Vielstimmigkeit macht uns bisweilen Beschwer – sage ich nicht ganz zufällig einen Tag nach dem Volksentscheid unter (umstrittener) kirchlicher Beteiligung…
Und wie nun mit dieser Vielfalt umzugehen ist – darauf finden wir die Antwort ausnahmsweise mal nicht direkt in der Bibel, sondern in den Bekenntnisschriften – die ja den Anspruch haben, eine zeitgemäße Zusammenfassung der biblischen Botschaft zu sein. Denn dort heißt es „Nicht mit Gewalt, sondern durch das Wort” sind Konflikte und Auseinandersetzungen in der Kirche zu führen und zu schlichten. Es ist das Gespräch auf Augenhöhe. Für unsere lutherische Kirche ist konstitutiv, dass sie im Dialog geleitet wird. Natürlich mit dem Ziel sich zu einigen, Kompromisse zu finden – die nicht faul sind, sondern von der Bewegung zeugen. So gesehen ist der Kompromiss die Moral des Pluralismus.
4. Kirche als Lernort für interreligiösen Dialog
Es ist also als Errungenschaft gerade der evangelischen Gemeinden anzusehen, dass sie in Pluralität schwer geübt sind. Naturgemäß nicht konfliktfrei und nicht überall mit gutem Ergebnis, aber immerhin seit über 2000 Jahren. Und dies ist von enormen Vorteil als Gemeinde in einer Stadt, die nie homogen war, sondern quasi als Grundmerkmal die Heterogenität trägt: Sie ist der Lernort in einer Gesellschaft, die auch angesichts der Kulturen- und Religionsvielfalt um Identität ringt.
Zur Identität einer Gesellschaft gehört es, dass sie ein Verhältnis zu ihrer Religion, zu den vorhandenen Religionen gewinnt, dass sie sich mit ihnen befasst. Demgegenüber erlebe ich unsere Gesellschaft als eine, in der viele Kulturen und Religionen und Konfessionen noch viel zu sehr nebeneinander leben, aber viel zu wenig voneinander wissen, um friedlich zu bleiben. Die affektgeladene Stimmung, sobald es insbesondere um den Islam geht, ist ein alarmierendes Zeichen, das mich bestärkt in meiner These. Es muss dringend etwas getan werden, dass wir mehr verstehen von uns selbst, der Friedensliebe unserer eigenen Religion, damit wir der Friedensliebe der anderen Religionen mehr zutrauen.
Dabei ist entscheidend, dass nicht nur geredet wird – interreligiöser Dialog braucht nicht nur gesetzte Grußworte. Sondern identitätsstiftend ist mindestens ebenso die gemeinsame Erfahrung und die Begegnung im Alltag. Zu dieser alltagstauglichen Form des Dialogs – was ich als die gesellschaftliche Herausforderung der Zeit erlebe – gehört eines unbedingt dazu: Nämlich dass man die mitunter schwere Aufgabe hat, im eigenen Haus aufzuräumen, heißt: den fundamentalistischen Ausartungen aller Couleur und den gewaltverherrlichendem Religionsmissbrauch entschieden entgegen zu treten.
Und dazu braucht es viel. Auch einen gemeinsamen Religionsunterricht. Und es braucht unsere Offenheit, auch als Erwachsene zu lernen. Indem wir uns einlassen.
5. Gemeinde als Lernort für eine Wertedebatte der besonderen Art.
Meiner Erfahrung nach wird das Gespräch mit Christen, mit Gläubigen anderer Religionen, mit Atheisten, mit wem auch immer dann mit Energie aufgeladen, wenn wir anfangen zu erzählen, was uns denn persönlich wirklich wert ist, was uns heilig ist. Denn die im Leben entscheidende Komponente ist doch, wie wir all das, was wir in den 10 Geboten an ethischer Orientierung mitbekommen haben, in unserem Leben übersetzen. Wie wir ernst machen mit dem Leben und der Liebe und der Würde in der Alltäglichkeit.
Was ist uns heilig? Die Familie, das Kind, die Liebe des Lebens, der Sinn der Arbeit….die erste Tasse Kaffee am Morgen J? Momente also der Glückseligkeit, die man nur empfangen kann, nicht herstellen. Davon reden (vielleicht ja nachher), was uns heilig ist, halte ich für eine lebenswichtige Übung. Sie stellt eine Verbindung her zu unserem Innersten und damit zurück zu dem, was oft nur verschüttet da ist – einem Vertrauen, dass es gut ausgeht. Dem Vertrauen auch, dass es eine Macht gibt, die mich schützt, in deren Wirksamkeit ich eingebunden bin. Nicht umsonst reden wir von Rück-bindung, re-ligio, zu dem hin, der es mit aushält, dass es keine leichten Lösungen gibt.
Menschen machen sich längst auf die Suche nach dieser re-ligio.
Und es ist die Herausforderung unserer Gemeinden, sie mit ihren Fragen aufzunehmen (die durchaus abstrus, schräg, kritisch sind) – und anzubieten, was zugleich Ziel und Schatz unserer Religion ist: Lebensqualität - oder anders formuliert: die Zusage, dass das Leben heilig ist. Würdig. Unantastbar. Nicht geschaffen, um vom Menschen zerstört zu werden. Sondern dass der Mensch Lebensfreude empfinde. Sinngehalt. Liebe. Das, was einen morgens fröhlich aufstehen lässt und am Lebensabend zufrieden gehen.
Wir müssen sie um der Menschlichkeit üben, diese Sprache des Herzens. Indem wir davon reden, was uns wirklich zu Herzen geht – weil es uns heilig ist.
Das gilt persönlich und damit in allen Bereichen unserer Gesellschaft – in der Politik, Wirtschaft, und ganz sicherlich auch in der Kirche. Wir sollten ohne Scham, „un-verschämt ehrlich“ davon reden, woran wir glauben. Aber auch, was wir nicht dulden und was nicht mit der christlichen Botschaft vereinbar ist. In diesem Sinne dem auf die Spur zu kommen, was uns heilig ist – ich bin sicher, das eröffnet Lebensqualität schlechthin. Und das braucht unsere Gesellschaft. Und nicht zuletzt dazu brauchen wir die Kirchengemeinde. Besonders die Stadtkirche in Ottensen. Mindestens noch weitere 275 Jahre!
Ich danke Ihnen.