24. April 2013 - Rede zur Ausstellung „Engel von Paul Klee“ anlässlich des 34. Deutschen Evangelischen Kirchentages
24. April 2013
„Der Engel in dir
Freut sich über dein Licht
Weint über deine Finsternis
….
Lenk
Deinen Schritt engelwärts.“
Mit diesem Gedicht von Rose Ausländer grüße ich Sie, sehr geehrte liebe Gäste, und freue mich sehr darüber, auf dieser „Präview-Veranstaltung“ über Engel – auch die von Paul Klee – reden zu dürfen. Sind mir doch die Engel ein ausgesprochen nahes Thema. Und so freue ich mich sehr über diese Ausstellung, lieber Professor Gaßner und liebe Frau Dr. Schick, und darüber, dass „Eon-Hanse“ sie ermöglich hat. Herzlichen Dank, lieber Herr Boxberger und lieber Hans-Jakob Thiessen, der Sie ja besonders engelsgleich diese Ausstellung und überhaupt den Regionalen Kulturbeirat zum 34. Deutschen Evangelischen Kirchentag vorangebracht haben!
Ich freue mich schließlich, dass Ihr Schritt Sie heute Abend engelwärts geführt hat, meine Damen und Herren. Und vielleicht sind Sie ja tatsächlich nicht nur wegen Paul Klee sondern auch wegen der Engel hier? Ich jedenfalls mache oft die Erfahrung, dass auch die bodenständigsten Realisten sich einer gewissen Faszination nicht entziehen können. Zumindest sind sie her- und hingerissen. Weil Engeln, wie immer sie uns in der Kunst oder gar im gelebten Leben erscheinen oder wirken mögen, immer etwas Menschliches und Metaphysisches zugleich anhaftet. Just in dieser Vereinigung sind sie seit Urzeiten auf unfassbare Weise in der realen, profanen Alltagswelt präsent und vermögen diese mit der transzendenten Welt des Heiligen zu vermitteln. Sie bilden, und das deckt sich allemal mit dem biblischen Befund, eine Brücke zwischen dem oft allzu fernen Gott und den aufgewühlten Seelen unserer Zeit.
Wenn man Menschen, übrigens auch ohne dass sie religiös sehr musikalisch wären, befragt, was sie als Erstes zu Engeln assoziieren, ist es fast immer der Schutzengel. Und nicht selten schließt sich eine persönliche Geschichte an, in der´s gerade noch einmal gut gegangen ist. Wo jemand einer Gefahr entronnen oder Hilfe erfahren hat in der Krise. Oder wo jemand ungeahnt friedensleis von dieser in jene Welt gehen konnte. Der Schutzengel, das ahnt der Mensch von jeher, steht für eine Kraft, die nicht aus ihm heraus kommt und kommen kann. Eine Kraft, die einem hilft zu leben. Die den Kindern, auch dem Kind in einem selbst, nah ist und oft, - denken wir an die frechen Engel von Raffael -, fast selbst noch sind wie ein Kind.
Auch bei Klee findet sich das Motiv des im wahrsten Sinne behütenden Schutzengels. Der oder die „Engelshut“ ist ein häufiges Motiv gerade seiner etwas früheren Werke um 1931. In ihnen zeigt sich genau dies eben Gesagte: Beschützender und Beschützter scheinen ineinander verwoben zu sein. Und das heißt: Der Schutzengel ist sympathischer, also im griechischen Wortsinn: mit-leidender, einfühlsamer Begleiter, nicht aber eine Führergestalt. Und so greifen die Engel, in der Bibel wie bei Klee, nicht unmittelbar ins Geschehen ein. Sie räumen die Gefährdungen, die losen Planken und groben Steine nicht aus dem Weg, doch sie helfen, dass der Mensch darüber steigen kann. Sie verhindern also nicht, dass wir Angst erleben und Krisenzeiten, aber sie bewegen in uns eine Dynamik (siehe Klees bewegte Zeichnungen!), dass wir uns unserer Stärken bewusst werden und Ängste in der Lage sind zu bewältigen.
Kein Zufall, glaube ich, dass Paul Klee die große Schar der Engel in seinen letzten Lebensjahren schuf. Die Todesnähe und der nicht aufhörende Schmerz, den seine Hände beim Zeichnen verspürt haben müssen, die Erinnerung an Krieg und Entsetzen, all dies verdichtet sich in diesen Engeln. Durch den reduzierten Bleistiftstrich und die oft nur zaghaft angedeuteten Flügel erhöht sich eher die Eindringlichkeit. Und es ist ja offenkundig, dass sich in ihnen auch persönliche Empfindungen spiegeln. Ein immer währendes Schwanken zwischen Widersprüchlichem, zwischen Hoffen und Bangen, Witz und Zorn, zärtlicher Ironie und Furchtsamkeit.
Auch Engel in der Bibel sind ein einziges Dazwischen. Immer im Übergang zwischen zwei Wirklichkeiten. Noch nicht ganz da, aber auch schon weg. Zwischen Sein und Schweben, Diesseits und Jenseits. Vorzugsweise aber zwischen Himmel und Erde. Als Boten haben sie den göttlichen Auftrag, Gottes Sprache verstehbar zu machen. Brücken zu bauen zwischen dem himmlischen (oft so fernen!) Gott und dem irdischen Sehnen nach einem Liebeswort. Und so gibt es in jüdischer Tradition dieses schöne Bild der Himmelsleiter. Unentwegt sieht man darauf unzählige Engel hinauf- und hinabsteigen: Die einen bringen die Nöte und das Flehen des Menschen zu Gott hinauf, die anderen tragen seinen schützenden Segen zu den Menschen hinunter in ihre Herzen.
Ich finde, dass Paul Klees „Angelus descendens“ und das „Ein Engel überreicht das Gewünschte“, beides allerdings frühere Werke, eine ähnliche Anmutung haben. Und ich schaue sie an und denke: Ja, Engel sind, im Auf und Ab unseres Lebens – auch in den Krisen des gesellschaftlichen und politischen Lebens – mit unterwegs. Sie wenden Not, sind hartnäckig, unbequem, beharrlich und tragen keine Zuckerwatte, sondern Schwarzbrot im Gepäck. Dort, wo sie sich einschalten, geht es um entscheidende Wegkreuzungen, geht es nicht selten auch um die letzten Dinge, um Leben und Sterben, um Schlafen und wieder aufstehen wollen. Sie sind konditionsstark und angenehm geschäftig – wer weiß, vielleicht versammeln sich hier gerade zweihundert von ihnen und ruhen sich einmal aus? Eine schöne Vorstellung, finde ich, sowohl dass viele Engel als Boten Gottes unterwegs sind, als auch, dass sie menschliche Gestalt haben können, die Engel, ohne Flügel.
Auch das übrigens eine interessante Parallele zwischen Paul Klee und Bibel: Engel haben viel Menschliches. Sie sind vergesslich, weinen, hören zu, singen Osanna, sie tasten sich behutsam vor und sind „im Schreiten noch unerzogen“ (so lauter Bildtitel). Engel werden erst nach und nach sie selbst. Sie sind auf den ersten Blick noch … nicht ganz das Eigentliche. Noch nicht schön, sondern eben noch hässlich. Noch nicht klar. Noch nicht verständlich für die Menschen.
Wie in der Bibel auch. Engel erscheinen dort den Menschen oft unerkannt, im Alltag, völlig unspektakulär. Ohne Flügel und Harfenspiel sind sie menschennah. Nach und nach erst erkennen Abraham, Tobias, die Jungfrau Maria sie als göttliche Boten an ihrer Sprache, der Sprache des Eigentlichen. Und dann durchfährt sie meist ein heiliger Schreck. Himmel! Dem Heiligen so nahe! Wer könnte ihnen den Schreck verdenken. Deshalb sagt jeder Engel als erstes: „Fürchte dich nicht!“ Und – auch das gehört zum Engeltext in der Bibel: „Bei Gott ist nichts unmöglich.“
Erst nach und nach, wie eine Metamorphose, liebt sich transzendente Wirklichkeit in die Lieblosigkeit dieser Welt. Der Engel wird zum Engel, indem er versteht. All das vermaledeite Kriegsgeschrei und diese Lebensmüdigkeit. Und weil er das versteht, weist er zugleich darüber hinaus. Sagt, einfach indem er da ist: Steh auf, dein Weg ist noch weit. Es wird nicht das Paradies sein, doch es wird etwas Neues ereignen. Es wird etwas Neues geboren, auch in dir, sagt der Engel. „Angelus novus“, wie wahr ist das!
Der Engel sagt es nicht nur. Er weiß es. Doch wir wissen es oft nicht mehr. Halten vor Übergängen inne und gehen nicht hinüber, weil uns etwas zurück hält. Denn wir Wirklichkeitsmenschen halten ja oft erst einmal nur das für möglich, was wir selbst verwirklichen können. Wir sind halt manches Mal noch zu nah an uns selbst, zu verstrickt in Eitelkeit und alter Gewohnheit, haben zu wenig Abstand zum eigenen Schmerz oder zur eigenen Bedeutsamkeit, um das Neue zu entdecken, das Einem sagt: Nichts ist unmöglich. Angelus novus könnte einen O-Ton gehabt haben: „Fürchte dich nicht, wenn eine neue Sicht auf die Dinge dich hoffnungsvoller macht, als du es der Realität jemals zugetraut hättest.“
Um zum Neuen, zum eigentlichen Leben zu gelangen, gilt es, Lebensräume zu durchschreiten. Schwellen zu überwinden. Und das kann einen Menschen wirklich an Grenzen bringen. Weil man konfrontiert wird mit Abschiedsschmerz und mit der eigenen Widersprüchlichkeit zwischen der Lust zum Neuen einerseits und der Angst vor der Trennung andererseits.
Kinder nehmen sich, um diese Anstrengung zu überstehen, etwas zum Trost, zum Weinen, Küssen, Fühlen in die Hand. Etwas, das die aufgewühlten Emotionen birgt. Wenn beispielsweise der erste Tag im Kindergarten ansteht und die Mutter geht, wer übersteht das ohne den Teddy?! In der Psychologie nennt man das ein Übergangsobjekt. Der kleine Teddy hilft, die Trennung zu überstehen, ist es doch Symbol des Vertrauten. Also: wehe man wäscht den Bären!
Und also: wehe, es gäbe keine Engel. Engel sind in religionspsychologischer Interpretation etwas ganz Ähnliches wie ein Übergangsobjekt. Allerdings immateriell und ebenfalls nicht waschbar. Sie befinden sich mit uns an der Grenze, halten zusammen, was uns zu zerreißen droht und verbinden die innere mit der äußeren Welt, die zarte Seele mit den Realitäten und Unvermeidbarkeiten. Mit ihrer integrierenden Kraft können Engel in den Krisen unserer Selbstwerdung eine wichtige Rolle spielen. Sie ermutigen den Menschen, sei er klein oder groß, zur Autonomie. Dazu, den eigenen Weg zu gehen. Und dann – können auch die Engel gehen. Dann nämlich, wenn der Übergang vom kleinen Kind zum großen Kind, von hier nach dort erfolgt ist und es – wenigstens für eine gewisse Zeit – keines Engels mehr bedarf.
Wunderschön hat Rainer Maria Rilke dieses Loslassen, dies Wechselspiel von Mensch und Engel in seinem Engellied beschrieben:
Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen,
und wurde klein, und ich wurde groß:
auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.
Da hab ich ihm seine Himmel gegeben –
Und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand:
Er lernte das Schweben. Ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt…
Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
Kann er frei seine Flügel entfalten
Und die Stille der Sterne durchspalten,
denn er muss meiner einsamen Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten –
seit mich mein Engel nicht mehr bewacht.
Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht, begleitet er andere. Er ist nun bei ihnen in Träumen, in Botschaften, in Begegnungen, in Verschonungen – in Bildern. Er ist zuweilen alt oder trägt kurze Hosen. Er kann auch klein sein, Locken haben und sich amüsieren.
Denn da ist zum Schluss bei Klee doch auch ein „Koketter Engel mit Locken“, der noch weiblich verschmitzt seine Reize spielen lässt. Das Humorvolle bei Klees Engeln fehlt auch in den letzten Schaffensjahren nicht. Und so zeigen sie sich altklug und abenteuerlustig, richten manche Bescherung an, und kriegen die Krise. Wie eben dies bekannte Zitat Paul Klees sagt: „Dort [in ihrem Reich] ist alles wie bei uns, nur englisch.“
Und ich schaue das Bild von einem Engel und weiß:
Täglich begleitet er mich.
Wie ein einziger Segen.
Manchmal streitet er sich –
für mich. Für dich.
Hebt uns auf starken Armen
Hinüber ins Leben.
Er ist nicht leicht,
mehr quadratisch gebaut
liebt es laut
und kraftvoll eben
kann trotzdem schweben
an meine Herzhaut,
an deine auch?
Was für ein Segen…
Ich danke Ihnen.